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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2016

Unternehmer-Vision 4.0: Arbeitskraft soll permanent verfügbar sein
von Marcus Schwarzbach*

Permanente Verfügbarkeit der Arbeitskraft ist ein wichtiges Thema für Unternehmen, sie soll durch die Digitalisierung der Arbeit weiter vorangetrieben werden.

Die Klagen im Betrieb über die ständige Erreichbarkeit mehren sich – für immer mehr Beschäftigte verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. Smartphones ermöglichen es, dass Arbeit nicht mehr zwangsläufig an einen bestimmten Ort und an feste Zeiten gebunden ist. «Mit dem Bearbeiten von beruflichen E-Mails von zu Hause, in der Bahn, im Bus, in Hotelzimmern, in Cafés, auf Dienstreise, nach Feierabend, am Wochenende oder im Urlaub hat sich Arbeiten ‹immer› und ‹überall› als Normalzustand etabliert», betont Tanja Carstensen, Soziologin von der TU Hamburg-Harburg.(1)

Digitale Arbeit verschärft die Situation
Bei aller Unklarheit über die konkreten Auswirkungen der digitalen Arbeit ist jetzt schon klar, dass die neue Technik das Verhältnis von Arbeit und Freizeit radikal verändern wird. Für eine Untersuchung der Krankenkasse DAK wurden Beschäftigte nach der damit verbundenen Belastung gefragt.

Beschäftigte, die mindestens einmal pro Woche außerhalb der Arbeitszeit von Vorgesetzten oder Kollegen angerufen werden, fühlen sich dadurch stärker belastet: 46% gaben an, sie fühlten sich «etwas belastet», 6% «erheblich belastet». Die wahrgenommene Belastung steigt mit der Häufigkeit solcher Anrufe. Von den Beschäftigten, die fast täglich, d.h. viermal pro Woche oder häufiger, außerhalb der Arbeitszeit kontaktiert werden, geben an: 52% fühlen sich dadurch «etwas» und 12% «stark» belastet.(2)

Die Problematik wird sich durch zunehmenden Technikeinsatz noch verschärfen.

«Je ausgeprägter die arbeitsbezogene erweiterte Erreichbarkeit, desto eher berichten die Beschäftigten von Stress, Burnout und Nichtabschalten nach der Arbeit», betont Barbara Pangert von der Universität Freiburg. Erleichtert wird die Erreichbarkeit durch Cloud-Computing, was mit «Rechnen in der Wolke» übersetzt werden kann und letztendlich bedeutet, dass betriebliche Daten über das Internet jederzeit verfügbar sind. Arbeiten können damit via Smartphone, Laptop oder den PC zuhause vorgenommen werden.

Je höher die arbeitsbezogene Erreichbarkeit, «desto stärker sind Konflikte zwischen Arbeits- und Privatleben ausgeprägt», erläutert Pangert. Mehrere Einflussgrößen verschärfen den Negativeffekt: Wer unter extremem Druck steht und nur geringe Entscheidungsspielräume hat, leidet besonders darunter, auch im Privatleben noch in Habachtstellung gehen zu müssen.

Die Folgen ständiger Erreichbarkeit
Der Wissenschaftler Hannes Strobel hat Ursachen und Folgen ständiger Erreichbarkeit infolge der digitalen Arbeit untersucht.(3) Er sieht dabei auch im Privaten folgende Problembereiche:

– Struktur- und Kontrollverlust durch Intransparenz. Erkenntnisse der Sozialforschung zeigen, dass es für Menschen wichtig ist, eine klare Tagesstruktur zu haben. Durch ständige Erreichbarkeit geht eine solche Struktur verloren. Verschärft wird das Problem häufig durch den Umstand, dass den Beschäftigten nicht klar ist, was von ihnen im Hinblick auf die Erreichbarkeit tatsächlich erwartet wird und welche Grenzen es gibt.

– Ständiger Unruhezustand. Häufig ist mit der ständigen Erreichbarkeit ein Gefühl der Unkontrollierbarkeit verbunden. Viele betroffene Beschäftigte haben die Erwartung, jederzeit kontaktiert werden zu können. Damit geht eine hohe psychische Beanspruchung einher.

Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass der Betrieb am Abend anruft: Allein das Bewusstsein, dass er das machen könnte, versetzt den Beschäftigten schon in einen Unruhezustand. Dazu liegen Erfahrungen und Erkenntnisse aus einem Projekt über Rufbereitschaft an der Universität Hamburg vor: Das psychische Empfinden der untersuchten Personen in der Phase der Rufbereitschaft ist schlechter als in der Phase, in der die Beschäftigten nicht erreichbar sein mussten.

Strobel geht in seinen Untersuchungen noch einen Schritt weiter: Oft würden Arbeitnehmer das Thema unterschätzen, in Betrieben gibt es auch einen schleichenden Übergang zur Erreichbarkeit im Privaten. Er fordert deshalb ein Umdenken, denn er sieht folgende Risiken für die Belegschaft:

– Zwang. Strobel bezweifelt, dass ständige Erreichbarkeit tatsächlich selbstgetrieben sei. In einigen Betrieben werde dies direkt erwartet, in anderen besteht ein indirekter Zwang zur ständigen Verfügbarkeit. Den Beschäftigten würde suggeriert, dass es «dazugehöre», auch am Wochenende für das Unternehmen erreichbar zu sein.

– Vermeintliche Entlastung wegen zunehmender Arbeitsbelastung. Viele Beschäftigte geben an, auch am Wochenende «gerne mal was wegzuarbeiten», dabei wird dann häufig auch mit Kollegen und Vorgesetzten kommuniziert. Verbreitet ist auch das Checken von E-Mails durch Beschäftigte im Urlaub. Als Motiv wird dabei Erleichterung genannt, weil nach dem Urlaub nicht ein Berg E-Mails auf den Betroffenen warte. Das wird häufig als subjektiv entlastend wahrgenommen, ist aber für den Erholungsprozess nicht sinnvoll, weil der dadurch unterbrochen wird. Hintergrund ist also die zunehmende Arbeitsbelastung im Berufsleben, die der DGB jährlich durch den Index Gute Arbeit dokumentiert.

– Selbstgefährdung. Ein gravierendes Problem ist die falsche Selbsteinschätzung der Betroffenen. Oft ist zweifelhaft, wie gut Beschäftigte abschätzen können, ob die ständige Erreichbarkeit für sie ein Problem ist. Häufig wird im Rahmen von Arbeitnehmerbefragungen angegeben: «Ja, es ist schon okay, wenn ich da erreichbar bin. Das macht mir eigentlich nichts aus. Ich komme schon zurecht.» Ob Beschäftigte dabei die mittelfristigen Gefahren für Erholung und Wohlbefinden im Blick haben, bezweifelt Strobel.

Moderne Managementkonzepte
Die zunehmende Erreichbarkeit hängt mit modernen Systemen der Arbeitssteuerung zusammen. Ein Beispiel ist die «indirekte Steuerung». Diese erfolgt, indem sich Gruppen von Beschäftigten oder einzelne Arbeitnehmer in eigener Verantwortung innerhalb der Vorgaben direkt dem Kunden gegenüber oder am Markt orientieren müssen. Das Arbeitsverhältnis wird zum Verhältnis «Dienstleister gegenüber Kunde», aus dem Arbeitnehmer wird scheinbar ein «Unternehmer im Unternehmen». Dies erfolgt auch über Zielvereinbarungen, bei denen der Weg nicht vorgegeben ist. Vielmehr liegt es im Ermessen der Beschäftigten, wie sie das Ziel erreichen. Statt Anweisungen zu befolgen, organisieren sie, häufig in Teams, ihre Arbeitsabläufe selbst. Sie haben also Handlungsspielräume, welche Mittel sie einsetzen, um ein Ziel zu erreichen.

Die Unternehmensleitung steuert die Arbeitsprozesse indirekt, indem sie Ziele, häufig in Form von Kennziffern, vorgibt, die die Beschäftigten, das Team oder der Bereich erfüllen müssen. Dieses beteiligungsorientierte Konzept ist jedoch problematisch, wenn die Ziele zu hoch angesetzt werden.

Das besondere Merkmal dieses Managementkonzepts ist, Arbeitnehmer eigenverantwortlich nach ökonomischen Prinzipien arbeiten zu lassen. Aufgaben, Aufträge und Ausstattung werden vom einzelnen Beschäftigten fast nur noch unter dem Kosten-Nutzen-Aspekt betrachtet. Der einzelne Beschäftige wird nicht mehr vom Vorgesetzten angewiesen, sondern unmittelbar durch den Druck des Marktes gesteuert. Für viele Angestellte bedeutet die gewachsene Verantwortung eine Intensivierung der Arbeit und den Zwang zu überlangen Arbeitszeiten.

Ein hochqualifizierter Angestellter, der von einem Konzertbesuch berichtet, veranschaulicht die wachsende Unfähigkeit, in der Freizeit überhaupt noch entspannen und von der Arbeit «abschalten» zu können: «Wenn man in allerletzter Minute da noch hinfährt, ist das halbe Konzert schon rum, ehe ich überhaupt mal beginne, mich auf die Musik zu konzentrieren, denn dies und jenes schwingt noch nach, und plötzlich ist man nicht bei Mozart, sondern beim Mineralölverbrauch in England.»(4)

Ulf Kadritzke von der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin schildert in einer Studie die Problematik der Trennung von Arbeit und Privatleben. Fast jeder vierte befragte Beschäftigte weist auf Konflikte zwischen den betrieblichen Zeiterfordernissen und den Ansprüchen an die persönliche Lebensgestaltung hin. Und die Hälfte der Angestellten leidet darunter, dass private Interessen den beruflichen Anforderungen untergeordnet werden.

Betriebliche Gegenwehr ist möglich
Betriebsräte, die gegen ständige Erreichbarkeit vorgehen möchten, müssen nicht nur dem Unternehmen, sondern auch den Beschäftigten gegenüber agieren. In einer Fachzeitschrift wird beispielhaft das Vorgehen eines Betriebsrats geschildert(5): Durch Flugblätter, Infos per E-Mail und eine Betriebsversammlung zum Thema machte er deutlich, dass es sich bei solchen Problemen nicht um Einzelfälle handelt, die Ursache sei vielmehr in den Arbeitsbedingungen zu suchen.

Über Mitbestimmungsrechte ist Gegenwehr möglich, der Unternehmer muss über eine Betriebsvereinbarung verhandeln. Technisch können die Server so eingestellt werden, dass nach Feierabend oder an den Wochenenden keine E-Mails mehr an die persönlichen Postfächer der Beschäftigten weitergeleitet werden. Auch eine Regelung für die Urlaubszeit setzte der Betriebsrat durch. Um den elektronischen Posteingang jedes Einzelnen während des Urlaubs zu entlasten, ist es den Arbeitenden nach Abschluss der Betriebsvereinbarung möglich, eingehende E-Mails während ihrer Abwesenheit automatisch löschen zu lassen. Gleichzeitig weist eine Abwesenheitsnotiz den Absender des E-Mails auf den zuständigen Vertreter hin, sodass jedes Anliegen dennoch bearbeitet werden kann.

In der Praxis ist es vor allem wichtig, die Beschäftigten einzubeziehen. Auch während der Verhandlungen mit dem Unternehmer wurden in diesem Bespiel die Beschäftigten auf dem Laufenden gehalten. Wichtig war für den Betriebsrat dabei: Es wird nicht nur das Problem «Erreichbarkeit» angesprochen, es werden auch Lösungsansätze etwa durch eine Betriebsvereinbarung aufgezeigt, sodass der Belegschaft klar wird, «es geht auch anders».

Das Beispiel zeigt, welche Möglichkeiten der Betriebsrat hat, es erfordert aber auch ein entschlossenes Vorgehen von Betriebsräten und gewerkschaftlichen Vertrauensleuten. Die Einbeziehung der Beschäftigten ist der entscheidende Faktor. Die regelmäßige Information der Belegschaft sollte gerade bei zunehmendem Leistungsdruck im Betrieb fester Bestandteil der Betriebsratsarbeit sein.

Eine «aktivierende Regulierung» der Arbeitszeit durch Gewerkschaften und Betriebsräte, bei der die Beschäftigten stärker einbezogen werden sollen, schlägt auch Steffen Lehndorff, Arbeitszeitforscher an der Uni Duisburg/Essen, vor.(6) Die geschilderten Beispiele zeigen, dass eine begrenzte Arbeitszeit, die krankmachenden Arbeitsbedingungen entgegenwirkt, keine Selbstverständlichkeit ist, sondern durchgesetzt werden muss. Dies wird nur unter Einbezug der Beschäftigten gelingen.

* Marcus Schwarzbach ist Berater in Mitbestimmungsfragen und Autor von Work around the clock? Industrie 4.0, die Zukunft der Arbeit, und die Gewerkschaften (Köln: Papyrossa, 12,90 Euro).

(1) Hans-Böckler-Stiftung: Arbeitsschutz hinkt beim Einsatz mobiler und digitaler Technologien hinterher (www. boeckler.de/52614_60168.htm).

(2) Pangert/Schüpbach: Die Auswirkungen arbeitsbezogener erweiterter Erreichbarkeit auf Life-Domain-Balance und Gesundheit (Hrsg. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin).

(3) Hannes Strobel: Auswirkungen von ständiger Erreichbarkeit und Präventionsmöglichkeiten, iga-Report 23 (www.iga-info.de); iga ist eine gemeinsame Initiative der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung e.V. (DGUV) mit drei Verbänden der gesetzlichen Krankenversicherungen.

(4) Zitiert nach Ulf Kadritzke: Hochqualifizierte Angestellte und Manager unter Druck (www.competence-site.de/content/uploads/6d/05/Arbeitszeit-von-Managern.pdf).

(5) Nicht ständig auf Standby – Betriebsvereinbarung gegen grenzenloses Arbeiten, Computer und Arbeit, Mai 2015.

(6) Siehe Vortrag von Steffen Lehndorff (www.boeckler.de/pdf/v_2014_11_28_lehndorff.pdf).

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