Ein möglicher Ausweg für Palästina
Gespräch mit Mustafa Barghouti
Mustafa Barghouti ist palästinensischer Arzt und Generalsekretär der von ihm 2022 gegründeten Palästinensischen Nationalen Initiative. Er befürwortet die nationale Einheit der Palästinenser und die Abhaltung demokratischer Wahlen als Voraussetzung für die Bekämpfung des drohenden Völkermords und der ethnischen Säuberung. Mit ihm sprach das US-amerikanische Internet-Portal Mondoweiss am 2.Oktober 2024.
Israel hat angekündigt, eine »begrenzte« Bodeninvasion im Südlibanon durchzuführen. Gleichzeitig gehen die Luftangriffe und Massaker an der Zivilbevölkerung weiter, die Wahrscheinlichkeit eines Waffenstillstands scheint weiter entfernt denn je. Wie schätzen Sie die Entwicklung in Gaza und die regionale Eskalation ein?
Israel hat seine Operationen im Gazastreifen nicht wirklich zurückgefahren. Sie haben bereits fast 80 Prozent aller Häuser in Gaza teilweise oder vollständig zerstört. Sie haben alle Universitäten zerstört. Sie haben die meisten Schulen zerstört. Sie haben 34 von 36 Krankenhäusern zerstört. Sie haben mehr als 1,7 Millionen Menschen in ein Gebiet gezwängt, das nicht größer als 31 Quadratkilometer ist. Im Durchschnitt werden jeden Tag 50–100 Menschen getötet.
Und jetzt marschieren sie in den Libanon ein. Ich glaube nicht an die Behauptung, dass Israel dort eine begrenzte Operation durchführen wird. Meiner Meinung nach plant Israel, den südlichen Libanon vollständig zu besetzen, und vielleicht sogar noch mehr, und zwar für eine sehr lange Zeit und auf Dauer. Einzig die hohen Verluste, die sie durch die Kämpfer der Hisbollah erleiden werden, werden sie davon abhalten. Nichts anderes wird sie aufhalten.
Glauben Sie, dass die Situation zu einem regionalen Krieg eskalieren könnte, wenn Israel den Südlibanon tatsächlich besetzen will?
Ganz genau. Ich glaube, Netanyahu will die Region in einen Krieg hineinziehen. Er will die USA mit hineinziehen, oder vielleicht hat er bereits einen gemeinsamen Plan mit den USA – denn ich glaube nicht, dass Biden mit hineingezogen werden muss. Er ist bereits darin verwickelt. Er ist mitschuldig an diesem Völkermord. Netanyahu versucht, die USA in den Krieg hineinzuziehen, damit sie den Iran angreifen oder sich an einem Angriff beteiligen.
Wo bleibt der Gazastreifen in all dem?
Meiner Meinung nach war Netanyahus ursprünglicher Plan, den Gazastreifen ethnisch zu säubern. Das hat er nicht verheimlicht. Er sagte es am zweiten Tag des Krieges am 8.Oktober. Sein Militärsprecher Richard Hecht erklärte, dass alle Bewohner des Gazastreifens auf den Sinai vertrieben werden müssen.
Sie sind gescheitert. Sie scheiterten an der Standhaftigkeit und dem Heldenmut der palästinensischen Bevölkerung in Gaza, aber auch daran, dass Ägypten nicht kooperierte. Ägypten erkannte, dass eine Vertreibung der Palästinenser in den Sinai eine große Sicherheitskatastrophe für Ägypten bedeuten würde. Da Netanyahu keine vollständige ethnische Säuberung durchführen konnte, betreibt er in Gaza einen Völkermord.
Aber ich denke, sobald er mit dem Libanon fertig ist, wird er versuchen, alle Menschen aus dem nördlichen Gazastreifen zu vertreiben und ihn an Israel anzugliedern. Das wäre der Plan B zur vollständigen Annexion des Streifens oder der totalen ethnischen Säuberung der Bevölkerung von Gaza. Das heißt aber nicht, dass er damit unbedingt Erfolg haben wird.
Würde der Rest des Gazastreifens in diesem Fall weiterhin einen Krieg »niedriger Intensität« erleben?
Der Krieg wird weitergehen. Netanyahu hat bereits erklärt, dass er die israelische Besetzung des Gazastreifens fortsetzen wird. Er will eine zivile Struktur von Kollaborateuren schaffen, die unter der israelischen Besatzung arbeiten.
Die Palästinenser leiden unter einer tiefen politischen Zersplitterung, vielleicht heute mehr denn je. In jüngster Zeit hat es in Peking Gespräche über die Erreichung einer nationalen Einheit gegeben. Welche Bedeutung haben diese Gespräche?
Es wird etwas dabei herauskommen, wenn die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) zustimmt, sie umzusetzen. Bislang ist das nicht der Fall. Natürlich waren diese Gespräche von Bedeutung. Das Abkommen in Peking enthält drei sehr konkrete Schritte [zur nationalen Einheit].
Der erste ist die Bildung einer einheitlichen nationalen Konsensregierung, die sowohl für das Westjordanland als auch für den Gazastreifen zuständig wäre, um deren Einheit zu gewährleisten und Netanyahus Plan, die beiden Gebiete voneinander zu trennen, zu verhindern.
Der zweite Schritt wäre ein Treffen der sog. palästinensischen Interimsführung oder einheitlichen Führung gemäß unserer früheren Vereinbarung in Kairo im Jahr 2011.
Und der dritte Schritt wäre ein Treffen aller Führer der palästinensischen Fraktionen, um einen Plan zur Umsetzung all dieser Entscheidungen zu entwerfen.
Das Abkommen sieht vor, dass der Präsident [der PA] unverzüglich Konsultationen zur Bildung einer nationalen Konsensregierung einleitet, doch leider hat er dies bisher nicht getan. Solange er das nicht tut, bleibt dieses Abkommen auf dem Papier.
Was kann Einheitsregierung bedeuten, wenn nicht nur grundlegende Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, wie man sich der israelischen Besatzung widersetzen soll, sondern auch darüber, ob man sich ihr überhaupt widersetzen soll?
Nun, das ist natürlich ein großes Problem. Aber meiner Meinung nach sind die beiden Hauptursachen für die interne palästinensische Spaltung die folgenden:
Erstens die Uneinigkeit über das Programm. Die PA und weitgehend auch die Parteien im Exekutivkomitee der PLO haben an Oslo geglaubt – nicht nur als Abkommen, sondern auch als Ansatz, d.h. sie glauben, dass das Problem durch Verhandlungen mit der israelischen Seite gelöst werden kann, selbst wenn wir ein stark verzerrtes Machtgleichgewicht zugunsten Israels haben.
Die Idee eines Kompromisses wurde jedoch spätestens da zunichte gemacht, als das israelische Parlament das Nationalstaatsgesetz verabschiedete, wonach das Selbstbestimmungsrecht im Land des historischen Palästina ausschließlich dem jüdischen Volk zusteht.
Die Osloer Linie ist also gescheitert, und Israel hat sie zerstört. Und der Ansatz, der an einen Kompromiss glaubte, scheiterte. Die andere Illusion, an die dieser Ansatz glaubte, war, dass die USA zwischen Palästinensern und Israel vermitteln könnten. Auch das ist gescheitert, weil die USA völlig voreingenommen zugunsten Israels sind. Die programmatische Ursache für die interne Spaltung ist also erledigt, sie ist verschwunden.
Die zweite Ursache für die interne Spaltung war der Wettbewerb um die Autorität zwischen Fatah und Hamas. Seien wir fair und geben wir das zu. Die Hamas hatte das Sagen in Gaza. Die Fatah regierte das Westjordanland. Heute gibt es keine Autonomiebehörde mehr. Gaza ist besetzt, und das Westjordanland ist vollständig besetzt. Es gibt also keinen Grund für einen Wettbewerb um eine Behörde, die es nicht gibt – es ist eine Behörde ohne Autorität.
Aber es gibt immer noch eine grundlegende Meinungsverschiedenheit über die Strategie. Nicht einmal über den Widerstand, sondern über die Idee des Widerstands.
Auf jeden Fall, denn einige Leute glauben immer noch an Oslo und träumen davon, das Verlorene zurückzubringen. Aber sie sind jetzt eine sehr kleine Minderheit. Deshalb sagen wir, der Weg zur Einheit beginnt mit zwei Etappen.
In der ersten Phase müssen wir einen Weg zu einem Kompromiss und zur Schaffung einer Art vorläufiger einheitlichen Führung finden, denn die Krise, in der wir uns befinden, kann nicht warten, und die Risiken, die wir eingehen, sind zu groß.
Die zweite Phase besteht darin, freie demokratische Wahlen abzuhalten, an denen Palästinenser in Palästina und außerhalb Palästinas teilnehmen. Erst dann wird das Volk entscheiden, welche Strategie auf demokratische Weise angenommen werden soll.
Die Ziele des Kampfes sind vielfältig. Das erste Ziel des palästinensischen Kampfes ist heute, in Palästina zu bleiben. Die Tatsache, dass die Zahl der Palästinenser, die auch nach der Vertreibung von 70 Prozent des palästinensischen Volkes in Palästina geblieben sind, heute größer ist als die Zahl der jüdischen Israelis, ist das größte Dilemma und das größte Versagen der zionistischen Bewegung. Deshalb glaube ich, dass die Frage des Bleibens in Palästina sehr wichtig ist. Und es geht nicht nur ums Bleiben. Die Menschen hier, ihre demografische Präsenz, das wäre nicht so effektiv gewesen, wenn wir nicht Widerstand geleistet hätten.
Ist das Westjordanland das nächste Ziel nach Gaza?
Das Westjordanland ist das Hauptziel vor Gaza. Der Gazastreifen wird wegen des Westjordanlands angegriffen. Das gesamte zionistische Establishment will das Westjordanland annektieren. Aber sie können das Westjordanland nicht annektieren mit all den Menschen, die dort leben. Deshalb kombinieren sie den Siedlungsausbau und die schrittweise Annexion mit der Vertreibung der Palästinenser, sei es mit Gewalt oder durch die Schaffung schwieriger sozialer und wirtschaftlicher Bedingungen. Und deshalb müssen wir verstehen, dass das Hauptziel dieses ganzen Angriffs das Westjordanland ist, einschließlich natürlich Jerusalem.
Glauben Sie, dass es inmitten dieser Verzweiflung noch Raum für Hoffnung gibt?
Ja, es gibt sehr viel Hoffnung. Die Hoffnung liegt in der Unverwüstlichkeit der Menschen. Ich glaube an die junge Generation in Palästina. Sie zeigt fantastische Beispiele für Widerstandsfähigkeit und Widerstand. Ich spreche nicht nur von militärischem Widerstand oder gar zivilem Widerstand. Ich spreche auch von dieser fantastischen Bewegung der jüngeren palästinensischen Generation weltweit, vor allem in Ländern wie den USA und Europa, wo es eine ganz neue Generation von Palästinensern gibt, die sich regeneriert und neue Kraft geschöpft hat.
Der 7.Oktober hat eine ganze palästinensische Generation überall neu belebt. Ich denke, dass dies den Weg für eine neue Art von palästinensischer Einheit im Rahmen eines einheitlichen Projekts öffnet, das alle Palästinenser einschließt, wo immer sie leben, ob in Palästina oder außerhalb Palästinas.
Quelle: https://mondoweiss.net/2024/10/mustafa-barghouti-reflects-on-the-future-of-the-palestinian-struggle-in-a-time-of-genocide-and-ethnic-cleansing/. Von der Redaktion stark gekürzt.
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