Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Kriegshysterie, Aufrüstung und das Dogma der Beschleunigung
von Christoph Marischka

Die Rüstungsindustrie wird mit Geld überschüttet. Das verschafft dubiosen Unternehmern sagenhafte Geschäftsmöglichkeiten. Aber entscheiden sich Kriege wirklich an der technologischen Überlegenheit?

Im März wurden in der EU und in Deutschland Rüstungsausgaben von der Schuldenbremse ausgenommen. Sagenhafte 800 Milliarden Euro will die EU mobilisieren. Die vom bereits abgewählten deutschen Bundestag beschlossene Grundgesetzänderung ermöglicht letztlich unbegrenzte Kriegskredite.
Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt wurde dagegen ein Weißbuch, das die EU unmittelbar nach dieser Entscheidung veröffentlichte. Nach Stil und Inhalt könnte dieses angebliche Strategiepapier von einer europäischen Lobbyorganisation der Rüstungsindustrie stammen. Deren Interessen treten an die Stelle einer militärischen Strategie. Die Hersteller wittern Morgenluft – nicht nur, weil ihre Aktienkurse und Profite steigen, sondern auch weil sie ein neues Image und mehr politischen Einfluss bekommen.

Der »Drohnenwall«
Dies gilt nicht nur für alte Granden wie den Rheinmetall-Vorstandsvorsitzenden Armin Papperger. Ein neuer Managertypus tritt betont »disruptiv« auf, als »CEO eines Rüstungs-Startups«. Repräsentiert wird er von Grundbert Scherf, einem ehemaligen Mitarbeiter von McKinsey. Katrin Suder, im selben Unternehmen eine Kollegin von Scherf und die zentrale Figur in der »Berateraffäre«, holte ihn 2014 ins Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), wo er für den Aufbau des neuen Organisationsbereichs »Cyber- und Informationsraum« zuständig war. 2021 gründete er das Startup Helsing. Bereits Mitte 2023 erhielt die Firma den Auftrag, die KI für den »elektronischen Kampf« im Eurofighter zu liefern.
Nach eigenen Angaben hat Helsing bis 2025 4000 Kampfdrohnen für die Ukraine produziert. In Süddeutschland wurde eine erste »Resilience Factory« mit einer Kapazität von 1000 Drohnen pro Monat in Betrieb genommen. Dort wird wohl die Kampfdrohne HX-2 hergestellt, eine Kamikazedrohne mit bis zu 100 Kilometern Reichweite. Angeblich kann sie in Schwärmen operieren und durch KI weitgehend unabhängig von menschlicher Steuerung agieren.
Unmittelbar nach der Zustimmung des Bundesrats zur Aufhebung der Schuldengrenze für Rüstungsausgaben wandte sich Scherf mit dem Vorschlag an die Presse, an der »NATO-Ostflanke« einen »Drohnenwall« aufzubauen, der aus »zehntausende[n] Kampfdrohnen« bestehen solle. In einem Interview mit N-TV behauptete er, dieser Drohnenwall ließe sich innerhalb eines Jahres errichten.
Wenig später sprang Florian Seibel, der CEO von Quantum Systems, auf den Zug auf. Das Startup hatte zunächst zivile Drohnen entwickelt, dann das Pentagon als Kunden gewonnen und sehr schnell nach dem russischen Einmarsch Drohnen ans ukrainische Militär geliefert. »Es ist ein Auftrag, eingefädelt über den ukrainischen Konsul in München, bestellt und bezahlt von ukrainischen Oligarchen, genehmigt von deutschen Behörden«, berichtete das ZDF Anfang Mai 2022.
Im April 2023 porträtierte Wirtschaftsmagazin Forbes Seibel als »Mann für die Zeitenwende« und berichtet vom »Pitch seines Lebens«. Es fand kurz vor Weihnachten statt, »in einem Luxusanwesen in Beverly Hills«, nämlich bei Peter Thiel, dem ultrarechten Risikoinvestor und Gründer von Palantir: »[Seibel] beschreibt seine Vision von autonomen Flugrobotern, die Kriegsgebiete, Grenzen und Metropolen observieren und überwachen, natürlich vollautomatisch, verschlüsselt und in HD. Seibels Gastgeber hört gespannt zu, macht Notizen – und scheint hochzufrieden.«

Kurze Beschaffungswege
Der Begriff »Drohnenwall« etablierte sich schnell. Das Handelsblatt zitierte am 31. März Martin Karkour, den Vertriebschef von Quantum Systems: »Ich halte es für möglich, dass ein Drohnenwall innerhalb eines Jahres steht, wenn alle Seiten an einem Strang ziehen und es eine Koordinationsstelle in der EU gibt.« Die Firma sei in der Lage, die Produktion »innerhalb kürzester Zeit zu verdoppeln und binnen zwölf Monaten zu vervierfachen.« Neben Quantum und Helsing wird auch Airbus als zentraler Zulieferer des Drohnenwalls genannt.
Vier Tage später machte die Meldung von einem »Kurswechsel« im Verteidigungsministerium die Runde. »Endlich bewaffnete Drohnen für die Bundeswehr«, titelten FAZ und andere deutsche Leitmedien. Nahezu durchgehend wurde in den Beiträgen ein »Rückstand« der Bundeswehr konstatiert – und die Frage ignoriert, wie nach vermeintlich »endlosen Diskussionen« (Focus online) eine solche Entscheidung ohne parlamentarische Beteiligung während laufender Koalitionsverhandlungen durch das Ministerium in Eigenregie getroffen werden konnte, sodass »Verträge … in den nächsten Tagen unterzeichnet« werden könnten (Tagesschau).
Eine Art Antwort darauf lieferte wenige Tage später – die Koalitionsverhandlungen waren immer noch nicht beendet – der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, in einem Gespräch mit dpa: »Wir wollen noch in diesem Jahr mit Loitering Munition [Militärsprech für Kamikazedrohnen] in der Truppe schießen. Auch hier setzen wir auf maximale Beschleunigung, weil wir es ob der Bedrohungslage müssen.«

Maximale Beschleunigung
Die Diskussion über den Drohnenwall gibt einen Vorgeschmack darauf, wie sich das Verhältnis zwischen neuer und alter Rüstungsindustrie, Bundeswehr, Politik und Strategie zukünftig gestalten dürfte.
»Gemeinsam. Mutig. Schneller.«, so überschrieb Brigadegeneral Armin Fleischmann seinen Leitartikel für das Ausstellungsheft zur Messe des Rüstungsverbands AFCEA 2023 mit dem Motto »(Künstliche) Intelligenz & Innovationen – Konkrete Nutzungsmöglichkeiten«. Gundbert Scherf hielt dort einen Impulsvortrag »zur aktuellen Lage in der Ukraine«. Unter dem Schlagwort KI und vor dem Hintergrund der Hysterie um einen vermeintlich bevorstehenden russischen Angriff auf die NATO oder gar Berlin fusionieren die alte und die neue Rüstungsindustrie.
In einem Bericht von N-TV wird Scherf folgendermaßen zitiert: »Ich glaube nicht, dass unsere Demokratien einen Abnutzungskrieg, der viele Menschenleben kostet, führen können oder wollen … Wir sind wirklich darauf angewiesen, diese asymmetrischen, technologischen Fähigkeiten zu haben.«
Vor allem die außenpolitische Strategie der USA ist bereits seit Jahrzehnten von überzogenen Erwartungen an die technologische Überlegenheit der eigenen Streitkräfte geprägt (in der Strategiedebatte als Revolution in Military Affairs bezeichnet). Diese ermöglichte tatsächlich einen schnellen Sieg über den Irak im Jahr 2003, der sich jedoch später als strategische Niederlage entpuppte. Auch die zwei Jahrzehnte währende Intervention in Afghanistan war von der Vorstellung geprägt, mit begrenztem Kräfteeinsatz und entgrenzten Einsätzen bewaffneter Drohnen ein Land zu kontrollieren – aus dem man letztlich gedemütigt abziehen musste.
Autonome, »asymmetrische« Technologien gelten dieser Denkschule als der einzige Weg zur Aufrechterhaltung der westlichen Dominanz. In der Ukraine zeigt sich allerdings, dass trotz aller technologischen Hilfe aus dem Ausland und Innovationsfähigkeit vor Ort letztlich die Masse und die Rekrutierungspotentiale über Sieg und Niederlage entscheiden. Genau das ist die große Leerstelle, auch in dem neuen Weißbuch der EU. Es blendet völlig die Frage aus, wer diese Waffensysteme in welchen Kriegen bedienen und bei deren Bedienung sterben soll.

Im Krieg sterben Menschen
Obwohl empirisch widerlegt, hält diese Ideologie im Kontext von KI und autonomen Waffensystemen in Deutschland Einzug. 2021 begründete der damalige Generalinspekteur des Heeres, Alfons Mais, gegenüber dem Handelsblatt die Notwendigkeit, »auch bei klassischen militärischen Problemen jetzt mit Start-ups zusammen[zu]arbeiten und Industrie und Truppe frühzeitig zusammenzubringen« mit folgendem irrwitzigen Szenario: »Wollen Sie sich junge Menschen Europas vorstellen, die zum Beispiel gegen chinesische Roboter kämpfen müssen?«
Die Protagonisten der alten wie der neuen Rüstungsindustrie versprechen, die Erkenntnisse aus den aktuellen Kriegen umzusetzen. Sie blenden aber aus, dass der zunehmende Einsatz von KI und autonomen Waffensystemen weder den Anteil ziviler Opfer gesenkt hat, noch das letztlich entscheidende Verhältnis militärischer Opfer der Konfliktparteien grundlegend verändert hat.
Drohnen mögen Artilleriegranaten zunehmend ersetzen – tatsächlich kommen beide in der Ukraine in ähnlichen Größenordnungen zum Einsatz. Getötet werden aber weiterhin Menschen.
Das Dogma der Beschleunigung, verbunden mit der disruptiven Ideologie der Künstlichen Intelligenz, dient einem anderen Zweck: der hemmungslosen Bereicherung und der Aushebelung von Kontrolle. Allein der Umfang der Rüstungsprogramme und die Komplexität der Waffensysteme wird die parlamentarisch bestimmten Gremien schlicht überfordern.
Die von Helsing an die Ukraine gelieferten Drohnen sind dafür ein Beispiel. Bloomberg berichtete am 8. April 2025, sie seien überteuert und blieben weit hinter den Erwartungen zurück. Nebenbei erfahren wir, dass die anscheinend fehlerhafte Software etwa wöchentlich aktualisiert werde. Ob sich bei einer solchen Waffentechnik das Verhältnis zwischen menschlicher Kontrolle und technischer Autonomie verschiebt, wird überhaupt nicht mehr nachvollziehbar sein.
Zehntausende Kamikazedrohnen an der NATO-Ostflanke mit einem fehlerhaften Update? Diese Vorstellung sollte dazu beitragen, sich vom Dogma der Beschleunigung zu verabschieden, insbesondere wenn der Drohnenwall – wie von der Industrie gewünscht – noch in diesem Jahr errichtet werden soll.

Der Autor ist aktiv bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) und Autor von Cyber Valley – Unfall des Wissens. Künstliche Intelligenz und ihre Produktionsbedingungen. Köln: Papyrossa, 2019.

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