Nach dem Sturz Assads ist die Existenz der kurdischen Enklave bedroht
von Ayse Tekin
Die Erdogan wohlgesonnenen Medien der Türkei feiern den Staatschef als Befehlshaber der »syrischen Revolution«, als »Eroberer Syriens« und als »größten Revolutionär des 21.Jahrhunderts«. Sie glauben, dass ihr Präsident die ganze Bewegung orchestriert hat. Erklärungen des türkischen Präsidenten und seines Außenministers deuten auch stark daraufhin.
Dem syrischen Ex-Machthaber Bashar al-Assad wurde in der Vergangenheit »ewige Treue« versichert. Dass diese Ewigkeit in zehn Tagen vorbei war, hat alle überrascht, einschließlich die Kämpfer selbst.
Die Kräfte von Hay’at Tahrir al-Sham hatten ihren Vormarsch im Nordwesten des Landes am 27.November begonnen. Ziel war es, die Luftangriffe Assads und Russlands auf Idlib zu stoppen. Als sie kaum auf Gegenwehr stießen, marschierten sie weiter, eroberten Aleppo, Hama und Homs.
Ihr rasches Vorankommen setzte Teheran und Moskau in Bewegung. Der iranische Außenminister Abbas Araghchi war am 2.Dezember zuerst in Damaskus, dann in Ankara. Am 6.Dezember, nach dem Freitagsgebet, konnte der türkische Präsident sich nicht zurückhalten und erklärte, er hoffe, »die syrische Opposition bald in Damaskus zu sehen«.
Am 7.Dezember gab es ein Treffen in Doha mit den türkischen, russischen und iranischen Außenministern im Astana-Format, wo laut dem türkischen Außenminister Hakan Fidan »keine Einmischung« beschlossen wurde.
Der Vormarsch endete am
8.Dezember in Damaskus, wobei die Türkei mit der Unterstützung der Gruppen HTS (Hay’at Tahrir al-Sham) und SNA (Syrische Nationalarmee, früher Freie Syrische Armee) stark am Geschehen beteiligt war. Ein paar Wochen vorher hatte Erdo?an versucht, noch einmal mit Assad Kontakt aufzunehmen. Er sagte später, Assads Zurückweisung habe dazu geführt, dass dem Marsch der Rebellen »grünes Licht gegeben« wurde.
Ein Geheimdienst löst den anderen ab
Die Türkei kontrolliert mehrere bewaffnete Gruppierungen in Nordsyrien, die in der Koalition Syrische Nationalarmee organisiert sind. Deren hauptsächliches Ziel war, die von den USA unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte auszulöschen. Der Einfluss der Türkei auf die in Idlib herrschende Gruppe Hay’at Tahrir al-Sham war begrenzt.
Allerdings fungierte der türkische Außenminister nach der Machtübernahme Al Jolanis als Vermittler zwischen HTS und den arabischen Staaten sowie der westlichen Welt. Bezeichnend ist, wen die neue Übergangsregierung am 12.Dezember als ersten Gast aus dem Ausland empfing: Ibrahim Kalin, Chef des türkischen Geheimdienstes MIT. Kalin besuchte die Umayyaden-Moschee und wurde bei der Besichtigung von Damaskus von Al Jolani begleitet.
Al Jolani und sein Organisation HTS stehen international auf der Terrorliste. Auch in der Türkei. Allerdings wird er nach seinem erfolgreichen Einmarsch in Damaskus wie ein zukünftiger Staatschef behandelt und auch auf der internationalen Bühne so behandelt. Mit verändertem Äußeren präsentierte er sich mit mit dem Chef des türkischen Geheimdienstes in Zivil.
Wie der Besuch des türkischen Geheimdienstchefs auf die Syrer wirkt, die jahrzehntelang unter dem Geheimdienst von Assad gelitten haben, interessiert Kalin nicht. So scheint es, dass derzeit direkt nach der Machtübernahme kein anderer Staatschef mehr Einfluss in Syrien hat als Recep Tayyip Erdogan.
Die Türkei ist dabei, diesen Einfluss rasch auszubauen. Verteidigungsminister Yagar Güler bot türkische Militärhilfe für die künftigen syrischen Streitkräfte an. Die Türkei sei bereit, bei der Ausbildung von Soldaten zu helfen und mit den neuen Streitkräften zu kooperieren, »wenn die neue Regierung es anfragt«, sagte er.
Internationale Reaktionen
Zwei wichtigen Kräfte in Syrien, die Assad unterstützt hatten, haben sich schnell zurückgezogen. Iran hat seine Kräfte aus dem Land zurückgezogen, Russland will allerdings seine Militärbasen sichern.
Irans oberster Führer, Ayatollah Ali Khamenei, sieht im Machtwechsel einen »gemeinsamen amerikanisch-zionistischen Plan«, bei dem »die Regierung eines Nachbarlandes eine große Rolle spielt«. Das verheimlicht die Türkei nicht. Die westlichen Regierungen – Italien, Deutschland, die USA – regeln ihre Anliegen bisher über die Türkei, seien es Ausreisen ihrer Staatsbürger oder Vertretung ihrer Interessen.
Die USA sind darum bemüht, dass die Bekämpfung des IS durch die Einheiten der YPG nicht gestoppt wird. US-Außenminister Blinken hat deshalb Ankara besucht und einen Rückzug der YPG-Kräfte ans Ostufer des Euphrats erreicht – das war für die Türkei eine Bedingung, um die Angriffe des türkischen Militärs, aber auch der Syrischen Nationalarmee auf kurdisches Gebiet zu stoppen.
Die Lage der Kurden
Nordost-Syrien, das seit 2012 von der Partei der Demokratischen Union (PYD) regiert wird, wurde von der Syrischen National Armee (SNA), unterstützt von der türkischen Armee, konzentriert angegriffen. Mehrere von Kurden bewohnte Gebiete und Städte mussten geräumt werden. Die Türkei hat das Ziel ausgegeben, die Kurden dürften das Gebiet westlich des Euphrats nicht unter ihrer Kontrolle haben. So wurden die Kräfte der YPG/PYD nach Absprache mit den USA auf die Ostseite des Euphrats zurückgezogen.
Die Operationen der SNA wurden vom türkischen Militär unterstützt. Die Türkei hat durch Bombardements die Waffenlager der YPG zerstört. Diese, der bewaffnete Arm der in »Rojava« (Demokratische Föderation Nordsyrien) dominierenden PYD, bildet mit bis zu 30.000 Kämpfern den Kern der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF); sie ist die wichtigste Alliierte der USA in der Region und waren die schlagkräftigste Truppe im Kampf gegen den IS.
Die Türkei betrachtet die Kurdenmiliz allerdings als einen Ableger der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK). PYD-Sprecher weisen dies zurück, sagen aber auch, dass sie die gleiche Ideologie wie die PKK haben, nämlich die marxistische.
Die PYD betont zwar in ihren Erklärungen, ein Teil der syrischen Zentralregierung sein zu wollen, doch der türkische Außenminister sieht eine andere Zukunft für die Kurden: Das Volk darf zwar Minderheitenrechte erhalten, aber die Führung muss Syrien verlassen! Außenminister Hakan Fidan hat bei einem Fernsehinterview gesagt, dass »die YPG/PYD sich auflösen muss oder sie wird aufgelöst«. Dies sei die Aufgabe der zentralen syrischen Regierung. Er begründet dies damit, dass »die Öl-Einnahmen nicht der PKK überlassen werden dürfen«. Das Gebiet ist reich an Ölfeldern, Kohlenwasserstoffreserven und landwirtschaftlichen Ressourcen.
Der türkische Außenminister kritisierte die Rolle der Vereinigten Staaten und einiger europäischer Länder im Kampf gegen den Islamischen Staat und argumentiert, diese Länder nutzten die YPG als Instrument, damit die Gefangenen des IS im Lager Al Hol im Nordosten Syriens bleiben. Dort leben zehntausende Menschen, darunter Familienangehörige von IS-Kämpfern und Personen, die als potenzielle Sicherheitsbedrohung gelten.
Laut Fidan »nutzen die westlichen Staaten eine andere Terrororganisation [nämlich die YPG], um IS-Mitglieder an der Rückkehr in ihre Länder [in Europa und Asien] zu hindern und kümmern sich nicht um die Belastung, die für die anderen Staaten in der Region entstehen«.
Türkische Szenarien
Für den Norden Syriens heißt das türkische Szenario laut Außenminister Fidan: Auflösung oder Auslöschung der kurdischen Milizen. Sein Plan hat drei Etappen: Alle nichtsyrischen Kämpfer (PKKler) in den Reihen der YPG müssen Syrien »so schnell wie möglich« verlassen. In der zweiten Phase müsse die gesamte YPG-Führung das Land verlassen, dann müssten alle Kämpfer ihre Waffen niederlegen.
Ob die USA, die die Kurden und deren Verwaltung wegen ihres erfolgreichen Kampfes gegen den IS unterstützen, diese Pläne mitmachen, wird sich erst nach Trumps Regierungsübernahme in Washington entscheiden.
Es zeichnet sich allerdings ab, dass die Syrer ihre Zukunft nicht alleine gestalten dürfen/können. Für die türkische Seite wäre das schlimmste Ergebnis das Fortbestehen der kurdischen Macht. Andererseits müsste jeder stabile Frieden Autonomie für die syrischen Kurden beinhalten.
Die kurdische Verwaltung, die sich 2019 mit dem Assad-Regime arrangiert hatte, wird jetzt schon von manchen Kräften als Verbündete Assads oder des amerikanischen Imperialismus bekämpft. Aber nach der Erfahrung, die die Kurd:innen in »Rojava« gemacht haben und da auch im Nordirak ein autonomes kurdisches Gebiet besteht, wird es nicht möglich sein, die Zeit zurückzudrehen.
Wenn sich das autonome kurdische Gebiet nicht auflöst, ist Ankaras
Plan B ein Korridor entlang der südlichen Grenze vom Nordirak bis zum Mittelmeer – 1300 Kilometer lang und mindestens 30 Kilometer tief. Der türkische Staatspräsident hat dieses Projekt bereits in seiner Rede im September bei der UN-Vollversammlung vorgestellt. Im Nordirak existiert bereits ein solcher 400 Kilometer langer Korridor entlang der irakischen Grenze.
Die Bestrebungen der Türkei, im Süden außerhalb ihrer Grenzen Macht haben zu wollen, hat auch mit ihrer Vergangenheit zu tun. Seit Gründung der Türkischen Republik (1923) trauern die Türken um die Gebiete südlich ihrer Grenzen, die sie gerne gehabt hätten, die aber Briten und Franzosen bis zur Gründung Syriens (1961) und des Irak (1958) besetzt hielten.
In einer Rede am 13.Dezember auf einem regionalen Parteitag der AKP erklärte Erdogan: »Nur weil nach dem Ersten Weltkrieg die Grenzen in unserer Region so bestimmt worden sind, werden wir unsere Geschwister in Idlip, Aleppo, Hama, Damaskus nicht vergessen, die, wenn es anders gekommen wäre, jetzt mit uns gemeinsam leben würden.« Jetzt versucht er es auf einem anderen Weg.
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