Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Ein Teil der Zeitenwende
von Jakob Schäfer

Als die USA 2002 den ABM-Vertrag mit Russland kündigten, war dies der Beginn einer neuen Offensivstrategie der USA. Es wurden neue Waffensysteme entwickelt, die seitdem die Kapazitäten der US-Kriegführung deutlich gesteigert haben.

Der ABM-Vertrag von 1972 war der wichtigste Rüstungskontrollvertrag zwischen den USA und der Sowjetunion. Damit wurde zwar das Wettrüsten nicht gestoppt, aber bei der Produktion weitreichender Waffen und vor allem bei der Herstellung von Angriffsfähigkeit ohne Risiko eines Gegenschlags blieb eine gewisses »Gleichgewicht« erhalten.
Mit dieser Lage hat sich der Westen nie wirklich zufriedengegeben. Schon mit dem sog. NATO-Doppelbeschluss von 1979 sollte die Sowjetunion erpressbar gemacht werden, mindestens aber das Wettrüsten so gesteigert werden, dass dies die wirtschaftlichen Fähigkeiten der UdSSR überforderte, was ja dann auch tatsächlich einer der wesentlichen Gründe für den Zusammenbruch des Ostblocks war. Die Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses, also die Stationierung von angriffsfähigen Mittelstreckenraketen (Pershing II und Cruise Missile) in Deutschland wurde Anfang der 80er Jahre durch eine breite Massenbewegung verhindert.

Erstschlagfähigkeit
Mit dem gemeinsamen Beschluss von US-Regierung und deutscher Bundesregierung vom 10. Juli 2024 wurde allerdings eine neue Qualität erreicht: Außerhalb der NATO-Strukturen, ohne Beteiligung des Bundestags oder gar einer breiten Debatte in der Bevölkerung wurde die Stationierung von drei Typen weitreichender Waffensysteme (Long Range Fires – LRF) in Deutschland beschlossen: Standardraketen SM6 (Reichweite 500 Kilometer), Marschflugkörper Tomahawk (1700 Kilometer) und ballistische Hyperschallraketen (HLRW) Dark Eagle (3000 Kilometer). Im Gegensatz zu 1979 wurde jetzt mit Russland gar nicht erst verhandelt.
Dark Eagle fliegt mit siebzehnfacher Schallgeschwindigkeit. Sie erreicht in 10 Minuten Moskau und in 15 Minuten den Ural. Es bleibt also keine Zeit, Missverständnisse auszuräumen oder einen Gegenschlag vorzubereiten. Diese LRF haben deshalb nicht nur eine sichere Eindringungsfähigkeit in das gegnerische Territorium, sie verfügen auch über eine hohe Präzision und eine gewaltige Durchschlagskraft. Damit können die USA die russischen Raketenstellungen und auch das politische Entscheidungszentrum ausschalten, noch bevor die Gegenseite die erste Rakete startet. Sollten doch welche gestartet werden können, will man sie mit dem eigenen Raketenabwehrschirm ausschalten.
Somit sind diese landgestützten weitreichenden und schnell fliegenden Raketen unzweideutig Erstschlagwaffen. Sie haben nichts mit Verteidigung zu tun, ihre Aufgabe ist nicht, gegnerische Raketen abzufangen. Im Unterschied zu Raketen oder Marschflugkörpern, die von Flugzeugen aus abgeschossen werden, können sie ohne erkennbare Vorbereitung gestartet werden. Mindestens soll damit die Gegenseite erpressbar gemacht werden, denn die »Mutual Assured Destruction« (also die sichere Zerstörung auch der eigenen Seite, falls man einen Krieg anfängt) ist mit diesen Waffen außer Kraft gesetzt.

Im Krisenfall ist Deutschland das Erstziel
Diese seit Jahren sich vollziehende Entwicklung hat Russland auf zweifache Weise beantwortet: Es entwickelt ebenfalls Mittelstrecken-Hyperschallraketen, so die schon im Ukrainekrieg einmal eingesetzte Oresch­nik. Das ist eine auf Mittelstrecken zurechtgeschnittene Interkontinentalrakete (Reichweite offiziell 1000–3000 Kilometer) und soll jetzt in Serie produziert werden. Putin begründet den Oreschnik-Angriff auf die Waffenfabriken in Dnipro mit dem Einsatz amerikanischer und britischer Mittelstreckenwaffen im Ukrainekrieg und mit dem o.g. Abkommen vom 10. Juli 2024.
Und: der Kreml hat mit Beschluss vom 19. November 2024 seine Nukleardoktrin geändert, mit dem Ziel, auf eine nichtnukleare Bedrohung, die sich gegen ihre eigenen Raketenbestände richtet, gegebenenfalls mit dem Einsatz »taktischer« Atomwaffen zu reagieren.
Mit dem Beschluss vom 10. Juli 2024 wurde nicht nur festgelegt, dass diese Waffen ab 2026 in Deutschland stationiert werden – im Februar 2026 läuft der letzte Rüstungskontrollvertrag aus –, sondern auch dass sie von Wiesbaden aus kommandiert werden. Schon 2021 (also noch vor dem Ukrainekrieg) wurde dort eine Multi-Domain Task Force (MDTF) eingerichtet (die Vorbereitungen begannen 2017). Es ist die zweite von insgesamt fünf MDTF (drei wurden in Ostasien und im Pazifikraum installiert). In Wiesbaden ist sie in der Clay-Kaserne untergebracht und wird unterstützt vom 56. Artilleriekommando in Mainz-Kastel (einem Stadtteil Wiesbadens). Zum erstenmal seit 1991 werden damit die europäischen Teile Russlands von Deutschland aus bedroht.
Aus all diesen Gründen hat sich im Herbst 2024 in Wiesbaden ein Bündnis gegen die Raketenstationierung gegründet und ist bisher mit Infoständen, einer gut besuchten Saalveranstaltung, Pressemitteilungen und Fragen an die Bundestagskandi­dat:innen aufgetreten. Außerdem ruft das Bündnis zusammen mit anderen Friedensinitiativen zu einer bundesweiten Demo in Wiesbaden am 29. März auf.*

Kriegstüchtig – wofür?
Wir sollten uns aber auch fragen, was denn die konkrete Rolle und das Ziel der deutschen Regierung ist.
Milliarden für die Rüstungsindustrie: Noch ist nicht klar, wie hoch die neuen Rüstungsaufträge sein werden, aber sie werden Dutzende Milliarden Euro verschlingen. Statt die Rüstungsindustrie umzubauen in zivile Produktion, können sich Rheinmetall und andere über neue Aufträge freuen.
Größere Bundeswehr: Für die Herstellung der Kriegstüchtigkeit und den Einsatz all des neu bestellten Kriegsgeräts braucht es mehr Soldat:innen. Bisher schon gibt es zu wenige, deshalb denken mehr und mehr Politiker:innen der bürgerlichen Parteien über die Wiedereinführung der Wehpflicht nach. Es geht darum, etwa 40.000 zusätzlichen Soldat:innen zu gewinnen, die man auf freiwilliger Basis zurzeit nicht bekommt. Sollte es dazu kommen, wird sich die Zusammensetzung der Bundeswehr nicht grundlegend ändern. Zu groß ist die Bedeutung der Zeit- und Berufssoldat:innen für die Handhabung der aufwändigen technischen Geräte. Die zusätzlichen Wehrpflichtigen können den Gesamtcharakter nicht ändern. Die Bundeswehr schreibt richtig auf ihrer Website: »Die Berufssoldaten bilden den Kern der Streitkräfte.« Die aktuellen Zahlen: 57.813 Berufssoldaten; Zeitsoldaten: 113.019; freiwillige Wehrdienstleistende: 10.119.
Unter den Bedingungen der Funktionsweise einer modernen kapitalistischen Armee (lange Ausbildungszeiten an komplizierten Waffensystemen) und angesichts der Personalstruktur kann niemand damit rechnen, dass 40.000 zusätzliche Wehrdienstleistende den Charakter der Armee wesentlich ändern würden und dass sie dann nennenswert schlechter für den Einsatz im Inneren (also zur Unterdrückung von Streiks) zu verwenden wäre.
Schon allein deswegen wäre es verkehrt, sich in der anlaufenden Debatte für die Wiedereinführung der Wehrpflicht einzusetzen, zumal die Bundeswehr ja erklärtermaßen nur diejenigen nehmen würde, die ihr mit ihrer vermuteten politischen Einstellung als geeignet erscheinen.
Ein allgemeines Pflichtjahr müssen wir aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnen, denn es würde nur dazu führen, dass die Löhne – vor allem in der Pflege – weiter niedrig gehalten werden.

Der Plan dahinter
Die Herrschenden hierzulande wollen an der Sicherung der geopolitischen Interessen des Westens mitwirken, auch was den Ausgang des Ukrainekriegs angeht. Beim Ausplündern der Ukraine will auch die deutsche Bourgeoisie beteiligt werden. Hinzu kommt, dass einige EU-Regierungen eigene Soldaten »zur Friedenssicherung« in die Ukraine schicken wollen. Die EU (und Deutschland) wollen auf den fahrenden Zug der »Friedensgespräche« aufspringen, um sich als ein geopolitischer Player zu behaupten.
Schließlich hat man jahrelang beschworen, man werde die Ukraine nicht allein lassen. Faktisch wird es, wenn überhaupt, ein Diktatfrieden sein, der einmal mehr den Charakter des Krieges unterstreicht, der spätestens seit der Verhinderung des Waffenstillstands durch die USA und Großbritannien Ende März 2022 vor allem ein Stellvertreterkrieg ist.
Dazu braucht es jedoch ein gewaltiges Aufrüstungsprogramm. Der Gesamtwehretat der EU-Staaten ist von 2022 auf 2023 bereits um 6 Prozent auf 240 Milliarden Euro gestiegen. Jetzt sollen im Verlauf von wenigen Jahren 800 Milliarden dazukommen. In Deutschland soll der Verteidigungsetat (Einzelplan 14 ohne das »Sondervermögen«) bis 2028 von heute 53 Milliarden auf 80 Milliarden Euro steigen.
Für die gewaltige Aufrüstung spielt aber auch der neue Militärkeynesianismus eine nicht unbedeutende Rolle. In Zeiten niedrigen Wirtschaftswachstums soll mit antizyklischen Staatsausgaben die allgemeine Konjunktur angekurbelt werden. Dies wird selten offen ausgesprochen, ermöglicht aber einem Bündnis aus Rüstungsindustrie, Bundeswehrspitze und Politiker:innen, in der BRD eine hegemoniale Position zu erlangen.
Mit der Demo am 29. März in Wiesbaden geht es also nicht nur um die gefahrvolle Stationierung von neuen Raketen in Deutschland. Es geht um die gesamte Rüstungspolitik und die anhaltende Militarisierung. Deshalb:

– Abrüstung sofort. Kampf für den Austritt aus der NATO.
– Ein entschiedenes Nein zur Wiedereinführung der Wehrpflicht.
– Die Abschaffung der Bundeswehr muss das langfristige Ziel sei.
– Breite Kampagnen für den Umbau der Rüstungsindustrie zur Produktion von gesellschaftlich nützlichen Gütern.

*Details unter: www.wiesbadener-buendnis.de

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