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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2024

Migrant:innen – als Arbeitskräfte ausgebeutet, als Menschen verachtet
von Gerhard Klas

Am 19.Juni starb der Inder Satnam Singh südöstlich von Rom. Der 31jährige war anderthalb Tage zuvor bei der Melonenernte in eine Maschine geraten. Sein rechter Arm wurde abgetrennt, seine Beine wurden zerquetscht.

Der Chef des landwirtschaftlichen Betriebs, Antonello Lovato, schaffte den Schwerverletzten zu dessen Unterkunft und ließ ihn dort vor der Tür liegen. Später wurde der abgetrennte Arm in einer Obstkiste gefunden. Singhs 24jährige Ehefrau Sony stand daneben, als sich der Unfall ereignete. Sie hatte Lovato vergeblich angefleht, ihren Mann ins Krankenhaus zu bringen. Nachbarn riefen später den Rettungsdienst, der den Schwerverletzten in ein Krankenhaus nach Rom brachte, wo er schließlich starb. Das Ehepaar war 2021 nach Italien gekommen und hoffte seitdem auf eine Aufenthaltsgenehmigung.
In den Medien gab Lovato seinem Erntehelfer selbst die Schuld am Unfall. Er habe »Satnam gewarnt, sich dem Fahrzeug zu nähern« und ihn nicht ins Krankenhaus gebracht, weil er nicht als regulärer Angestellter registriert gewesen sei. »Der Leichtsinn dieses Arbeiters kommt alle teuer zu stehen«, ergänzte Lovatos Vater, Besitzer des Agrarbetriebs, in einer weiteren Fernsehsendung. Kein Wort fiel darüber, dass die beiden illegal arbeiten mussten, um zu überleben.

In einer ähnlichen Situation befinden sich etwa 230000 Migrant:innen, die ohne Papiere in der italienischen Landwirtschaft arbeiten – das sind mehr als ein Viertel der Saisonarbeitskräfte in Italien.
Gewerkschaften und lokale Menschenrechtsorganisationen sprechen von moderner Sklaverei. Die Stundenlöhne für die Plackerei in den Sommermonaten bei Temperaturen um die 40 Grad Celsius liegen zwischen drei und fünf Euro. Der Ertrag der Ernte landet zum größten Teil in deutschen Supermärkten.
Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die in ihrem Wahlkampf 2022 offen gegen Migrant:innen gehetzt hatte, nannte Lovatos Vorgehen zwar abscheulich. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Hass auf Migrant:innen nach wie vor von Mitgliedern ihrer postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia unverhohlen befeuert wird.

Diskriminierende Sonderregeln
Der Tod von Satnam Singh ist nur ein trauriger Höhepunkt und Italien bei weitem nicht das einzige Land, in dem Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft ausgebeutet werden. Auch Erntehelfer:innen in Deutschland, die aus dem Ausland kommen, müssen oftmals unter äußerst widrigen Bedingungen arbeiten. Sie stechen Spargel, pflücken Erdbeeren, graben Kartoffeln aus. Miese Unterkünfte, eine Bezahlung unter dem gesetzlich festgelegten Mindestlohn, Akkordarbeit bis zum Umfallen. Im Schnitt kommen knapp 275000 Saisonarbeiter:innen im Jahr nach Deutschland, das sind knapp ein Drittel aller Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten.
In der Saisonarbeit und der mobilen Beschäftigung gibt es eine Vielzahl von Sonderregelungen, meist zugunsten der Unternehmer: Sie können Beschäftigte bis zu 70 Arbeitstage kurzfristig anstellen und damit Sozialversicherungsabgaben sparen. Sie können Ausnahmegenehmigungen für eine tägliche Arbeitszeit von bis zu zwölf Stunden statt der ansonsten üblichen Obergrenze von zehn Stunden einholen. Darüber hinaus können sie die Kosten für die Bereitstellung von Unterkunft und Verpflegung vom Mindestlohn abziehen und bei Aushilfstätigkeiten extrem kurze Kündigungsfristen von nur einem Tag im Arbeitsvertrag festschreiben.
Wie schon in den Jahren zuvor wurde auch im Jahr 2023 der gesetzliche Mindestlohns häufig unterschritten, berichtet die Initiative Faire Landarbeit in ihrem Jahresbericht, für den sie mehr als 3000 Saisonarbeiter:innen direkt befragt hat. Mehrfach wurde die Arbeitszeit über die gesetzlich erlaubte Grenze ausgeweitet. Erntearbeiter:innen, die die oft sehr hohen Leistungsvorgaben nicht erreichten, wurden nach wenigen Tagen entlassen. Obendrein wurde der Lohn erst kurz vor der Abreise ausbezahlt, so dass eine eingehende Kontrolle nur schwer möglich war. Überhöhte Kosten für die Unterbringung in Drei- und Vierbettzimmern wurden den Beschäftigten vom Lohn abgezogen.
Schließlich war, wie schon im vergangenen Jahr, der Krankenversicherungsschutz ein Ärgernis. Immer noch sind Gruppenversicherungen üblich, die keinen ausreichenden Schutz gewähren. Oftmals bleiben Arztkosten bei den Beschäftigten selbst hängen. Während also viele deutsche Großbauern in erster Linie Büroarbeit verrichten und die üppigen EU-Subventionen abgreifen, lassen sie häufig Erntehelfer:innen aus Rumänien und Polen die harte Feldarbeit für einen Hungerlohn verrichten.

Großbritannien
Während die wirtschaftliche Abhängigkeit von migrantischen Arbeitskräften wächst, nehmen zugleich rassistische Bewegungen vor allem in ländlichen Regionen zu – das ist in vielen EU-Ländern so. Mehrere Sektoren würden zusammenbrechen, gäbe es nicht die eingewanderten Arbeitskräfte: Pflege, Logistik, Gastronomie und die Landwirtschaft sind da an allererster Stelle zu nennen.
Das gilt auch für Großbritannien. Jährlich kommen etwa 60000 Saisonarbeiter:innen, um die harte Erntearbeit zu verrichten. Und auch im krisengeschüttelten, chronisch unterfinanzierten staatlichen Gesundheitssystem NHS hat ein Viertel aller Beschäftigten Migrationshintergrund beziehungsweise gehört einer ethnischen Minderheit an. In der unmittelbaren Pflege sind es sogar 39 Prozent.
Es gibt also eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass jeder Brite, der sich behandeln lassen muss, von »nichtweißen« Pflegekräften medizinisch betreut wird. Um so erstaunlicher, wie leicht die rassistische Offensive Ende Juli mit Falschbehauptungen in den Sozialen Medien entfacht werden konnte: Nach einer Messerattacke, die drei jungen Mädchen in einer Tanzschule das Leben kostete, behaupteten rechte Influencer, beim Täter habe es sich um einen muslimischen Bootsflüchtling gehandelt.
Eine nachweislich falsche Information, die allerdings rasche Verbreitung fand und Attacken auf Moscheen, Heime für Geflüchtete und auf viele andere »nichtweiße« Briten befeuerten – darunter auch auf philippinische Krankenschwestern in Sunderland, die auf dem Weg zur Arbeit mit Steinen beworfen wurden. Nach scharfen Gerichtsurteilen gegen mehrere rassistische Gewalttäter und nach den großen antirassistischen Kundgebungen am zweiten Augustwochenende, auf denen auch viele Schilder mit der Aufschrift »Migrants make our NHS« zu sehen waren, verebbten die Aufmärsche der extremen Rechten wieder.

AfD für Ausbeutung und Lohnkonkurrenz
Auch der Rassismus der AfD hat verschiedene Funktionen: Er liefert Teilen einer verunsicherten Bevölkerung einfache Antworten, indem er Migrant:innen für alle Arten sozialer Missstände verantwortlich macht. Und er befördert die Entrechtung vieler hier lebender Menschen, die damit noch gnadenloser ausgebeutet werden können.
»Unsere Bauern retten – Ausnahmeregelung beim gesetzlichen Mindestlohn für ausländische Erntehelfer bei heimischen Obst-, Gemüse-, Wein- und Hopfenanbau einführen«, lautete ein Antrag der AfD, der Ende Juni im Bundestag beraten wurde.
Der Mindestlohn richte »unsere landwirtschaftlichen Betriebe zugrunde«, meinte der AfD-Abgeordnete Frank Rinck. Das gefährde die Selbstversorgung, ergänzte sein Parteikollege Peter Felser, was in »Kriegszeiten« besonders dramatisch sei. Man solle sich doch ein Beispiel nehmen an Italien. Dort gebe es keinen Mindestlohn. »Wenn in anderen Ländern Europas die Löhne niedriger sind«, rechne sich die »sehr personalintensive Ernte von Erdbeeren, Spargel usw.« hierzulande nicht, warnte auch der CDU-Abgeordnete Wilfried Oellers und spielte damit der AfD in die Hände. »Ab einem bestimmten Unterschied der Löhne« seien deutsche Betriebe »nicht mehr konkurrenzfähig«, so Oellers weiter. Der AfD-Antrag wurde in den Ausschuss für Arbeit und Soziales überwiesen.
Fest steht: Von der rassistischen Spaltung profitieren Unternehmer, die auf ein Reservoir von entrechteten Arbeitskräften zugreifen und damit auch die Löhne der anderen mit dem Hinweis weiter drücken können, es gebe ja genügend, die die gleiche Arbeit für weniger Geld machten.
Die einzige Chance gegen Lohndumping ist die alte solidarische Gewerkschaftsparole: »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«.

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