Die kurdische Selbstverwaltung hängt am seidenen Faden
von Wolfgang Schindler
Ein Video: 9.Dezember 2024. Die Treppe ist schmal, die sie hinunter gehen. Es ist dunkel. Sie betreten ein medizinisch gut ausgestattetes Krankenzimmer. Es ist das Krankenhaus am Al-Matahen-Kreisverkehr in Minbic, Nordsyrien. Sie leuchten zwei offenbar schwer Verwundeten ins Gesicht. Ein kurzer Dialog mit ihnen findet statt. Dann fällt ein Schuss. Der Mord erfolgt kalt und routiniert. Es folgen mehrere Feuerstöße. Dass der zweite Verwundete getroffen wird, ist in dem Video nicht genau zu erkennen. Aber unzweifelhaft ist es so.
Es sind die Söldner der Syrischen Nationalarmee (SNA), die dieses – also ihr eigenes – Verbrechen gefilmt und ins Internet gestellt haben. Leider ist es notwendig dieses unerträgliche Video so weit wie möglich zu verbreiten. Es sagt alles über den Charakter der SNA. [1]
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtet, dass bei der obigen Aktion Dutzende verwundete Kämpfer:innen der Syrischen Demokratischen Kräfte (QSD) in ihren Krankenbetten kaltblütig ermordet wurden. [2]
Der Sturz von Assad wird gefeiert
Nicht nur in Damaskus, auch in Deutschland und Europa feiert die syrische Community den Sturz des Diktators Bashar al-Assad und seines Regimes. Der syrische Staatsapparat scheint rudimentär weiter zu funktionieren. Die HTS hat die Macht übernommen.
Die neue Führung in Damaskus hat angekündigt, die Rechte von Minderheiten zu respektieren. Bisher ist allerdings unklar, ob sie das wirklich tun wird. Die HTS wird versuchen, in ganz Syrien ein islamisches Rechtssystem ähnlich wie in Idlib zu installieren.
Als die HTS am 1.Dezember 2024 die Stadt Aleppo eroberte, hat sie die kurdisch geprägten und selbstverwalteten Stadtteile Sexmeqsud und Esrefiye nicht angegriffen. Aber sie hat der SNA freie Hand gelassen, in Tel Rifat und in Minbic ihr mörderisches Handwerk auszuüben. Hier scheint sich eine perverse Arbeitsteilung zu entwickeln.
Große Teile der syrischen Bevölkerung haben keinen Grund zum Feiern. Im Windschatten der Offensive der HTS hat die SNA die Gebiete der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (»Rojava«) angegriffen. Am gleichen Tag, am 1.Dezember, hat die SNA die Kleinstadt Tel Rifat besetzt. Diese befindet sich in einer wüstenähnlichen Landschaft und besteht aus flachen Gebäuden und Tausenden von Zelten. Tel Rifat hat etwa 80.000 Kurdinnen und Kurden beherbergt, die 2018 aus Afrin geflüchtet waren. Diese mussten nun ein zweites Mal vor den Islamisten fliehen. Die QSD hatten keine Chance, die Stadt zu verteidigen.
Die SNA hat den Fluchtkorridor mehrfach unterbrochen. Geflüchtete berichten von Plünderungen und entsetzlichen Gräueltaten. [3]
Kampf um Minbic (Manbij)
Der Kanton Minbic war im Jahr 2016 durch die QSD vom »Islamischen Staat« befreit worden. Es war das erste selbstverwaltete Gebiet in Nord- und Ostsyrien ohne mehrheitlich kurdische Bevölkerung. In allen Ämtern wurde eine Doppelspitze aus einer Frau und einem Mann eingeführt. Alle gesellschaftlichen und ethnischen Gruppen waren entsprechend ihrer Bevölkerungsanteile im Zivilrat vertreten.
Die Bedeutung von Minbic erklärt sich nicht nur durch seine geostrategische Lage, sondern auch durch das dort realisierte politische System, das ein Modell für ein neues demokratisches Syrien sein kann. Es kann ein Paradigma, ein strahlungskräftiges Beispiel für den gesamten mittleren Osten sein. Es hat das Potenzial, bis in die Türkei hinein auszustrahlen.
Deshalb muss Erdogan es vernichten. Am 2.Dezember 2024 hat die SNA Minbic angegriffen. Die türkische Armee hat den Angriff mit Drohnen und Artillerie unterstützt. Am 8.Dezember hat sie den südlichen Stadtrand von Minbic erreicht. Am 9.Dezember konzentrierten sich die Kämpfe auf das Stadtzentrum und in der Nacht fand das oben beschriebene Massaker statt.
Am 10.Dezember haben die QSD einer Waffenruhe zugestimmt. Da die Angriffe der SNA aber unvermindert weitergingen, sind sie wieder zu Gegenangriffen übergegangen und haben ihre Kampfweise auf Guerillataktik umgestellt.
Hunde, die bellen, beißen auch
»Die separatistischen Mörder müssen sich entweder von ihren Waffen verabschieden oder sie werden in Syrien zusammen mit ihren Waffen begraben werden«, tönte Präsident Erdogan am 25.Dezember im türkischen Parlament. Damit meinte er die QSD. Auf X schrieb er: »Wir sind entschlossen, unsere gezielten Einsätze gegen die Elemente der separatistischen Terrororganisation in Syrien mit chirurgischer Präzision fortzusetzen, ohne Zivilisten zu schädigen.«
»Ohne Zivilisten zu schädigen«, wie z.B. am 23.Oktober und an den folgenden Tagen, als türkisches Militär mit Kampfjets und Drohnen Gesundheitseinrichtungen, Bäckereien, Ölfelder, Nahrungsmittellager, Wasser- und Elektrizitätswerke zerstört, die Strom-, und Wasserversorgung für eine Million Menschen unterbrochen, 13 Zivililpersonen getötet und 58 verletzt hat. Es ist klar, wer hier die wirklichen Mörder sind.
Warum ist Erdogan so wütend?
Weil seine Angriffspläne am Euphrat stecken geblieben sind. Nach der Besetzung von Minbic hat die SNA das eigentliche Angriffsziel der Türkei ins Blickfeld genommen: Kobane. Zwischen der SNA und Kobane liegt nur noch der Euphrat. Die SNA hat zwei Angriffskeile gebildet. Der nördliche Keil hat das Ziel, die Qereqozaq-Brücke einzunehmen, der südliche Keil richtet sich gegen den Tisrin-Staudamm. Beide Angriffe waren trotz mehrerer Angriffswellen bisher nicht erfolgreich. Deshalb schäumt Erdogan.
Gleichzeitig wird berichtet, dass die Türkei nördlich von Kobane Panzer zusammengezogen hat. Offenbar haben die USA der Türkei bisher aber kein grünes Licht für einen Angriff mit Bodentruppen gegeben. Auch deshalb schäumt Erdo?an. Am 6.Januar hat er noch einmal mit einem Angriff gedroht.
Solidarität ist nötig!
Der Kampf um Kobane ist der Kampf um Rojava. Es ist der Kampf um ein Gesellschaftssystem, das weltweit einzigartig ist; ein System, das auf den drei Säulen Feminismus, Ökologie und Basisdemokratie ruht; ein System, das keine separatistischen Ziele verfolgt, sondern nach kultureller Autonomie innerhalb beliebiger staatlicher Grenzen strebt.
Es ist ein System, das beweist, dass entschlossener Kampf und die Achtung von Menschenrechten kein Gegensatz sind, sondern sich wechselseitig stärken.
Wir müssen informieren. Wir müssen demonstrieren. Wir müssen uns daran erinnern, dass es auch vor zehn Jahren möglich war, eine erfolgreiche Solidaritätsbewegung für Kobane ins Leben zu rufen.
Ein tolles Beispiel war die Aktion von RiseUp4Rojava am 16.Dezember 2024. Das Brandenburger Tor in Berlin wurde vorübergehend besetzt und ein riesiges Banner aufgespannt: »Für Demokratie in Syrien – Rojava verteidigen!«
[1] https://hawarnews.com/en/scenes-of-horrific-crime-committed-by-turkish-occupation-army-in-manbij-hospital
[2] www.syriahr.com/en/351099/
[3] https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/stoppt-den-turkisch-dschihadistischen-feldzug-in-rojava-44599
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