Kein Erfolg im Interesse der ukrainischen Bevölkerung
von David Stein
Die Konferenz, die auf Einladung des deutschen G7-Vorsitzes und der EU-Kommission am 11. und 12.Juni 2024 in Berlin stattfand, wurde von den Veranstaltern und den Medien als „Wiederaufbau-Konferenz“ bezeichnet. Tatsächlich stand die Konferenz jedoch unter dem Motto: "United in defence. United in recovery. Stronger together" (Vereint in der Verteidigung. Vereint im Wiederaufbau. Gemeinsam sind wir stärker).
Dieser militärische Aspekt hat die Reden des Bundeskanzlers sowie von Präsident Selsenkyi dominiert und Konzepte bzw. Zusagen für den zivilen Wiederaufbau überlagert. Für Selenskyj und die ukrainische Delegation standen ebenso wie bei der sich zeitlich anschließenden G7-Konferenz in Apulien die Lieferung von Patriot-Systemen und weitere Investitionen in die Luftverteidigung ganz oben auf der Agenda.
Die Berliner Konferenz hatte gewaltige Dimensionen. An ihr nahmen mehr als 2000 Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Nicht-Regierungsorganisationen und von internationalen Organisationen aus 60 Ländern teil. Frühzeitig traten die Organisatoren dem durch die Londoner Vorgängerkonferenz (2023) in den Medien geschürten Eindruck entgegen, es handele sich bei diesem Format um eine Geberkonferenz, bei der Gelder für die Ukraine eingesammelt würden. Es gehe vielmehr in Berlin um die „Vernetzung“ von Akteuren aus unterschiedlichen Bereichen, schraubte Entwicklungsministerin Schulze entsprechende Erwartungen herunter. Man habe vier „Berliner Dimensionen“ des Wiederaufbaus definiert: die geschäftliche, die menschliche, die lokale und die EU-Dimension.
Ergebnisse weitgehend im Nebel
Die von den Initiatoren der Konferenz in der Abschlusserklärung aufgeführten Erfolge sind kaum messbar. Entwicklungsministerin Schulze erwähnte mehr als 100 „Abkommen und Vereinbarungen“, die zwischen Regierungen, Unternehmen und Initiativen getroffen worden seien. Hinter diesen Begriffen stecken – wie bei der Konferenz 2023 in London auch – vielfach bloße Absichtserklärungen, die für die westlichen Staaten, Unternehmen und sonstigen Beteiligten keinerlei Bindungswirkung haben. Die meisten Vereinbarungen waren im übrigen nicht-finanzieller Natur. Viele erschöpften sich in bloßen politischen Unterstützungserklärungen und der sozialen Stimulierung von Städtepartnerschaften.
Konkret ist nur die Unterstützung kleinerer und mittlerer Unternehmen in der Ukraine, die bei der Wertschöpfung des Landes eine zentrale Rolle spielen. Gemeinsam mit 12 weiteren Staaten und 17 Entwicklungsorganisationen haben Deutschland und die Ukraine Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen vereinbart. Die Gesamtzusagen beliefen sich auf über 7 Mrd. Euro für laufende und neue Programme. Von dieser Summe entfielen über 4,5 Milliarden Euro auf neue Programme. Dazu gehören auch Zusagen der EU-Kommission.
Mit Garantien der Europäischen Entwicklungsbank sollen ukrainische Banken Darlehen im Umfang von mehr als einer Milliarde Euro an kleine und mittlere Unternehmen in der Ukraine vergeben können. Darüber hinaus soll ein Kredit mit EU-Garantie über 100 Millionen Euro zur Wiederherstellung der Grundversorgung in Städten dienen und beispielsweise für Krankenhäuser, Schulen und eine saubere Trinkwasserversorgung verwendet werden.
Am Konferenzergebnis für diesen Wirtschaftsbereich ist ablesbar, dass die meisten Staaten und Institutionen nicht (mehr) bereit sind, Kredite unmittelbar zur Verfügung zu stellen. Allenfalls in der zweiten Reihe, etwa über Garantien und Bürgschaften für Kredite, die u.a. von ukrainischen Banken für Wiederaufbauprojekte gewährt werden sollen.
Investoren halten sich zurück, nur nicht bei Waffen
Beim militärischen Komplex ist das anders. Am Rande der Konferenz unterzeichneten Vertreter der Ukraine und des deutschen Rüstungskonzerns Rheinmetall eine Vereinbarung über den Bau des Schützenpanzers „Lynx“. Das Unternehmen plant die Produktion dieses Panzers und von sonstigem Kriegsgerät in der Ukraine. Außerdem sollen mehrere hundert dieser Schützenpanzer an das ukrainische Militär verkauft werden. Die Rüstungsindustrie ist neben der Bauindustrie und dem Logistiksektor der eigentliche Profiteur des Ukrainegeschäfts. Rheinmetall benötigte für dieses längst vor der Konferenz bilateral eingetütete Geschäft nicht das Ambiente der Berliner Konferenz. Bemerkenswert ist, dass die Rüstungsindustrie auf der Konferenz deutlich stärker vertreten war als noch 2023 in London. Vor allem Start-Ups hofften auf Investoren für die Kriegstechnologie, die sie im Angebot haben.
Die Ukraine wäre an sich ein attraktiver Standort für das westliche Kapital: Das Land hat qualifizierte Arbeitskräfte, eine geographisch günstige Lage und fruchtbare Böden. Die Getreideexporte über das Schwarze Meer boomen wieder. Aber: Wer investiert in einem Land, das sich im Krieg befindet, dessen Ende nicht absehbar ist und der unter der Zivilbevölkerung sowie an der Infrastruktur immer größere Schäden anrichtet? Die Gesamtkosten für den Wiederaufbau der Ukraine im nächsten Jahrzehnt wurden im Februar 2024 von der Weltbank konservativ auf 486 Milliarden US-Dollar geschätzt, was etwa dem 2,8fachen der ukrainischen Wirtschaftsleistung im Jahr 2023 entspricht. Zum Vergleich: Der deutsche Bundeshaushalt hat eine ähnliche Größenordnung.
Russische Angriffe haben seither noch mehr Schäden verursacht und über 800 ukrainische Kraftwerke für die Strom- und Wasserversorgung zerstört. Das entspricht etwa 50 Prozent der Infrastruktur für die Energieerzeugung des Landes. Das ukrainische Strom- und Bahnnetz wird von Russland systematisch zusammengebombt. Kraftwerke sind prioritäres Angriffsziel. Der kommende Winter wird für die Bevölkerung noch härter als die beiden Vorgängerwinter sein – für die Industrie und die Infrastruktur gleichermaßen. Nicht nur Versorgungsausfälle bei Wasser und Elektrizität sind die Folge, sondern auch Strompreiserhöhungen von bis zu 64 Prozent. Ein Drittel der Bevölkerung lebt bereits heute unterhalb der staatlichen Armutsgrenze.
Die ukrainischen Vertreter betonten, neben der staatlichen bzw. suprastaatlichen Unterstützung von 50 Mrd. Euro seien mittelfristig private Investitionsmittel in gleicher Höhe erforderlich. Das wäre jedoch das Doppelte des Investitionskapitals, das seit 2016 in die Ukraine geflossen ist. Auch bei vollständiger Risikoübernahme wäre dieses Investitionsvolumen nicht erreichbar.
Die Forderungsliste der Investoren ist ohnehin länger, um ihnen den Weg in die Ukraine zu ebnen. Das Korruptionsphänomen ist für potenzielle Anleger nicht vom Tisch, sie grassiert weiter. Hier erwarten Investoren und Gläubiger „mehr Engagement“, trotz der Säuberungen in der Staatsbürokratie, die die Gruppe um Selenskyj im Namen der Korruptionsbekämpfung derzeit vornimmt. Sie zielen jedoch – wie in anderen Länder Osteuropas – oft darauf ab, konkurrierende Interessenklüngel im Staatsapparat auszuschalten.
„Mehr Rechtsstaatlichkeit“
Was das Kapital unter mehr Rechtsstaatlichkeit versteht, wurde im Verlauf der Konferenz schnell klar: Es geht um die Durchsetzung des Interesses der Investoren, Gelder, namentlich Gewinne aus Investitionen in der Ukraine unbeschränkt an die Firmensitze zu transferieren. Seit dem Angriff auf die Ukraine vor zwei Jahren sind in der Ukraine Devisentransferbeschränkungen in Kraft, die jedoch von der ukrainischen Zentralbank auf Druck des Westens für bestimmte Transaktionen gelockert wurden. Diese Beschränkungen waren durchaus erfolgreich. Sie führten zu einem Anstieg der Direktinvestitionen auf 4 Mrd. Euro im Jahr 2023, weil Gewinne in der Ukraine reinvestiert werden mussten.
Um auch für gute Nachrichten auf der Konferenz zu sorgen, erwähnte der Bundeskanzler in seiner Eröffnungsrede die gestiegenen Direktinvestitionen als Beleg für das Vertrauen der deutschen Wirtschaft in den Wirtschaftsstandort Ukraine. Den für das Kapital unfreiwilligen regulatorischen Hintergrund hat er dabei geflissentlich unter den Tisch fallen lassen.
Das leitende Fachpersonal für den Wiederaufbau der Infrastruktur in der Ukraine war in Berlin gar nicht vertreten. Der Leiter der ukrainischen Agentur für Wiederaufbau und stellvertretende Minister für Infrastruktur trat einen Tag vor Konferenzbeginn zurück. Seine Behörde sei von der ukrainischen Regierung bei logistischen Infrastrukturprogrammen behindert worden, begründete Mustaqfa Nayyem seine Entscheidung. Seine Agentur sei „mit ständigen Querschlägen, Widerstand und künstlichen Hindernissen konfrontiert“, sagte er. Er klagte über „bürokratische Alpträume“. Vorher hatte der ukrainische Premierminister Denys Shmyhal die Teilnahme von Nayyem abgesagt. Der Rücktritt erfolgte einen Monat nach der Entlassung von Infrastrukturminister Oleksandr Kubrakov im Zuge einer Regierungsumbildung. Das Fehlen der für die Infrastruktur in der Regierung Verantwortlichen, politische Rivalitäten im Lager der Bürokratie und die Unklarheit über den Hintergrund der Auseinandersetzungen dürfte für westliche Regierungen und potenzielle Investoren in Berlin nicht als vertrauensbildende Maßnahme gewirkt haben.
Private drängen auf Schuldendienst
Schritte zu einem Schuldenerlass wären ein wirklicher Erfolg für die Bevölkerung gewesen. Die Konferenz fand zu einem Zeitpunkt statt, wo Investmentfonds wie Blackrock und Pimco, bei denen die Ukraine erheblich in der Kreide steht, auf die Aufhebung des bis Ende 2024 laufenden Schuldenmoratoriums drängten. Sie kündigten an, im nächsten Jahr ausstehende Zinsen eintreiben zu wollen. Private Gläubiger erwarten Zinszahlungen von 500 Millionen US-Dollar im Jahr. Investoren befürchten, ihre Forderungen gegen die Ukraine abschreiben zu müssen. Schon jetzt werden ukrainische Anleihen nur noch mit 25 bis 35 Cent pro Dollar gehandelt – ein Verlust von 15 Milliarden US-Dollar für die Anleger, die Ukraine-Anleihen in ihren Portefeuilles haben. Deshalb haben auch Finanzkonzerne ein Auge auf die vorwiegend in Belgien eingefrorenen Guthaben der russischen Zentralbank in Höhe von rund 260 Mrd. Euro geworfen. Ebenso wie die USA, die nicht nur mit den Zinsen, sondern auch mit dem Kapital der Guthaben die Rüstungslieferungen der USA bezahlt haben wollen, https://www.sozonline.de/2024/06/voelkerrechtlich-fragwuerdig/
Die Aufnahme der Zinszahlungen hat negative Auswirkungen auf die sozialen Rechte der Bevölkerung zur Folge. Kein tragfähiger Wiederaufbau ist ohne Lösung der Schuldenfrage und einen Schuldenschnitt möglich. Darauf hat auch die gewerkschaftliche Alternativkonferenz vom 8.Juni 2024 zur Wiederaufbaukonferenz zutreffend hingewiesen, https://www.sozonline.de/2024/07/kampf-fuer-soziale-rechte-auch-in-kriegszeiten/
Die nötige Entschuldung der Ukraine muss für die europäische Linke und die Gewerkschaften in nächster Zeit ganz oben auf der Agenda stehen.
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