›Nichts ist fix‹
von David Stein
Papier ist geduldig. Diese Einschätzung sollte ausdrücklich auch für Koalitionsverträge gelten. Leider ist dies nicht so.
Obwohl ein Koalitionsvertrag – anders als jeder stinknormale schuldrechtliche Vertrag – keinerlei Bindungswirkung erzeugt und lediglich Absichtserklärungen einer kommenden Regierung zu Papier bringt, wird ihm im politischen Geschäft – auch im Frühjahr 2025 – zumindest zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung eine Bedeutung zugeschrieben, die er im wirklichen Leben nicht haben kann. Er formuliert nur Ziele einer kommenden Regierung, die von heute auf morgen kassiert oder durch die Realitäten über den Haufen geworfen werden können. Nicht mehr und nicht weniger.
Interpreten des Koalitionsvertrags einschließlich der sog. Wirtschaftsweisen, Lobbyisten und Oppositionsparteien ließen sich bei ihren Bewertungen nicht einmal von der Präambel abschrecken. Dort ist schwarz auf weiß zu lesen, dass jeder einzelne Punkt der getroffenen Vereinbarungen unter Finanzierungsvorbehalt steht.
Kaum drei Tage nach seiner Veröffentlichung ging der Streit zwischen den zukünftigen Koalitionären über den Inhalt einzelner getroffener Vereinbarungen schon los, etwa über die Anhebung des Mindestlohns. »Nichts ist fix«, ließ der designierte Kanzler Merz hierzu verlauten. Die Vagheit und Wolkigkeit einzelner Passagen des Vertrags erleichtert ihm eine solche Haltung.
Die Interpreten sind sich alle einig, dass im Koalitionsvertrag nur am Rande etwas von einer »Zeitenwende« und »Aufbruch« zu spüren ist. Dies hat maßgeblich damit etwas zu tun (was völlig unbekannt zu sein scheint), dass der Inhalt des Vertrags (wie bei früheren Koalitionsverträgen auch) im wesentlichen auf den aus den Ministerien angeforderten Zulieferungen beruht und nicht etwa auf strategische Ausrichtungen und Konzepten von CDU/CSU und SPD. Die Vorschläge der Ministerien werden aneinandergereiht, in einzelnen Arbeitsgruppen auf einen Konsens zwischen den Koalitionären mehrfach abgeklopft und dann von den Verhandlungsführern abgesegnet. Dass bei diesem Verfahren »keine Utopie« in den Vertragsinhalt einfließt, was die grüne Bundestagsabgeordnete Ricarda Lang bemängelt, liegt auf der Hand.
Darauf könnte auch ohne Not verzichtet werden. Wählerinnen und Wähler, die mit der AfD liebäugeln, ließen sich durch diese Prosa nicht bewegen, der Partei den Rücken zu kehren.
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