Die PKK beendet die Methode des bewaffneten Kampfes und löst ihre organisatorischen Strukturen auf
von Holger Deilke
Für jeweils kurze Zeit gab es ein Zeitfenster, in denen die Medien in Deutschland (und anderswo auf der Welt) ihr Augenmerk auf einen möglichen Friedensprozess in der Türkei richteten: Abdullah Öcalan – Reber (kurdisch für »Vordenker«) der kurdischen Befreiungsbewegung und mithin auch der PKK – gab am 27. Februar eine Erklärung ab, in der die Orientierung weg vom bewaffneten Kampf hin zur Stärkung und Mobilisierung der Zivilgesellschaft und ihrer Strukturen verbunden wurde mit der Aufforderung, die PKK und ihre bewaffneten Formationen (HPG – Volksverteidigungskräfte) aufzulösen.
Und ein zweites Mal am 12. Mai 2025, nachdem die PKK ihren Kongress in den Qandil-Bergen durchgeführt und die Auflösung ihrer organisatorischen Strukturen und das Ende der Methode des bewaffneten Kampfes als zentrales Element des Befreiungsprozesses verkündet hatte.
Natürlich unter Vorbehalt: »Wenn von innerem Frieden gesprochen wird, muss der Staat seine Feindseligkeit beenden«, formulierte Murat Karayilan, ZK-Mitglied der PKK, zur Erläuterung. »Die bestehenden Gesetze sind Gesetze der Feindschaft – sie leugnen das kurdische Volk. Wir brauchen rechtliche und gesetzliche Veränderungen, um die Entwaffnung zu realisieren. Ohne rechtliche Rahmenbedingungen und eine neue politische Mentalität ist eine reale Umsetzung nicht umsetzbar … Es braucht einen echten Wandel (in der Türkei). Wenn sie den Krieg fortsetzen wollen, sollen sie wissen: Sie können uns nicht besiegen.«
Die Frauen sind der Motor
Die Einschätzung, dass »die PKK ihre historische Mission erfüllt hat« und ihr Fortbestehen einer emanzipatorischen Entwicklung im Weg stehen kann, ist Ergebnis einer Betrachtung der Parteigeschichte sowie der gesellschaftlichen Kämpfe in allen Teilen Kurdistans und der angrenzenden Länder. Und sie ist ein Ergebnis vielfältiger Kommunikation und Diskussionen.
Bevor Abdullah Öcalan Ende Februar mit dem »Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft« an die Öffentlichkeit ging, gab es einen intensiven Briefwechsel mit verschiedenen Teilen der Bewegung, vor allem der Frauenbewegung. Daraus ist die endgültige Fassung des Aufrufs zur Beendigung des bewaffneten Kampfes hervorgegangen. Anschließend äußerten sich Sprecherinnen und Sprecher verschiedener Organisationen und gesellschaftlicher Gruppen aus verschiedenen Teilen Kurdistans, die alle die Gedanken dahinter begrüßten und vor allem die Türkei aufforderten, Schritte zu unternehmen, die diesen Friedensprozess ermöglichen. Das Oberkommando der Volksverteidigungseinheiten in Nord- und Ostsyrien (QSD) betonte, diese seien von der Aufforderung nicht betroffen. Sie halten weiter an ihrer Selbstverteidigung gegen die Angriffe der türkischen Armee und ihrer jihadistischen Söldnertruppen fest und haben mit den Interimsmachthabern in Damaskus eine Absichtserklärung unterzeichnet, sich in eine zukünftige syrische Armee einzugliedern – die Rahmenbedingungen (z.B. der Grad der eigenen Autonomie) dafür müssen noch festgelegt werden.
Ein langer Weg
Vor dem Hintergrund der Parteigeschichte erscheint die Selbstauflösung konsequent. Anfang der 2000er Jahre erklärte die PKK einen Paradigmenwechsel, der die Vorstellung des Aufbaus eines kurdischen sozialistischen Staates hinter sich ließ und, in allergrößter Kürze gesagt, auf die besondere Bedeutung der Frauenbewegung, der Basisdemokratie/des demokratischen Konföderalismus und der Ökologie orientierte. Gesellschaftliche Veränderungen sollten nicht mehr durch die bewaffneten Einheiten durchgesetzt werden, sondern durch zivilgesellschaftliche Mobilisierungen. Die bewaffneten Kräfte sollten nur noch Defensivkraft sein. Das Ziel war die reale Demokratisierung der Gesellschaft, nicht des Staates.
Letztlich ist das Fundament dieser Entwicklung die Errichtung eigenständiger bewaffneter Fraueneinheiten im Rahmen der Befreiungsbewegung ab 1993. Einmal etabliert, setzte sich der Frauenbefreiungsgedanke, die zunehmend feministische Ausrichtung der Partei ideologisch und praktisch stetig weiter fort. Die Frauen ließen sich nicht mehr entwaffnen, weder materiell noch ideologisch. Im Gegenteil: Durch die Stärke der Frauenbewegung konnte die drohende Spaltung nach der Entführung Öcalans am 15. Februar1999 abgewehrt und die Neuausrichtung der Partei eingeleitet werden.
In diesem Zusammenhang hatte sich die PKK 2002 schon einmal aufgelöst, um die verschiedenen Teile der Befreiungsbewegung eigenständiger zu machen. Das war aber offensichtlich noch zu früh, die Potenziale der einzelnen Bewegungsteile noch nicht ausgereift genug, die starke, ordnende Kraft im Hintergrund schien noch notwendig. Die Partei hatte sich noch nicht überflüssig gemacht und gründete sich neu.
Mit ihrer Organisierung und ihren stetigen Anstrengungen hat die PKK dafür gesorgt, dass die sogenannte »kurdische Frage« in der Welt bekannt geworden ist und die kurdische Bevölkerung selbstbewusst ihre Stimme erhebt und behauptet.
Auf eigenen Füßen stehen
Die PKK ist nun mit Abdullah Öcalan offensichtlich der Meinung, dass die Bewegung und die angesprochenen Teile der Gesellschaft in der Türkei die Partei nicht mehr benötigen, um sich weiterzuentwickeln und die notwendigen demokratisierenden Prozesse in der Türkei durchzusetzen.
So eine starke Organisation im Hintergrund kann ja auch blockierend wirken: Für viele Menschen in den Stadtvierteln in der Türkei, in den Vereinen der Diaspora ist es sicherlich verlockend, auf die Stärke und Organisationsfähigkeit »der Partei« zu vertrauen und nicht selbst an die Organisierung zur Lösung der konkreten Probleme zu gehen.
»Wir sind überzeugt, dass unser Volk die Entscheidung, die PKK aufzulösen und den bewaffneten Kampf zu beenden, besser als jeder andere verstehen und sich den Aufgaben dieser neuen Phase – auf der Grundlage des Aufbaus einer demokratischen Gesellschaft – verantwortungsvoll widmen wird. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass unser Volk – insbesondere unter der Führung von Frauen und Jugendlichen – in allen Lebensbereichen eigene Strukturen aufbaut, sich auf Grundlage seiner Sprache, Identität und Kultur selbst organisiert, fähig wird, sich gegen Angriffe zu verteidigen und mit dem Geist der Mobilisierung eine kommunale, demokratische Gesellschaft errichtet.« So heißt es in der Abschlusserklärung des 12. PKK-Kongresses. Damit wird deutlich gemacht, dass die Frage der Selbstverteidigung nicht aus der Hand gegeben wird, sondern in die Hände der gesellschaftlichen Strukturen gelegt wird – einschließlich selbstverständlich der Wahl der Mittel.
Es handelt sich um einen Transformationsprozess, mit dem die Reste (national)staatlichen Denkens über Bord geworfen werden sollen. Ein Prozess, der neue Möglichkeiten erschließen und Türen öffnen kann, der das gesellschaftliche Selbstbewusstsein der unterdrückten, beleidigten und ausgegrenzten Teile der Gesellschaft stärkt. Es gibt natürlich keine Garantie, es ist nicht nur mutig, sondern auch riskant. Es kommt nun darauf an, dass die entstehende Lücke von denjenigen gefüllt wird, die bereits das Potential dazu haben: die Frauenbewegung, die diversen organisierten Teile der Jugend, die »linken und sozialistischen Kräfte der Türkei, revolutionäre Strukturen, Organisationen und Persönlichkeiten … Das würde zugleich bedeuten, die Ziele der großen Revolutionäre zu verwirklichen, deren letzte Worte waren: ,Es lebe die Geschwisterlichkeit der türkischen und kurdischen Völker und eine unabhängige Türkei!«
In den kurdischen Vereinen in Deutschland wird die Entwicklung mit Spannung verfolgt. Niemand weiß ja so richtig, wie es genau weitergeht. Ob und welche gesetzlichen und mentalen Veränderungen von türkischer Seite tatsächlich eingeleitet werden. Was ist mit den Kader:innen, was wird mit ihnen geschehen, wo sollen/können sie leben? Und vieles mehr. Vermutlich wird eine Stärke der Bewegung auch hier wieder greifen: In jeder Veränderung steckt eine Möglichkeit.
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