›Zeitenwende‹ und Kriegsvorbereitung an der Heimatfront
von Jürgen Meier
Mit der »Zeitenwende« und dem Aufruf der Regierung, Deutschland müsse wieder kriegstüchtig werden, kommt der manipulativen Kriegsvorbereitung an der Heimatfront eine besondere Aufgabe zu. Im Ernstfall, so Pistorius, würden junge Frauen und Männer gebraucht, die dieses Land verteidigen können: »Wir müssen durchhaltefähig und aufwuchsfähig sein.«
Aufwuchsfähig soll heißen, dass die Bundeswehr noch an einer zivilen Wehrorganisation und Wehrüberwachung der wehrdienstfähigen Männer ab 18 Jahren arbeiten muss. Da dies einige Zeit dauert, soll, so der Chef des BND, der Krieg in der Ukraine noch bis 2029 geführt werden, dann sei man bereit. Bis dahin soll Deutschland also kriegstüchtig werden. Ohne die Dominanz des destruktiven Heldentypus wird das nicht gelingen.
Der ehemalige Feuilletonchef der Zeit, Jens Jessen, schlussfolgert aus dem politischen Imperativ, dass dafür die Milliardenschulden für die Rüstung nicht ausreichen, »sondern dass es für die Wehrfähigkeit noch etwas anderes als Geld und Waffen braucht: Es braucht die Wertschätzung der Soldaten … Anerkennung und Sympathie – vielleicht sogar Bewunderung.«
Das möge »für manche Ohren obszön klingen«, man müsse es aber »einmal so zuspitzen, damit der emotionale und moralische Preis sichtbar wird, den die militärische Ertüchtigung verlangt …: die höchste denkbare Wertschätzung, die von einer Gemeinschaft für den aufgebracht werden kann, der sich für sie opfert.« Dafür habe es in Deutschlands Vergangenheit »einmal den Begriff des Helden« gegeben.
Denn kriegstüchtig zu sein bedeutet einer Tugend zu folgen. Da eine Tugend nur intrinsisch funktioniert, also nicht auf Befehl und Gehorsam reagiert, muss die Kriegstüchtigkeit von den Menschen verinnerlicht werden. Die Kriegstüchtigkeit will als Tugend alles bekämpfen, was nach Pazifismus, Diplomatie und Völkerfreundschaft mit den Menschen des Feindes riecht. Das braucht Vorbereitung und Zeit.
Ein Bundeskanzler Merz weiß das. Von allen Organisationen, ob sie Attac, Compact, Omas gegen Rechts, Correctiv, Rosa Luxemburg Stiftung, Friedrich Ebert Stiftung, Animal Rights Watch, Heinrich Böll Stiftung oder Foodwatch heißen, fordert seine Partei politische Neutralität. Diese Organisationen und viele andere behindern die Entfaltung einer Ideologie, die immer unverblümter die nationale Gleichschaltung des Denkens fordert. Wer für die Rechte des palästinischen Volkes auf die Straße geht, gefährdet diese Gleichschaltung und wird als Antisemit nicht nur beschimpft, sondern mit Berufs- und Veranstaltungsverbot bedroht.
Dem »Marketingcharakter«, der die Welt bislang allein aus seiner partikularen Nützlichkeitsperspektive betrachtet hat, wird eine neue Perspektive angeboten in der er sich nicht mehr isoliert und einsam gegenüber der Welt im Konkurrenzkampf behaupten muss, sondern in der er sich, ganz ohne Zwang, an einem nationalen Wir orientieren kann, das ihn scheinbar aus seiner Isoliertheit und Einsamkeit erhebt, die mit der ökonomisch immer deutlicher werdenden Krise des Kapitalismus wächst – und mit ihr die Angst der lohnabhängig beschäftigten Marketingcharaktere vor drohendem Arbeitsplatzverlust, Verschuldung und Armut.
Erich Fromm nannte dieses »Wir« eine Erscheinung menschlicher Entfremdung, die er »Gruppennarzissmus« nannte. Der Gruppennarzissmus, so Fromm, »kostet fast nichts, verglichen mit den Sozialausgaben, die nötig wären, den Lebensstandard zu erhöhen. Die Gesellschaft braucht nur die Ideologen [KI-Experten etc., J.M.] zu bezahlen, die Schlagworte formulieren, welche den gesellschaftlichen Narzissmus erzeugen.«
Die Schlacht der Manipulation
Wie retten wir uns aus der Krise?, fragen sich die verängstigten Betroffenen. Mit diesen Fragen beginnt die Schlacht der Manipulation. Die herrschende Ideologie, in politische Gesetze und Entscheidungen der Regierung gehüllt, getragen und vermittelt durch fast alle Medien, weiß von der Gefahr dieser Fragen. Denn die Antworten, könnten zur Kritik am herrschenden ökonomischen System führen. Kritik könnte zur materiellen Gewalt werden, sobald sie die Massen erfasst.
Also muss, wie man zu sagen pflegt, ein manipulatives »Narrativ« her. Das erklärt: Der Russe ist schuld. Die Chinesen sind schuld. Die Migranten sind schuld. Das Management ist schuld, weil es die Gefahren der chinesischen Konkurrenz nicht erkannt hat. »Im Falle eines kalten oder heißen Krieges«, so Erich Fromm, »nimmt der Narzissmus noch drastischere Formen an. Das eigene Volk ist dann vollkommen, friedliebend, kultiviert und so weiter, das Volk des Feindes dagegen ist das genaue Gegenteil. Es ist gemein, verräterisch, grausam und so weiter.«
Weil das so ist, so die herrschende Ideologie der »Zeitenwende«, sind alle Menschen der Nation aufgerufen sich zu einem gewaltig starken Subjekt zusammenzuschließen, denn, so das »Narrativ«, der Russe, verbündet mit dem Chinesen, werde kommen, um uns völlig zu vernichten. Das »Narrativ« stützt sich dabei auf sachliche Fakten zu denen u.a. die Aufrüstung des Feindes gehört, die, was Russland betrifft, allerdings längst nicht so gewaltig ist wie die deutsch-europäische.
Bislang behauptete das »Narrativ«, ganz ohne Ideologie die Weltlage beschreiben zu können. Es begriff sich als wissenschaftliche Erkenntnistheorie und seine Kampfparole lautete »Entideologisierung«. Dieses »Narrativ« wird noch solange im intellektuellen Milieu verweilen, bis sich die neue Ideologie der »Zeitenwende« durchgesetzt hat.
Ideologie ist ein Mittel, mit dem die Menschen sich die »vom ökonomisch-gesellschaftlichen aufgeworfenen Konflikte« (Lukacs) bewusst machen und ausfechten. Ideologien entstehen einerseits in gesellschaftlichen Bewegungen und wirken häufig auf die Entwicklung der Wissenschaften ein. Andererseits können »wissenschaftliche Feststellungen zu ausschlaggebenden Momenten von ideologischen Entwicklungen werden«. Man denke nur an Galilei.
Hinter der Kampfparole der »Entideologisierung« verbarg sich allerdings das manipulative Konzept, die Wirklichkeit des gesellschaftlichen Seins lasse sich nicht in seiner Totalität erkennen, sondern sei nur partikular fassbar. Damit wurde die prägende Kategorie des gesellschaftlichen Seins, die menschenfeindliche, auf Verdinglichung, Verwertung, Konkurrenzkampf und auf Mehrwert orientierte Dynamik der kapitalistischen Ökonomie bei der Behandlung aller Fragen von Krieg und Frieden einfach in Klammern gesetzt.
Anstelle des Vaterlands die westlichen Werte
Nur so konnte sich das manipulative »Narrativ« vom bösen äußeren Feind in den Köpfen verankern. Das hat bislang funktioniert. Doch mit der »Zeitenwende«, in der Rheinmetall 2025 seinen Gewinn um 36 Prozent auf über 7 Milliarden Euro steigern konnte und Trump sich als ideologischer Führer der westlichen Welt behauptet, ändert sich auch die Kampfparole: Nun wird »Kriegstüchtigkeit« gefordert.
Das ist eine klare ideologische Sichtweise auf die Totalität des gesellschaftlichen Seins, dessen prägende Kategorie, die kapitalistische Ökonomie in einer schweren Krise steckt. Es ist eine gattungsfeindliche Ideologie, die im Krieg des Handels und des Militärs die Lösung des Konflikts sieht.
Die herrschende Ideologie erklärt, die Krise sei kein Ausdruck der eigenen Überakkumulation von Waren und Kapital, sondern sei ein Machwerk, das durch äußere Mächte entstanden sei, gegen die mit »Kriegstüchtigkeit« ein Mittel zur Rettung der westlichen Wertegesellschaft geschaffen werden müsse. Mit dieser Ideologie soll die Bevölkerung begreifen, dass sie sich zu einem kollektiv nationalem »Wir« zusammenschweißen muss.
Auf die »Entideologisierung« folgt der destruktive Heldencharakter. Der destruktive Heldentyp ist ein Antiheld, sozusagen ein »Fake«. Denn ein echter Held, so Fromm, ist z.B. Jesus. Er ist »ein Held ohne Macht, der keine Gewalt anwandte, der nicht herrschen wollte, der nichts haben wollte«.
Mit Trump, dem vom amerikanischen Volk gewählten nationalen und internationalen Führer und Chefideologen der »Zeitwende«, werden die »westlichen Werte« entsprechend dort wie hier neu definiert.
Die »natürliche Ordnung« der Gesellschaft, so Trump, die sich auf Familie, Kirche, Nation stützt, müsse als Wert wieder hergestellt werden, so Trump. Die freie Entfaltung der privaten Initiative sei nur in dieser »natürlichen Ordnung« möglich. Wer es nicht schafft, die Freiheit des Marktes zu nutzen, um sich ein Privateigentum aufzubauen, sei selbst dafür verantwortlich und dürfe nicht auf staatliche Unterstützung hoffen.
Sein »Anti-Woke«-Feldzug streicht rund 200 Begriffe aus der offiziellen und inoffiziellen Behördenkommunikation. Dazu zählen etwa »non-binär«, »Rassismus«, »amerikanischer Ureinwohner«, »Inklusion«, »Gendermainstreaming« oder der Begriff »Frauen«. Trump enthüllt, was unter dem westlichen Wertemantel steckt. Zum Vorschein kommt brutaler Sozialdarwinismus.
Völlig ungeniert fordert die Zeitschrift Cicero, Europa müsse von Trump lernen. »Make Germany great again«, müsse die Parole lauten. Die besondere Betonung liegt auf »again«! Cicero erscheint im Res Public Verlag des Dirk Notheis (CDU), der auch Vorstandsvorsitzender der Morgan Stanley Bank AG sowie Country Head von Morgan Stanley ist. Man ahnt, wo die westliche Wertereise des Friedrich Merz hinführen soll. Trump weist ihm den Weg.
»Die Lage für die Wissenschaft ist nicht gut«, sagt Dr. Nina Lemmens, Leiterin der New Yorker Außenstelle des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). »Mit seinem Haushaltsentwurf hat Donald Trump gezeigt, dass er es mit den angekündigten Kürzungen in Bildung und Wissenschaft wirklich ernst meint.«
Die Grundlagenforschung soll um 16,7 Prozent gekürzt werden. Das Bildungsministerium und das Budget für angewandte Forschung wurden nach dem Haushaltsentwurf um 13,5 Prozent gekürzt. Für die Environmental Protection Agency (EPA), eine Organisation, die u.a. für saubere Luft und Wasser sorgen soll, hat der US-Präsident Kürzungen von 31,4 Prozent vorgesehen. Tausende von Menschen wurden bereits entlassen. Auch die National Science Foundation (NSF) und die National Institutes of Health (NIH) sollen mit deutlich weniger Geld auskommen. Die NASA allerdings wird mit Geld versorgt. Der Ideologe und Politiker Trump nutzt wissenschaftliche Erkenntnisse nur dort, wo sie seiner Strategie nutzt. Alles andere wird liquidiert.
Hans-Jörg Tiede von der American Association of University Professors (AAUP) berichtet gar von Todesdrohungen gegen Dozierende, die auf der sog. »Professor Watch List« auftauchten. Sie listet laut Angaben der Initiatoren Lehrende auf, die »linke Propaganda« in den Hörsaal trügen. »Einzelne Universitäten haben aus Sicherheitsgründen kurzzeitig geschlossen, einzelne Hochschullehrer wurden wegen der Vorwürfe suspendiert oder entlassen.«
Noch bemüht man sich in der Bundesregierung um ein kritisches, aber stets versöhnliches Gesicht gegenüber dem Freund in Übersee. Die »Zeitenwende« braucht Zeit, damit der neue Charaktertyp das Zepter ergreift. Noch schlummert der »Marketingcharakter« im europäischen Gemüt.
Sterben für die westlichen Werte
Der destruktive Heldencharakter jedoch soll mit Herz, Verstand und allen Sinnen gegen den äußeren und inneren Feind, den er Diktator oder Autokrat nennt, zu Felde rücken. Die Destruktivität dieses kriegstüchtigen Heldencharakters »ist die Perversion des Willens zum Leben. Es ist die Energie des ungelebten Lebens, die sich in eine Energie umwandelt, die auf die Zerstörung des Lebens ausgeht« (Fromm).
Der destruktive Heldencharakter ist kein Diplomat. Er mischt sich enthusiastisch in die inneren Angelegenheiten anderer Nationen ein, um so den Hass der eigenen Bevölkerung auf den jeweiligen Autokraten zu lenken, was mit vielen Hinweisen auf die Missachtung die er den Rechten von Frauen, Queerpersonen und Minderheiten entgegenbringt, gerechtfertigt wird. Die Außenministerin der Ampelkoalition war ein Beispiel dafür. Sie handelte nicht als oberste Diplomatin eines Staates, sondern hoffte sogar, dass die Sanktionen »Russland ruinieren« würden.
Der Generalstabsarzt der Bundeswehr, Johannes Backus, sagte im Dezember 2024 der Süddeutschen Zeitung: »Erfahrung und Wissen von Ärzten, die die Weltkriege erlebt haben, sind über die Jahrzehnte verloren gegangen. Das könnte sich jetzt rächen.« Im Zweiten Weltkrieg dominierte in Deutschland der destruktive Heldencharakter das gesellschaftliche Leben. So soll es wieder werden, wenn auch mit anderen Parolen, denn immerhin bestimmt noch der »Marketingcharakter« den Alltag, der vom »Zeitenwandel« erst überzeugt werden muss.
Statt Treue zum Vaterland wird die Verteidigung der »westlichen Werte« gefordert, die autoritär und gebetsmühlenartig in die Köpfe gehämmert werden, damit sie sich in eine kriegerische Tugend hineinfühlen lernen. Deshalb bedauert der Generalstabsarzt, dass Führungskräfte sich seit langem schwertun, »ihre Macht und Herrschaft in nachvollziehbare Autorität umzusetzen. In ihrem Bemühen, es allen recht zu machen, verlieren sie den Blick auf ›das Ganze‹. Sie setzen keine Prioritäten, geben den Individuen persönlich zu wenig Orientierung, und die Gemeinschaft vermittelt kaum noch Zugehörigkeit, die schützt. Eine Folge ist die Erosion des Sozialen und die Erzeugung von zerstörerischer Gegenmacht, die sich vom Ethos der Freiheit abwendet. In schwierigen Zeiten der inneren und äußeren Bedrohungen durch Aggressoren bedeutet Verantwortungsethik eine überzeugende Politik, orientiert an Machbarkeit und Stabilität der Arbeits- und Lebenswelt der Bevölkerung, von der zu erwarten ist, dass sie ihre Erfahrungen und Energien für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Freiheit einbringt.«
Einheitsdenken
In diesem Zusammenhang freut sich die Bundeszentrale für politische Bildung (BZB), dass die »Zeitenwende« bislang in den »klassischen Rundfunk- und Printmedien« schnell und perfekt vollzogen worden sei. Das klingt wie ein Echo aus der deutschen Geschichte.
Hitler nannte in seiner Rede vom 10. November 1938 die Aufgabe der Presse die »Wiederherstellung einer einheitlichen Geistes- und Willensbildung der Nation… Das Recht zur Kritik« müsse »eine Pflicht zur Wahrheit sein, und die Wahrheit wird nur gefunden werden können im Rahmen der Aufgabe der Lebenserhaltung eines Volkes … In einer Zeit wie der heutigen kann … nicht Kritik die höchste Pflicht sein, sondern die Schaffung von Geistes- und Willenseinheit.«
So klingt »Verantwortungsethik« oder anders formuliert: faschistische Ideologie. Die Bundeszentrale beklagt allerdings im gleichen Text, dass die Universitäten, besonders die Fakultäten, die für eine »einheitliche Geistes- und Willensbildung der Nation« so wichtig sind, nämlich die Geisteswissenschaften, »immer noch pazifistisches Milieu« in sich trügen. Das ärgert den destruktiven Heldencharakter. An 70 Hochschulen, stellt die Bundeszentrale verzweifelt fest, »gibt es Zivilklauseln, die militärisch nutzbare Forschung verbieten. Das sind zwar nur 17 Prozent, aber darunter befinden sich sehr renommierte Einrichtungen wie die TU Darmstadt oder die TU Berlin. In Bremen und Thüringen ist die Zivilklausel in den Landeshochschulgesetzen verankert. Hinzu kommt eine hochdotierte institutionalisierte Friedensforschung, die sich seit den 1970er Jahren zweifellos professionalisiert hat, aber nicht immer zu einem realistischeren Blick auf militärische Konflikte beigetragen hat. In Deutschland gibt es nur vier politikwissenschaftliche Lehrstühle, die sich mit Sicherheitspolitik befassen, und einen einzigen Lehrstuhl für Militärgeschichte an der Universität Potsdam … Demgegenüber stehen 173 Professuren für verschiedene Aspekte der Gender Studies an deutschen Hochschulen. Der Studiengang Gender Studies wird an 18 Hochschulen und Universitäten angeboten, Peace and Conflict Studies an vier und War and Conflict Studies an einer.« Zur Erzeugung des destruktiven Heldencharakters muss dieser Zustand geändert werden, wenn die Kriegstüchtigkeit gelingen soll.
Der Manipulationskapitalismus braucht Menschen, die »alles Leben in Dinge (verwandeln), einschließlich (des Menschen) selbst und der Manifestationen seiner menschlichen Fähigkeiten der Vernunft, des Sehens, des Hörens, des Fühlens und Liebens« (Fromm). Diese Fähigkeiten verrohen beim destruktiven Heldencharakter, für den Krieg ein legitimes Mittel der Krisenbewältigung ist, vollends. Aus Mördern werden für ihn mit Orden geschmückte, im Dienste der »westlichen Werte« agierende Helden. Der Krieg verhindert die menschliche Bezogenheit eines Gattungswesens zum anderen Gattungswesen. Er zerstört die »Organe der Individualität«, die kultiviert werden müssten, um menschlich sein zu können. Er verhindert den Fortschritt des Gattungswesens.
Die innere Zerstörung
Erich Fromm glaubt, »dass der Mensch sich das Erlebnis des ganzen universalen Menschen nur vergegenwärtigen kann, wenn er seine Individualität verwirklicht, und dass er es niemals erreichen wird, wenn er sich auf einen abstrakten gemeinsamen Nenner zu reduzieren sucht.«
Ein solcher gemeinsamer Nenner war das Vaterland, der Antisemitismus und ist heute der Schutz der »westlichen Werte«, wie immer sie bald aussehen werden. Wenn also Kriege verhindert werden sollen, müssen echte Emotionen wieder zum Leben erweckt werden. Das bedeutet, mit den Organen der Individualität eine Bezogenheit zum anderen Menschen und zur Menschheit wie zur Natur zu schaffen. Was auch bedeutet, in Diskussionen ohne Eitelkeit und ohne manipulative Tricks kommunizieren zu wollen, um gemeinsam Richtiges vom Falschem zu sondieren.
Die Verwirklichung der Individualität ist Teil des Kampfes gegen den Krieg. Der Krieg zerstört die Produkte menschlicher Arbeit, so wie sie sich in Wohnhäuser, Straßen, Fabriken, Felder vergegenständlicht. Er zerstört das physische Leben von Menschen und Tieren. Er zerstört aber in ganz besonderem Maße die Entwicklung der Individualität der Menschen, die allein verhindern kann, dass Leben und die von Menschen geschaffenen Gegenstände zerstört werden.
Von dieser inneren Zerstörung sind nicht nur die Soldaten betroffen, sondern alle Menschen. Auch ein Volk, das ein anderes Volk erfolgreich mit Waffen unterdrückt, verhindert die Möglichkeit der eigenen Emanzipation, denn »die Macht, deren es zur Unterdrückung der anderen bedarf, wendet sich schließlich immer gegen es selbst…«, schreibt Friedrich Engels.
Der deutsche Kompass
»Deutschland hat zwei Kriege begonnen«, schreibt Fromm, »den von 1914 und den von 1939. Ein Nachzügler unter den großen westlichen Industrienationen, begann Deutschland nach 1871 seinen spektakulären Aufstieg. 1895 hatte seine Stahlproduktion bereits die Englands erreicht, und 1914 war Deutschland England und Frankreich weit überlegen … doch besaß es nicht genügend Rohstoffe und hatte nur wenige Kolonien … Es musste Gebiete erobern, die in Europa und Afrika über Rohstoffe verfügten.«
Deutschland, so Bundeskanzler Merz, muss zwar »europäisch handeln, aber mit klarem deutschen Kompass«. Wohin dieser deutsche Kompass in der Geschichte stets pendelte, erklärte Erich Fromm 1966:
»Die Kriegsziele des Kaisers waren wirtschaftliche Hegemonie über Westeuropa sowie Gebietseroberungen im Osten, Hitler hatte genau die gleichen Kriegsziele; er wollte nicht die Welt und nicht einmal England erobern, sondern betrieb die traditionelle Expansionspolitik des kaiserlichen Deutschland«, und ergänzt: »Deutschland wird noch immer von den gleichen Kräften beherrscht. Es ist wieder die stärkste Wirtschaftsmacht Europas und strebt nach den alten Zielen: nach der wirtschaftlichen Vorherrschaft über ein geeintes Europa und – auf lange Sicht – nach Landaneignung im Osten. Allerdings hat Deutschland gelernt, dass seine Außenpolitik nur erfolgreich sein kann, wenn es sich mit der mächtigsten Nation der Welt, mit den Vereinigten Staaten verbündet … Mit aller Sorgfalt versucht die deutsche Führung den Verdacht von sich zu weisen, dass sie es noch einmal mit den alten Zielen versuchen wolle.«
Nach der rüden Zurückweisung Trumps gegenüber der EU, die zunächst als eine Art Kündigung der transatlantischen Freundschaft interpretiert wurde, könnten die alten größenwahnsinnigen Ziele Deutschlands wieder in den Fokus genommen werden. Allerdings nach der Devise: Von Trump lernen, heißt siegen lernen.
Die Wiederbewaffnung Deutschlands, so Fromm, sei stets mit den Schwüren der Politiker erfolgt, die »eifrig ihren Friedenswillen und ihre demokratische Einstellung« bekundet hätten. »Das von Deutschland angeführte Neue Europa wird ebenso expansionistisch sein, wie es das Alte Deutschland war, und in seinem Bestreben, die früheren deutschen Gebiete zurückzubekommen, wird es eine noch größere Gefahr für den Frieden sein.«
Das zu verhindern wird heute nur funktionieren, wenn der destruktive Heldencharakter und die Ziele des deutschen Monopolkapitals, als das entlarvt werden, was sie sind, Boten des Massenmords und der Ausbeutung.
Kriege können nur verhindert werden, wenn sie als Fortsetzung des menschlichen Scheiterns begriffen werden, das verhindert, das der Mensch die gegenständliche Welt der Erde und deren Rohstoffe bewusst als Gattungswesen erkennt und bearbeitet, um Individuum, also totaler Mensch werden zu können. Nur wenn sich die Ohnmacht der Menschen, ihr Desinteresse, ihre Nichtzuständigkeit in leidenschaftliche Selbstbetroffenheit wandelt, kann Krieg auch als Krieg gegen die eigene Entwicklung hin zum echten Individuum erlebt werden, denn, so Marx, »die Leidenschaft, die Passion ist die nach seinem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft des Menschen«.
Sage Nein!
Das Wichtigste ist, dass man den Mut hat, Nein zu sagen und »den Befehlen der Machthaber und der öffentlichen Meinung den Gehorsam zu verweigern, dass man nicht länger schläft, sondern menschlich wird, dass man aufwacht und das Gefühl der Hilflosigkeit und Sinnlosigkeit verliert … Aber die Fähigkeit, sinnvoll Nein sagen zu können, impliziert die Fähigkeit, Ja zu sagen … Das Ja zum Menschen ist das Nein zu all jenen, die ihn versklaven, ausbeuten und verdummen wollen« (Fromm).
Wer mutig Nein sagt, wird die Repressionen, die diesem Nein häufig folgen – Mobbing, Beschimpfungen, Prügel, Berufsverbot, Schulverweis, Arbeitsplatzverlust, Strafanzeige, Verschmähungen – nur ertragen, wenn sich dieses Nein auf ein Ja stützt, das weiß, wofür es sich zu leben lohnt.
Menschen, die erfolgreich Nein sagen wollen zum Krieg, zu Waffenexporten, zur Rüstungsindustrie und zur Stationierung von Atomraketen, müssen deshalb, so Fromm, »über sich selbst als Friedensbewegung hinausweis(en) und zu einer Bewegung des radikalen Humanismus« werden. Sie müssen »an den ganzen Menschen … appellieren…(auch an sein Gefühl)«. Sie müssen »eine Vision einer neuen Gesellschaft und eines neuen Menschen zeigen«.
Erfolg kann die Friedensbewegung also nur haben, wenn sich die Menschen nicht nur mit Mitleid und »Nächstenliebe« für die Menschen engagieren, die im Gattungsleben durch Giftgas oder Bomben ermordet werden oder hungern und auf ihrer Flucht vor dem Elend im Mittelmeer ertrinken, sondern wenn sie sich selbst als direkt Betroffene des Krieges erkennen und deshalb wissen wollen, was der Grund dafür ist, dass es uns noch nicht gelungen ist, in der »Bearbeitung der gegenständlichen Welt« uns als Gattungswesen zu bewähren und warum der »radikale« oder, wie Marx sagte, der »positive Humanismus« noch nicht zur Entfaltung gekommen ist.
Sollte eines Tages wieder in Hallen, Stadien und Plätzen die erste Strophe der Nationalhymne gesungen werden, in der es heißt: »Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt, wenn es stets zu Schutz und Trutze brüderlich zusammen hält«, dann sollten wir aufstehen und das Lied von Konstantin Wecker anstimmen:
»Sage Nein
…wenn sie dann in lauten Tönen
saufend ihrer Dummheit frönen,
denn am Deutschen hinterm Tresen
muss nun mal die Welt genesen,
Dann steh auf und misch dich ein:
Sage nein!…
…sei nicht nur erschreckt,
verwundert,
tobe, zürne, misch dich ein:
Sage nein!«
Erich Fromm: Humanismus in Krisenzeiten. Texte zur Zukunft der Menschheit. Und andere Texte aus der Erich-Fromm-Gesamtausgabe in 12 Bänden, München: dtv, 1999.
Der Autor Jürgen Meier (geb. 1951) veröffentlichte zuletzt 2023 im Mangroven Verlag ›Vom Kopf auf die Füße. Verändern – Weltbezogen – Selbst Sein‹. 2021 erschien sein Roman ›Wöbkenbrot und Pinselstrich‹ im Mirabilis Verlag. (www.autorjuergenmeier.de)
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