Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2024

von Gilbert Achcar
Am 17.9.2024 starteten die israelischen Geheimdienste eine Massenterror-Operation im Libanon, indem sie in zwei aufeinanderfolgenden Wellen an zwei Tagen einzelne Kommunikationsanlagen in die Luft sprengten und dabei mehr als 40 Menschen töteten und mehr als 3500 verletzten. Auf diese beiden Wellen des Massenterrors folgte eine Eskalation des grenzüberschreitenden Granatenaustauschs zwischen der Hisbollah und den israelischen Aggressionskräften (auch bekannt als IDF). Sie leitete am Montag den heftigen, gewaltsamen Bombenangriff auf den Südlibanon und andere Gebiete ein, in denen die Hisbollah präsent ist, wobei fast 500 Menschen getötet und mehr als 1600 verletzt wurden.

Die Frage, die sich allen aufdrängte, angefangen bei denen, die im Libanon ins Visier genommen wurden, war, ob diese plötzliche Eskalation dessen, was wir als "israelische Strategie der Einschüchterung" bezeichnen, den Weg für eine umfassende Aggression gegen den Libanon ebnet, die wahllose, schwere Bombardierungen aller Gebiete umfassen würde, in denen die Hisbollah präsent ist, einschließlich der dicht besiedelten südlichen Vorstadt von Beirut, mit dem Ziel, sie "wie Gaza aussehen zu lassen", wie es einer der engen Mitarbeiter von Benjamin Netanjahu ausdrückte.

Es ist in der Tat zu befürchten, dass der zionistische Staat eine brutale Aggression gegen Teile des Libanon durchführen wird, ähnlich der Aggression, die sich gegen den gesamten Gazastreifen richtete, im Einklang mit dem, was einer der Beobachter der israelischen Aggression gegen den Libanon im Jahr 2006 als "Dahiya-Doktrin" bezeichnete (eine Anspielung auf den südlichen Vorort von Beirut, das arabische Wort dahiya bedeutet "Vorort"). Diese Doktrin zielt darauf ab, jeden, der die Absicht hat, sich Israel entgegenzustellen, abzuschrecken, indem er damit droht, ein hohes Maß an Gewalt gegen Gebiete anzuwenden, die von der Zivilbevölkerung bewohnt werden – wie es 2006 mit dem südlichen Vorort von Beirut geschah, dem Gebiet, in dem sich die Zentrale der Hisbollah befindet.

Es ist eine Tatsache, dass die israelische Aggression 2006, die auf eine von Hisbollah-Kämpfern an der südlibanesischen Grenze durchgeführte Operation gegen israelische Soldaten folgte, bei der acht von ihnen getötet und zwei gefangen genommen wurden, eine abschreckende Wirkung hatte. Der Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, räumte dies in einer Erklärung seines Bedauerns ein, als er im Anschluss an den Krieg im Fernsehen sagte: "Wenn ich auch nur zu einem Prozent gewusst hätte, dass diese Entführungsaktion zu einem Krieg dieses Ausmaßes führen würde, hätten wir sie aus humanitären, moralischen, militärischen, sozialen, sicherheitspolitischen und anderen Gründen sicher nicht durchgeführt."

Was die westlichen Medien, die schnell dabei sind, Kriegsverbrechen zu verurteilen, wenn sie von den Feinden des Westens, wie dem russischen Regime in der Ukraine, begangen werden, nicht sagen, ist, dass die "Dahiya-Doktrin" kein Beispiel militärischer Genialität und keine Doktrin ist, die es wert wäre, an den Militärschulen der zivilisierten Länder gelehrt zu werden, sondern ein eklatanter Verstoß gegen die Kriegsgesetze. Sie besteht in der Ausübung von Kriegsverbrechen in großem Maßstab bis hin zum Völkermord im Gazastreifen mit der ausdrücklichen Absicht, Zivilisten zu töten, um Kämpfer abzuschrecken. Mit anderen Worten, es handelt sich um eine terroristische Strategie, die von einem terroristischen Staat par excellence formuliert wurde, was eine eindeutige Bestätigung dafür ist, dass der Staatsterrorismus viel gefährlicher ist als der Terrorismus nichtstaatlicher Gruppen, da er der gleichen Logik folgt, d.h. der Tötung von Zivilisten zu einem politischen Zweck, aber mit einem unermesslich größeren Potenzial an Tödlichkeit und Zerstörung.

Die Hisbollah hat aus dem 33-Tage-Krieg im Jahr 2006 zwei Lehren gezogen.
Die erste besteht darin, dass sie seither berücksichtigt, was sie als rote Linie betrachtet, deren Überschreitung dem zionistischen Staat einen neuen Vorwand für Angriffe auf libanesische Zivilisten liefern würde. Um ihre Basis zu schützen, hat die Hisbollah diesmal keine kühne Operation wie diejenige durchgeführt, die den Krieg 2006 auslöste – oder diejenige, die von der Hamas vor etwa einem Jahr durchgeführt wurde und den Krieg zur Zerstörung des Gazastreifens und zur Auslöschung seiner Bevölkerung entfachte.

Die zweite Lehre führte dazu, dass die Hisbollah ein riesiges Raketenarsenal erwarb, das eine Gegendrohung darstellt, indem es zivile Gebiete innerhalb des zionistischen Staates bedroht und damit das erreichte, was man im Vokabular der nuklearen Abschreckung ein "Gleichgewicht des Schreckens" nennt.

Dies erklärt, warum die Hisbollah, am Tag nach der Operation "Al-Aqsa-Flut" einen begrenzten Zermürbungskrieg mit dem zionistischen Staat begann, als Antwort auf den Aufruf der Hamas, sich dem anzuschließen, was sie initiiert hatte. Dieser Aufruf erfolgte in einer Botschaft des militärischen Führers der islamischen Bewegung im Gazastreifen, Muhammad al-Deif, die zu Beginn der Operation gesendet wurde: "Oh unsere Brüder im islamischen Widerstand, im Libanon, Iran, Jemen, Irak und Syrien, dies ist der Tag, an dem sich euer Widerstand mit eurem Volk in Palästina vereinigen wird, damit dieser schreckliche Besatzer begreift, dass die Zeit, in der er wütet und Gelehrte und Führer ermordet, vorbei ist. Die Zeit der Ausplünderung eurer Reichtümer ist vorbei. Die Zeit der fast täglichen Bombardierungen in Syrien und im Irak ist vorbei. Die Zeit der Spaltung der Nation und der Zersplitterung ihrer Kräfte in internen Konflikten ist vorbei. Es ist an der Zeit, dass sich alle arabischen und islamischen Kräfte vereinen, um diese Besatzung von unseren heiligen Stätten und unserem Land zu vertreiben."

Die Hisbollah war jedoch klüger, als sich von einer solchen Euphorie überwältigen zu lassen und zu glauben, der Tag des Sieges über Israel und der Befreiung Palästinas sei gekommen. Sie beschloss, eher als Unterstützer denn als vollwertiger Teilnehmer in die Schlacht zu ziehen, eine Entscheidung, die sich in einem begrenzten Zermürbungskrieg niederschlug. Die Partei wollte ihre Solidarität mit der Bevölkerung des Gazastreifens zum Ausdruck bringen, ohne jedoch ihre Basis einem ähnlichen Schicksal auszusetzen wie die Bewohner Gazas. Dieses Kalkül schlägt nun auf die Hisbollah zurück, denn die zionistische Angriffsarmee konzentriert sich nach Beendigung ihrer intensiven und groß angelegten Operationen im Gazastreifen nun auf die Nordfront und leitet die von uns so genannte "Strategie der Einschüchterung" ein, d.h. eine schrittweise Eskalation der Angriffe mit der Drohung, zur Umsetzung der "Dahiya-Doktrin" überzugehen.

Dieses israelische Verhalten zeigt die Wirksamkeit der Gegenabschreckung der Hisbollah, da die zionistische Regierung gezwungen ist, vorsichtig zu sein, wenn es darum geht, einen umfassenden Krieg zu entfachen, von dem sie weiß, dass er die israelische Gesellschaft teuer zu stehen kommen wird, auch wenn die Kosten für die Hisbollah angesichts der großen Überlegenheit der israelischen militärischen Fähigkeiten viel höher sein werden. Die zionistische Regierung hat daher zunächst zur Eskalation durch "asymmetrische Kriegsführung" gegriffen, ein Begriff, der in der Regel das Vorgehen einer irregulären Kraft gegen eine reguläre Armee beschreibt. Hier ist es der zionistische Staat, der der Hisbollah und ihrem zivilen Umfeld einen hinterhältigen und schmerzhaften Schlag versetzt, indem er Kommunikationsanlagen in die Luft sprengt.

Darauf folgte eine Eskalation des konventionellen Krieges, die am Montag begann und eine gefährliche Verschärfung des Drucks auf die Hisbollah darstellt, um sie zur Kapitulation zu zwingen und die von Washington mit Billigung der zionistischen Regierung gestellten Bedingungen zu akzeptieren, von denen die wichtigste der Rückzug der Streitkräfte der Partei nördlich vom Litani-Fluss ist.

Angesichts dieses eskalierenden Drucks sieht sich die Hisbollah in einer gegenseitigen, aber ungleichen Abschreckung gefangen. Sie ist nicht in der Lage, einen "asymmetrischen Krieg" tief im Inneren Israels zu führen, und kann dort nicht so zuschlagen, dass Hunderte von Toten zu beklagen wären, wie es die zionistische Armee am Montag im Libanon getan hat, weil sie befürchtet, dass die Antwort überwältigend ausfallen würde. Sie weiß, dass Israel durchaus in der Lage ist, auf einem viel höheren Niveau zu reagieren.

Die zionistische Regierung ist sich der Lage ebenfalls voll und ganz bewusst. Sie möchte zwar die Abschreckungskapazität der Hisbollah zerstören, kann aber keinen umfassenden Krieg beginnen, ohne sich der vollen Beteiligung der USA zu versichern, ähnlich der Beteiligung Washingtons am Krieg gegen den Gazastreifen über mehrere Monate hinweg, den tödlichsten und zerstörerischsten Monaten, bis hin zur Ablehnung aller Forderungen nach einem Waffenstillstand. Die zionistische Regierung ist auf die uneingeschränkte Komplizenschaft der USA angewiesen, um eine umfassende Aggression gegen den Libanon zu starten, für die die politischen Voraussetzungen noch nicht erfüllt sind. Sie arbeitet jedoch daran, diese zu erreichen.

Aus all dem geht hervor, dass Netanjahu zu befürchten beginnt, dass sein Freund Donald Trump bei den bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen in etwa anderthalb Monaten scheitern könnte. Er scheint beschlossen zu haben, die Dinge zu eskalieren, indem er die letzten Monate der Anwesenheit seines anderen Freundes, des "stolzen irisch-amerikanischen Zionisten" Joe Biden, im Weißen Haus ausnutzt. Die Frage ist nun: Wird Biden Netanjahu energisch genug unter Druck setzen, um einen Krieg zu verhindern, der sich negativ auf die Kampagne der Kandidatin seiner Partei, Kamala Harris, auswirken könnte? Oder wird er sich wieder einmal dem kriminellen Vorhaben seines Freundes anschließen, wenn auch begleitet von einer Äußerung des Bedauerns und des Grolls, um die Schuld in der üblichen heuchlerischen Art und Weise von ihm und seinem Außenminister Blinken abzulenken?

24. September 2024

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