Über den rasanten Ausbau des institutionellen Rassismus
Gespräch mit Tareq Alaows
Die Landtagswahlen in Ostdeutschland haben die rechtsextremen Tendenzen beflügelt. Noch viel mehr hat allerdings der Attentäter in Solingen für ein verändertes politisches Klima gesorgt. Die Opposition aus AfD und CDU/CSU – jetzt auch BSW – treibt die Regierung mit dem Thema Migration vor sich her. Die Regierung schiebt in aller Eile in Länder ab, wo es bis vor kurzem nicht möglich war, und will weiter abschieben.
Das gefährliche Spiel von Ausgrenzung, Prekarisierung und Abschottung wird die Opposition nicht beruhigen, aber die Anfälligkeit für rechtsextreme Neigungen befördern. Die Zahl der Übergriffe auf Geflüchtete und Migrant:innen hat sich in einem Jahr verdoppelt. Der Rechtsruck in Europa ist mit ganzer Wucht in Deutschland angekommen. Über diese Entwicklung sprach Ayse Tekin mit Tareq Alaows.
Im Dezember 2023 hat die SoZ ein Interview mit dir anlässlich der neuen Asylreformen der EU veröffentlicht*. Zu dieser Zeit gab es Befürchtungen, Menschen könnten massiv entrechtet werden. Am vergangenen 28.August gab es ein Attentat auf einem »Fest der Vielfalt« in Solingen, dort wurden drei Menschen erstochen, von einem »Islamisten«, wie es in den Medien hieß. Die AfD freute sich, weil ihnen dieses Attentat vor den Landtagswahlen wie gerufen kam. Die Bundesregierung wartete nicht lange, um die Forderung der Opposition zu erfüllen, und hat an allen deutschen Grenzen Kontrollen eingeführt. Wie bewertest du diese Entwicklung?
Dass die AfD sich darüber gefreut hat und versucht, dieses schreckliche Attentat direkt zu instrumentalisieren und zum Vorwand zu nehmen, um gegen alle Geflüchteten in der Öffentlichkeit zu hetzen, ist nichts Neues. Das macht sie seit Jahren. Die neue Dimension ist, dass die anderen Parteien auf diesen Zug aufgesprungen sind und die Debatte sofort vereinnahmt haben.
Da haben wir einen Friedrich Merz, der sofort zu einem Aufnahmestopp und zur Abschiebung der Menschen nach Afghanistan gerufen hat. Und wir haben eine Bundesregierung, die ihren Auftrag vergessen hat und wie eine Pressesprecherin von Friedrich Merz fungiert, die seine Vorschläge sofort in Gesetze übersetzt.
Alle sprechen von Sicherheit, aber niemand macht Vorschläge für mehr Sicherheit. Was sie gerade anbieten, ist eine systematische Entrechtung und Vorschläge für verfassungswidrige Maßnahmen gegen geflüchtete Menschen. Ich weiß nicht, wie die Kürzung von sozialen Leistungen für sog. Dublin-Fälle zu mehr Sicherheit im Land führen soll, oder die Aussetzung der Rechte der Schutzsuchenden durch Grenzkontrollen und ihre Zurückweisung mehr Sicherheit schaffen soll.
Diese Maßnahmen führen nur zu Menschenrechtsverletzungen. Das bekommen wir von der Politik präsentiert. Was mich wundert: Es wird nicht einen Moment innegehalten, weder von der Politik noch von der Gesellschaft. Bei den Rechten war die Reaktion zu erwarten, aber bei anderen Politiker:innen in diesem Land erstaunt, dass sie nicht zwei Tage darüber nachdenken, dass sie überhaupt keinen Raum für Trauer lassen und im Handumdrehen fertige Maßnahmen präsentieren.
Als hätten die Maßnahmen bereits in der Schublade gelegen.
Genau, als hätten sie in der Schublade gelegen und nur darauf gewartet, rausgeholt zu werden. Oder als ob die Verantwortlichen einen großen Drang gespürt hätten, sofort Maßnahmen zu beschließen. Dass diese Maßnahmen überhaupt nicht zu mehr Sicherheit beitragen, das müssten die Verantwortlichen wissen. In Hart aber fair hat die Journalistin Gilda Sahebi den Migrationsgipfel zwei Tage nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen als »einen aufgescheuchten Hühnerhaufen« bezeichnet, »wo alle hin und her rennen«.
Das beschreibt genau, wie in den zwei Wochen nach dem Anschlag politisch gehandelt wurde. Es war daran nichts Durchdachtes, es gab nur einen Überbietungswettbewerb, wie man geflüchtete Menschen jetzt mehr und mehr entrechten könne. Dabei haben sie vergessen, dass die meiste Arbeit in die Bekämpfung von Extremismus gesteckt werden müsste. Diese Arbeit leisten unter anderem Menschen mit Migrationsgeschichte in zivilgesellschaftlichen Organisationen; also jene, bei deren Finanzierung die Bundesregierung nach dem neuen Haushaltsplan einsparen will.
Wenn all das zusammengedacht wird, ist nicht klar, ob die Sorge tatsächlich der Sicherheit gilt. Wenn sie nach Sicherheit schreien, dann müsste die Präventionsarbeit gestärkt und nicht Grenzkontrollen eingeführt werden, die nichts bringen.
Pro Asyl macht eine Kampagne »Gegen Rechts für das Recht«. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Staaten in der UNO die Menschenrechte gestärkt, diese wurden in das deutsche Grundgesetz aufgenommen, dann kam die Europäische Menschenrechtskonvention. Es gibt eine Menge Rechte, die von Regierungen missachtet werden. Dieser Trend war in der Welt und in Europa in verschiedenen Staaten zu sehen. Jetzt ist er in Deutschland angekommen. Braucht es da nicht ein größeres Bündnis, um diese Errungenschaften zu schützen? Bei den sog. Brandmauerdemos Anfang des Jahres entstand der Eindruck, es gebe solch ein größeres Bündnis von Kirchen, Parteien, gesellschaftlichen Organisationen sowie Einzelpersonen. Was erlebt ihr auf der Suche der Bündnispartner:innen?
»Gegen Rechts für das Recht« ist eine Mailaktion, die machen wir alleine, aber wir haben gemeinsame Statements mit zivilgesellschaftlichen Organisationen. Gerade sind wir auch in weiteren Gesprächen. Ich glaube, wir brauchen große zivilgesellschaftliche Bündnisse, die Antworten auf auf soziale und strukturelle Fragen anbieten.
Gleichzeitig spüren wir eine große Müdigkeit und Enttäuschung der Zivilgesellschaft gegenüber der Politik. Tatsächlich waren Millionen auf der Straße gegen Rechtsextremismus. Für das Recht auf Asyl, für eine andere soziale Politik haben so viele Menschen demonstriert. Wenn wir überlegen, dass ein einzelner Mensch, ein islamistischer Attentäter mit seiner Aktion die Debatte viel mehr beeinflussen kann als Millionen von Menschen, die auf die Straßen gehen, dann sind wir von allen demokratischen Parteien so dermaßen enttäuscht, dass wir uns Gedanken über neue Strategien machen müssen. Es kann nicht sein, dass ein einziger Attentäter zum Aufnahmestopp von Schutzsuchenden führt.
Ja, die Debatte ist schräg. Viele Wähler:innen meinen – so hören wir in Straßeninterviews –, ihre Probleme wie niedriges Einkommen, hohe Mieten, schlechte Gesundheitsversorgung wären gelöst, wenn die »Ausländer« weg wären – und damit meinen sie alle Menschen mit Migrationshintergrund, auch die, die hier geboren sind. Als schwächstes Glied in der Kette trifft das zuerst die Asylsuchenden. Wie ist die Situation bei diesen Betroffenen?
Also, erstmal schafft diese Diskussion Angst unter den betroffenen Menschen, aber auch eine sehr große Enttäuschung. Die Menschen sagen ganz klar: »Wir sind nach Deutschland gekommen, weil es hier einen Rechtsstaat gibt.«
Jetzt werden die geflüchteten Menschen als Sündenbock für gesellschaftliche oder politische Versäumnisse in allen Bereichen der Politik dargestellt – auch ausgerechnet von der Union, die diese unsoziale Politik in ihren Regierungsjahren vorangetrieben hat. Gefahr besteht nicht nur für das Auseinanderdriften der Gesellschaft, sondern auch für Leib und Leben. Denn ein Rechtsextremist fragt nicht nach meinem Aufenthaltsstatus, sondern wird mich aufgrund meiner Haar- oder Hautfarbe angreifen.
Dennoch fehlt mir bei den Migrant:innenorganisationen eine entschiedene Haltung gegenüber dieser Politik. Man müsste die Solidarität unter den Migrant:innen auch organisieren.
Klar, es könnte noch besser sein. Aber es ist ein Problem der Mehrheitsgesellschaft. Die Migrant:innen haben das Land mit aufgebaut. 25 Prozent der Bevölkerung haben migrantischen Hintergrund. Sie hören keine Dankbarkeit. Statt dessen gibt es jeden Tag Angriffe. Da denken schon einige ans Auswandern. Ich sehe eine große Verantwortung bei den demokratischen Parteien und bei den Medien.
Tareq Alaows ist flüchtlingspolitischer Sprecher und Referent für Kampagnen und Netzwerkarbeit der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl sowie ein ehemaliges Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen
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