Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2025

Belohnung für Faulpelze?
von Nele Johannsen

Die Bürgergeldreform von 2023 sollte einen »Paradigmenwechsel« in der deutschen Sozialpolitik einleiten. Doch ein genauer Blick zeigt, dass die Reform weder die grundlegenden Probleme des Hartz-IV-Systems überwunden hat noch soziale Sicherheit wirklich stärkt. Stattdessen spitzen populistische Kritik und geplante Verschärfungen die Situation für die Empfänger:innen wieder zu.

Mit der Bürgergeldreform 2023 wollte die SPD auf langjährige Kritik am Grundsicherungssystem reagieren und den Schatten der Hartz-IV-Ära endlich abschütteln.
Der Fokus sollte auf das »Fördern« statt das »Fordern« verlegt werden. Langfristige Integration durch Aus- und Weiterbildung statt einer möglichst schnellen Vermittlung in (un)zumutbare Arbeit. Keine harten Sanktionen mehr, sondern mildere »Leistungsminderungen«. Ein gemeinsam von Sachbearbeiter:in und Empfänger:in erarbeiteter Kooperationsplan statt einer obligatorischen Eingliederungsvereinbarung. Und ein deutlich höheres Schonvermögen von 40.000 Euro. So stand es im Koalitionsvertrag der Ampel.
Unterzieht man das Bürgergeld einem Realitätscheck, wird jedoch klar: Einen solchen »Paradigmenwechsel« hat es nicht gegeben. Wie auch schon im Rahmen der Agenda 2010 mit Hartz IV geht es vor allem immer noch darum, die Statistik zu bereinigen und Erwerbslose möglichst auf den Arbeitsmarkt zu drängen.

Populistische Kritik
Aber schon die Minireformen gingen Kritiker:innen aus Unternehmerverbänden, konservativen Medien und der Politik zu weit. Sie behaupten, das Bürgergeld belohne die »Faulen« und benachteilige die »Fleißigen«. Arbeit müsse sich wieder lohnen.
So fordert die FDP strengere Sanktionen und eine allgemeine Senkung des Bürgergelds. Markus Söder unterstützt diese Forderung mit der Behauptung, das Bürgergeld sei so hoch, dass es sich kaum noch lohne, zu arbeiten.
Eine vom ifo-Institut durchgeführte Studie widerlegt diese Behauptung: Es besteht ein spürbarer Lohnabstand zwischen Bürgergeldbeziehenden und Erwerbstätigen. Nach wie vor sind jedoch immer noch viele Jobs zu schlecht bezahlt und werfen nicht genügend Einkommen ab. Deshalb hätten Menschen mit niedrigem Einkommen oft Anspruch auf zusätzliche Sozialleistungen wie Wohngeld oder Kinderzuschläge, sagt Helena Steinhaus, Gründerin des Vereins »Sanktionsfrei« gegenüber dem ARD-faktenfinder. Mit diesen Zusatzleistungen zu ihrem kärglichen Einkommen kämen sie auf ein insgesamt höheres Einkommen als Bürgergeldbeziehende. Auch Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) betont, es sollte bei der Debatte um lohnende Arbeit nicht um die Höhe des am Existenzminimum orientierten Bürgergelds gehen, sondern um die Zahlung angemessener Löhne.

›Totalverweigerer‹ als Sündenböcke
Im Mittelpunkt der polarisierten Debatte um das Bürgergeld stehen als Sündenböcke die sog. »Totalverweigerer«.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann spricht von einer »sechsstelligen Zahl von Personen«, die »grundsätzlich nicht bereit ist, eine Arbeit aufzunehmen«. Diese Zahl ist aus der Luft gegriffen: Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) gab es im Jahr 2023 nur 15.774 Fälle (0,4 Prozent), in denen es wegen »Weigerung der Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung, Maßnahme oder eines geförderten Arbeitsverhältnisses« zu Leistungsminderungen kam. Diese faktenfreie Behauptung ist leider kein Einzelfall – immer wieder werden Bürgergeldbeziehende so von rechten Politikern und Medien diffamiert.
Um die Gruppe der Leistungsbeziehenden genauer zu betrachten, lohnt sich ein Blick auf die tatsächliche Zusammensetzung und Erwerbsfähigkeit dieser Menschen. Von den etwa 5,6 Millionen Bürgergeldbeziehenden sind etwa 4 Millionen erwerbsfähig. Davon sind etwa 45 Prozent arbeitslos gemeldet (1,8 Millionen). Die übrigen 55 Prozent sind entweder berufstätig, können aber ihren Lebensunterhalt nicht vollständig decken, befinden sich in Aus- oder Weiterbildung, kümmern sich um Angehörige oder sind nicht im erwerbsfähigen Alter.
Damit steht mehr als die Hälfte der Bürgergeldbeziehenden dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung. Von den verbleibenden rund 1,8 Millionen Menschen, die prinzipiell arbeiten könnten, haben zwei Drittel keine hinreichende Ausbildung oder sind gesundheitlich eingeschränkt.

Die Rückkehr des ›Forderns‹
Trotz der oft populistischen und faktenfernen Kritik am Bürgergeld hat die Ampelregierung dem Druck nachgegeben.
Am 2.Oktober beschloss das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zur Anpassung des Bürgergelds, der größtenteils ab dem 1.Januar 2025 in Kraft treten soll. Damit verabschiedet sich die Sozialpolitik in vielerlei Hinsicht wieder vom grundsätzlichen Prinzip des »Förderns« und kehrt zurück zum »Fordern«. Wer eine zumutbare Tätigkeit ablehnt, muss künftig mit einer sofortigen Leistungskürzung um 30 Prozent für drei Monate rechnen, statt die bisher mit einer stufenweisen Kürzung. Das Nichterscheinen zu einem Jobcenter-Termin soll mit einer Kürzung von 30 Prozent für einen Monat geahndet werden (bisher 10 Prozent). Damit werde das Bürgergeld »teilweise härter als Hartz IV«, wie FDP-Fraktionschef Christian Dürr mit Genugtuung anmerkte.
Diese Änderungen treffen alle erwerbsfähigen Leistungsbeziehenden gleichermaßen und haben das Potenzial, viele in prekäre Beschäftigung zu drängen. Sanktionen werden wieder als Druckmittel eingesetzt, obwohl das Bundesverfassungsgericht betont, dass sie keine Form der Bestrafung darstellen dürfen.
Auch die Zumutbarkeit einer Tätigkeit wurde neu definiert: Pendelzeiten von bis zu drei Stunden und verpflichtende Umzüge gelten als zumutbar. Die Karenzzeit des Schonvermögens wurde von zwölf auf sechs Monate verkürzt. Solche Verschärfungen bedeuten erhebliche Eingriffe in die Lebensgestaltung der Betroffenen. Von dem »unkomplizierten Bürgergeld«, das die SPD damals in ihrem Wahlprogramm angekündigt hatte, ist nicht viel übriggeblieben. Stattdessen wird wieder das Narrativ bedient, dass »faule Menschen aktiviert« werden müssten.

Regelsatz unter der Armutsgrenze
Trotz Inflation wird es 2025 beim Bürgergeld eine »Nullrunde« geben. Alleinstehende erhalten demnach auch im kommenden Jahr 563 Euro monatlich und liegen somit weiterhin deutlich unter der Armutsgrenze. Diese Berechnung wird von Sozialverbänden und Gewerkschaften scharf kritisiert: »Die Regelsätze im Bürgergeld müssen dringend neu berechnet werden«, fordert die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele. Die Diakonie kritisiert auf Grundlage eines Rechtsgutachtens, dass mit dem Bürgergeld weder eine angemessene Ernährung noch gesellschaftliche Teilhabe gewährleistet sind. Der Paritätische Wohlfahrtsverband forderte aus ähnlichen Gründen schon im vergangenen Jahr eine Anhebung auf mindestens 813 Euro.
Durch die geplanten finanziellen Kürzungen kommt es zu erheblichen Einschnitten in den Budgets der Jobcenter, allein für die Fördermaßnahmen gibt es 250 Millionen Euro weniger. Das gefährdet die Betreuung und Qualifizierung von Erwerbslosen. Die Jobcenter stehen damit vor einem Dilemma, denn das Ziel zu »fördern«, was ja im Rahmen der Bürgergeldreform an erster Stelle stehen sollte, kann so nicht mehr erreicht werden. Davor warnen die Bundesagentur für Arbeit, der Deutsche Landkreistag und der Deutsche Städtetag in einer Pressemitteilung.
Die geplanten Änderungen bieten neue Anreize zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt. Langzeitarbeitslose, die mindestens zwölf Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren und in den letzten sechs Monaten keine Bürgergeldunterstützung mehr erhalten haben, sollen eine »Anschubfinanzierung« von 1000 Euro bekommen. Zudem sollen teils verpflichtende »Integrationspraktika« für Geflüchtete als pädagogisches Programm für Unternehmen eingeführt werden. Aber diese beiden Ansätze stehen wie andere Qualifizierungsmaßnahmen unter Finanzierungsvorbehalt.

Ein ernüchternder Ausblick
Schon Hartz IV hatte dazu geführt, dass der Druck auf Empfänger:innen von Transferleistungen zu einem Anwachsen des Niedriglohnsektors führt. Damit ging zwar eine erhöhte Erwerbstätigenquote einher, aber stabile, bedarfsgerechte Arbeitsverhältnisse blieben für die meisten unerreichbar. Angesichts der geplanten Verschärfungen oder sogar einer Abschaffung des »völlig verunglückten Systems Bürgergeld« zugunsten einer »neuen Grundsicherung«, wie es sich Friedrich Merz wünscht, werden für viele Erwerbslose noch härtere Zeiten anbrechen als unter Hartz IV.
Die Entwicklung wird die Kritik des UN-Sonderberichterstatters für extreme Armut und Menschenrechte, Olivier De Schutter, auf den Plan rufen: Soziale Sicherung dürfe nicht als großzügige Wohltat einer Regierung betrachtet werden, sondern müsse endlich als fundamentales Menschenrecht anerkannt werden. Wer soziale Absicherung an Erwerbsarbeit und Effizienz bindet, verneint dieses Menschenrecht und spielt der extremen Rechten in die Hände: Die Hetze gegen Bürgergeldbeziehende verstärkt das gesellschaftliche Bild der »faulen Arbeitslosen«, fördert allgemein ein »Nach-unten-Treten« und lenkt von den eigentlichen Ursachen für Armut und Ungleichheit ab.
Statt Bürgergeldbeziehende zu stigmatisieren und die Grundsicherung zu senken, wäre ein erster sinnvoller Schritt ein deutlich erhöhter Mindestlohn, mindestens 15 Euro die Stunde.

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