Moralisierung der Kultur oder Mittel im Kampf gegen Diskriminierung?
von Marina Hoffmann
Wokeness steht im Englischen für Aufmerksamkeit und Wachsamkeit. Es ist ein Wort, dass wie kaum ein anderes in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten war.
Kritiker:innen von »wokeness« bemängeln eine vorschreibende Moralisierung der Kultur. Etwa: »Du sollst kein Fleisch mehr essen, weil es schlecht für Tier und Natur ist«; »Du sollst gendergerechte Sprache verwenden, weil es mehr als zwei Geschlechter gibt«; »Du sollst kein Winnetou mehr lesen, weil es rassistisch geschrieben ist«. Tatsächlich war schon vor knapp neunzig Jahren »wokeness« ein Mittel im Kampf gegen Diskriminierung.
»Stay woke« fordert der Blues-Sänger Huddie Ledbetter alias Lead Belly 1938 in seinem Lied Scottsboro Boys, benannt nach acht jugendlichen Schwarzen, die 1931 im US-Bundesstaat Alabama zu Unrecht zum Tode verurteilt worden waren. Der Fall löste damals eine internationale Solidaritätswelle aus, die auch die deutschen Städte Berlin, Köln, Hamburg und Dresden erreichte. Im Lied fordert Lead Belly dazu auf, Rassismus zu erkennen, achtsam zu bleiben, »Stay woke« eben.
2008 erfährt der Begriff durch das Lied »Master Teacher« von Erykah Badu eine Renaissance. 2012 äußert die Sängerin Solidarität mit der russischen Aktivist:innen-Gruppe Pussy Riot. Sie ermahnt ihre Follower: »Stay woke« und öffnet den Begriff damit für eine allgemeinere Verwendung als Hinweis auf Unterdrückung und Staatsgewalt. Ein Jahr später nutzt die Black-Lives-Matter-Bewegung woke als aktivistischen Kampfbegriff.
Inzwischen ist das Wort im Internet angekommen und vor allem negativ besetzt. Heutzutage nennt sich niemand mehr selbst woke, denn wokes Denken ist längst zu einem Feindbild geworden, das vor allem von Rechten bedient wird.
In ihrem Artikel »Kulturkämpfe kann man nicht gewinnen« analysiert Astrid Zimmermann in der Zeitschrift Jacobin den Zusammenhang von Identitätspolitik und Neoliberalismus Anfang dieses Jahrhunderts. Programme wie die Agenda 2010 öffneten den Arbeitsmarkt für mehr Frauen und Migrant:innen. Damit verschärfte sich die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, was angesichts mangelnder Tarifverträge schließlich zu Niedriglöhnen vor allem im gering qualifizierten Dienstleistungsbereich führte. 2018 war Deutschland auf Platz sechs der EU-Länder mit dem größten Niedriglohnsektor. Das Problem waren nicht die vielen Liberalisierungen in der Kultur – etwa Frauenquoten oder die gleichgeschlechtliche Ehe, wie Rechte gerne behaupten, sondern die fehlende soziale und tarifliche Absicherung.
Feindbilder
Mit ihren Phantasien von »Leitkultur« (CDU/CSU) und »Deutscher Kultur« (AfD) können sich diese Parteien als Vertreterinnen der »normalen Leute« inszenieren, indem sie der Wokeness den Kampf ansagen und die Hetze gegen marginalisierte Menschen mit den Absturzängsten ihrer Zielgruppen verknüpfen. Dadurch findet eine gesamtgesellschaftliche Diskursverschiebung nach rechts statt. Hitlergrüße werden wieder geduldet und mit Autismus entschuldigt – siehe Musk.
Medienereignisse münden in »Moralpaniken«, die Gruppen als fremd und bedrohlich und deshalb als Gefahr für die moralische Ordnung darstellen. Auf beinahe jeden Amoklauf wird mit der Forderung nach massenhafter Abschiebung und nach geschlossenen Grenzen geantwortet. Kaum jemand stellt sich die Frage, wie genau das umgesetzt werden soll und ob das die Probleme wirklich löst. Dass es auch deutsche Amokläufer gibt, die häufig rassistisch motiviert sind, wird dabei völlig ausgeblendet. Es geht darum, Gefühle der kulturellen Entfremdung zu erzeugen und Feindbilder zu kreieren.
Die Woke-Bewegung als Phänomen der 2010er Jahre hat tatsächlich vor allem Symptome bekämpft. Das zeigt z.B. der Diskurs über kulturelle Aneignung in bezug auf Karnevalskostüme oder Frisuren – wie den Dreadlocks. Gleichzeitig haben sich die systemische und die ökonomische Ungleichheit durch die neoliberale Politik weiter verschärft.
Dennoch gibt es keine linke, sondern vor allem eine rechte Offensive. Die gesellschaftlichen Spaltungslinien verlaufen nicht mehr an Klassengrenzen, sondern an identitätspolitischen. Das ist das eigentliche Problem – gerade für marginalisierte Gruppen, die nicht ins traditionelle Bild passen.
Dabei nutzt die Rechte selbst eine deklarative, vorschreibende Moral, wie sie es Woken ständig vorwirft: »Du gehörst nur dazu, wenn du mit uns trinkst!«, »Du sollst dein Land lieben und stark sein, um es zu verteidigen«, »Du sollst Angst vor anderen haben und sie hassen«.
Woke stand einmal für Aufmerksamkeit und politische Teilhabe und hat sich zu einem Feindbild für Leute entwickelt, die sich nicht gerne etwas sagen lassen wollen. Zumindest diesen Punkt kann ich nachvollziehen.
Ich bin vegan und ich gendere inklusiv, weil ich es für richtig halte, das hört mensch auch. Mehr aber auch nicht. Ich schreibe niemandem vor, es mir nachzumachen. Im Gegenteil schätze ich die Pluralität und bin auch immer bereit für Diskussionen, um Spaltungslinien zu verschieben und vielleicht sogar zu kitten.
Kritik an deklarativer Moral ist gerechtfertigt. So wie ich andere mit meinen Moralvorstellungen in Ruhe lasse, fordere ich das auch umgekehrt. Um die Aufmerksamkeit wieder auf sozialen Fortschritt und Gerechtigkeit zu wenden, sollten wir als Linke kritisch bleiben, laut werden, und vor allem wieder klassenkämpferisch statt moralisch argumentieren.
Die 24jährige Autorin bezeichnet sich als links, transfeminin, pansexuell. Einige würden sie als woke bezeichnen.
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