Identitätspolitik spaltet und verdunkelt gemeinsame Klasseninteressen
von Gerhard Hanloser
Identität & Politik. Kritisches zu linken Positionierungen. Hrsg. Gerhard Hanloser. Mit Texten u.a. von Anne Seek, Christoph Jünke, Bernhard Schmid, Karin Wetterau, Ilse Bindseil, Moshe Zuckermann. Wien: Mandelbaum, 2022. 266 S., 22 Euro
Rassismus, Herkunft, Geschlecht und Sexualität rücken immer mehr in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung. Gerhard Hanloser, Herausgeber des Bandes Identität & Politik. Kritisches zu linken Positionierungen, fragt, inwiefern Identitätspolitik von links gesellschaftskritisch ist.
Nationale, religiöse oder ethnische Identität, auch klare geschlechtliche Identität gehören zu den Ideologemen des Konservativismus. Diesem geht es um die Vorherrschaft der Reichen und Privilegierten. 2022 setzte der republikanische Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, ein »Stop-Woke-Gesetz« in Kraft. Es verbietet unter anderem, die sog. Critical Race Theory* an Schulen zu unterrichten. Begründet wird das damit, es dürften keine Steuergelder darauf verwendet werden, Kinder psychisch zu belasten, weil Angehörige derselben »Rasse, Hautfarbe, Herkunft oder desselben Geschlechts« in der Vergangenheit Untaten begangen hätten.
Die Rechten scheinen ein klares Programm zu haben: Immer sind es geschlossene und abgeschlossene Gesellschaftsbilder, die vom Klassenantagonismus gereinigt sind und patriarchalen Ordnungsvorstellungen folgen.
In den USA geht es um die Vorherrschaft der weißen, christlichen Bevölkerungsteile, in Israel um die der jüdischen, im Falle Osteuropas und Russlands um die Abwehr von Lebensentwürfen, die Kirche, Familie und bipolare Geschlechterordnung unterminieren könnten. Im Iran wiederum kämpft ein patriarchal-klerikales Regime gegen gleiche Rechte und Frauenemanzipation.
Auf der Gegenseite ist die Klarheit darüber verloren gegangen, was links ist. Die klassische sozialistische Kritik wollte einst alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige entweiht sehen, wie es im »Kommunistischen Manifest« heißt. Marx und Engels zogen an dieser Stelle den Hut vor Liberalismus und Bürgertum, welche diese Auflösungsbewegung bewerkstelligen würden. Damals wusste der Kommunismus noch zwischen feudalistischem Konservativismus und bürgerlichem Fortschrittsgeist zu unterscheiden, um sich selbst als Drittes zu setzen.
Der mit leninistischen Parteien praktisch gewordene Marxismus sah sich in einem Bündnis mit schwarzen und asiatischen Befreiungsbewegungen. Auch wenn es im sozialistischen und kommunistischen Milieu einen gewissen Paternalismus und auch Dominanzbestrebungen gegenüber »Minderheitenanliegen« gab, so waren doch Frauenemanzipation, Antikolonialismus und auch die Sache der Schwulen und Lesben lange Zeit dort deutlich besser aufgehoben als bei den Liberalen oder Konservativen. Noch in der Hochzeit des Neoliberalismus kam es zu Solidaritätsaktionen zwischen Proletariern und Aktivist:innen der neuen sozialen Bewegungen, die einer unterdrückten oder marginalisierten Identität zu ihrem Recht verhelfen wollten.
Identität statt Solidarität
Heutzutage sind solche Bündnisse, Allianzen und Solidaritätskonstellationen keine Selbstverständlichkeit. Linke Gruppen mit wenig Interesse an Austausch, Debatte und beiderseitigem Lernen scheinen den Ton anzugeben. »Das Problem beginnt, wenn jegliche politische Aktivität, jede Gruppe und jeder Versammlungsort den Maßstäben der Identitätspolitik unterworfen werden soll«, schreibt Karl Reitter. »Wer die Praxis dieser Gruppen kennt, weiß: das eigentliche Anliegen tritt hinter identitätspolitischen Fragen zurück. Wurden Quoten auch penibel eingehalten? Wurden alle gefragt, ob sie als ›sie‹, ›er‹, ›ihr‹, ›s‹ oder wie auch immer angeredet werden wollen? Die Identitätspolitik wird zum Hauptwiderspruch und alle anderen politischen Anliegen zum Nebenwiderspruch.«
Ängstliche Korrektheitsbedürfnisse und der Rückzug auf die eigene Szene dominieren zuweilen das Feld. Zudem frisst sich ein eher reaktionäres Reinheitsbedürfnis in so manche linke oder linksradikale Subszene, die den Kontakt zu anderen Menschen scheut und sich selbst argwöhnisch beäugt, ob möglicherweise unkorrektes Verhalten zu monieren sei. So drängt sich nicht erst bei der antirassistisch motivierten Behauptung, eine bestimmte Haartracht dürften nur Menschen einer bestimmten Kultur tragen, sonst läge das Delikt »kultureller Aneignung« vor, die Frage auf, ob solch ein Denken nicht doch eigentlich erzkonservativ ist.
Wie radikal, im Sinne von gesellschaftskritisch ist linke Identitätspolitik? Wenn sich junge, »Schwarz« bzw. »als Frauen Gelesene« gegen »alte, weiße Männer« lediglich auf irgendeinem Segment des Arbeitsmarkts durchsetzen, so stellt dies eines der vielen Gerangel im Konkurrenzkampf um die besseren Plätze dar und bietet nichts für dessen Überwindung.
Diversitätsförderung statt Bekämpfung der Ungleichheit
In Medien, Kunst und Kultur, in die vor allem (linke) Akademiker:innen drängen, spielen Sprache und Zeichensystem eine besondere Rolle. Im Gegensatz zu anderen Segmenten des Arbeitsmarkts spielt die sichtbar divergierende Herkunft hier eine diametral anders gepolte Rolle, sie kann von Vorteil sein.
Deswegen heftet sich eine Vielzahl der neueren moralisierenden Identitätspolitiken auch an die Diskurspraxis oder betont eine nicht als hegemonial erachtete Herkunft, Hautfarbe oder (sexuelle) Präferenz. Die viel beschworene Sichtbarkeit, um die es für unterdrückte Subjekte gehen würde, ist oft nicht mehr als sichtbar zur Schau gestelltes Distinktionsverhalten angepasster und durchaus materiell wie habituell privilegierter Subjekte. Das Vermögen, eine neue politisch korrekte Sprache zu sprechen, dient dann als Ausweis von Anpassung an eine Gesellschaft, in der vermutete und unbedingt zu vermeidende Kränkung das Thema Herrschaft und Ausbeutung und deren gebotene Abschaffung ersetzt hat.
Christoph Jünke formuliert es so: »Nicht nur beruhe Identitätspolitik, wo sie der bloßen Mitgliedschaft in einem Kollektiv das intuitive und autoritative Verständnis der eigenen Gruppeninteressen zuspricht, auf einem problematischen Verständnis von Authentizität und politischer Repräsentation … Sie verkomme auch allzu leicht zu einer weitgehend problemlos ins herrschende System integrierbaren Stellvertreterpolitik.«
Radikale Demokrat:innen und radikale Kapitalismuskritiker:innen sollten Kämpfe, die eine unterdrückte Identität zum Angelpunkt haben (»Frau«, »Schwarze:r«, »Queer«, nach Fanon: »das kolonisierte Ding«), unterstützen, auch wenn sie anderen (oder keinen) Zuschreibungen unterliegen. Dies jedoch nicht wegen ihrer jeweiligen Identität, sondern wegen deren spezifischer Unterdrückung. »Der wirklich emanzipative Sozialismus kommt aus dem radikalen Demokratismus und kann sich ohne diesen nicht entfalten«, betont Christoph Jünke. »Und doch gibt erst der sozialistische, das heißt antikapitalistisch-gemeinwirtschaftliche und solidarische Gesellschaftsbruch diesem radikalen Demokratismus seine historische Realisierungschance.«
Ein kapitalkonformes Angebot
Die identitätspolitischen Diskussionen seit den 1990er Jahren erreichen nur selten diesen Horizont. Sie bewegen sich in der Regel innerhalb der Logiken des neoliberalisierten Kapitalismus. Die Kluft zwischen arm und reich wurde größer, die Unterschiede in der Verteilung des Reichtums krasser. Die Ausbeutung insbesondere in den unteren Lohnsegmenten hat sich verschärft. Diversitätsförderung scheint Ungleichheitsbekämpfung ersetzt zu haben – sie rechnet sich fürs Kapital.
Diese konformistische Identitätspolitik passt so nur »zu gut zum Aufstieg eines Neoliberalismus, dem es vor allem darum ging, den Gedanken der sozialen Gleichberechtigung aus dem öffentlichen Gedächtnis zu tilgen«, wie Nancy Fraser formulierte. Je prekärer die soziale Lage wird, je deutlicher die Subjekte auf ihre Klassenlage zurückgeworfen sind, je klarer der Unterschied der Verfügung über Geld, Zeit und Gesundheit und daraus erwachsende Lebenschancen hervortritt, umso unterschiedlicher und freier dürfen wir uns »lesen«.
Das ist ein kapitalkonformes Angebot an die ganze Gesellschaft, nicht bloß an einzelne Szenen und Milieus. Sozialist:innen sollten hingegen auf die gemeinsame Klassenlage der Ausgebeuteten rekurrieren und sie zum organisatorischen Erkennungsmerkmal erheben. Dass darin die Interessen aller Beleidigten, Marginalisierten, Unterdrückten nicht nur eine Stimme, sondern einen logischen Platz haben, sollte eine Selbstverständlichkeit sein.
Gerhard Hanloser
*Die Critical Race Theory befasst sich kritisch mit dem Zusammenhang zwischen Rasse, Rassismus und dessen Verankerung insbesondere in rechtlichen Strukturen.
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