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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2024

Vom Terrorregime der ›Roten Khmer‹ zum Kapitalistenparadies
von Gerhard Klas

Ein weitläufiger Schulcampus in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh, gesäumt von Palmen, Kokos- und Mangobäumen. Ein paar verrostete Stangen aus Stahl stehen auf dem Hof. Sie erinnern an ein Gestell, an dem vielleicht einmal Schaukeln hingen. Ab 1975, das ist gewiss, dienten sie dazu, die Insassen des berüchtigten Gefängnisses S-21 bzw. Tuol Sleng zu foltern. Ihnen wurden die Hände hinter dem Rücken mit einem Seil zusammengebunden, dann wurden sie hochgezogen und hängen gelassen – bis zum Eintritt der Bewusstlosigkeit.

Wer den Rundgang in einem der vier grauen, ehemaligen Schulgebäude beginnt, wird mit den Abgründen der menschlichen Spezies konfrontiert – die ehemalige Oberschule, heute ein Museum, hatten die Roten Khmer zum wichtigsten von insgesamt 196 Gefängnissen in Kambodscha erkoren.
Im Erdgeschoss hängen hunderte Fotos von Gefangenen, die am Tag ihrer Einlieferung erschossen wurden. Anschließend »erlebten wir die Hölle auf Erden«, so Bou Meng, einer von sieben erwachsenen Überlebenden des Folterzentrums, das in den vier Jahren der Terrorherrschaft mehr als 14000 Gefangene zählte. Er wurde 1976 zusammen mit seiner Frau Ma Yoeun verhaftet und nach S-21 gebracht, fotografiert und mit einer Nummer versehen. Seine Frau hat er danach nie wiedergesehen. Bou Meng, fortan nur noch Gefangener Nr.570, wurde wochenlang gefoltert und musste Geständnisse erfinden.
Zunächst kam er, entkleidet bis auf die Unterhose, in eine Massenzelle, die er mit fünfzig weiteren Gefangenen teilen musste. »Wir schliefen auf dem nackten Boden und hatten keine Decken«, erinnert sich Bou Meng. Alle mussten sich strengen Vorschriften unterwerfen: Lachen, Weinen, Sprechen und sonstige Kommunikation waren verboten. Zuwiderhandlungen wurden mit Prügelstrafe oder Elektroschocks geahndet, wobei die Opfer nicht schreien durften. Als Foltermethoden kamen im S-21 außerdem Waterboarding (das Untertauchen in Wasserbottichen), Daumenschrauben, das Herausreißen von Finger- und Zehennägeln und das Einführen von Säure oder Alkohol in die Nase zum Einsatz. Die minutiös festgehaltenen Folterverhöre und Fotos der Opfer werden bis heute vom Documentation Center of Cambodia ausgewertet.

Die Opfer der Roten Khmer
Die ersten Insassen von S-21 waren Soldaten und Beamte des gestürzten und korrupten Lon-Nol-Regimes. Bis zur Befreiung des Gefängnisses durch vietnamesische Streitkräfte inhaftierten die Roten Khmer außerdem Intellektuelle, Studierende, buddhistische Mönche und Angehörige ethnischer Minderheiten, Vietnamesen und muslimische Chan – kurzum alle, die nicht ihrem Gleichheitsideal entsprachen. Ab 1976 dann auch vermeintliche Abtrünnige aus den eigenen Reihen, die politischen Säuberungswellen zum Opfer fielen.
Zu den Anhängern der Roten Khmer gehörte anfangs auch Bou Meng, der in einer armen Bauernfamilie aufgewachsen war. Er fühlte sich schon in den frühen 1970er Jahren von den revolutionären Parolen der Roten Khmer angezogen – wie so viele, die gegen den zunächst vom Westen unterstützten Militärdiktator Lol Non aufbegehrten. Der Kampf, so wurde ihnen vermittelt, ging gegen »amerikanische Imperialisten, Feudalisten und Kapitalisten, die die Armen unterdrücken«, so Bou Meng.
Das Terrorregime der Roten Khmer überlebten insgesamt nur fünf Millionen der ehemals sieben Millionen Kambodschaner:innen. Knapp zwei Millionen, mehr als ein Viertel der damaligen Bevölkerung, kam von 1975 bis 1979 ums Leben – viele in den Gefängnissen und auf den berüchtigten Killing-Fields, noch mehr durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die zu Hungersnöten führte.
Nur weil er ein sehr geschickter Maler war, blieb Bou Meng von der Ermordung verschont und musste Porträts von Pol Pot malen. Seine Frau wurde am 16.August 1977 getötet. Seine Kinder kamen in ein Kinderheim, wo sie schließlich verhungerten.

Die Ideologie
Die Ideologie der Roten Khmer hatte starke nationalistische und rassistische Elemente, kombiniert mit einer Art »Agrarkommunismus«, der auf eine Glorifizierung des Bauerntums und eine feindselige Haltung gegenüber dem städtischen Leben hinauslief. Das spiegelte sich nicht nur in den Inhaftierungen wider, sondern auch im allgemeinen politischen Handeln: Nach der Eroberung der Macht und dem Einmarsch in Phnom Penh entvölkerten die Roten Khmer die Zwei-Millionen-Metropole und verwandelten sie innerhalb weniger Tage in eine Geisterstadt.
Die Überlebenden der Gewaltmärsche aufs Land waren gezwungen, harte Feldarbeit zu verrichten und eine schwarze Einheitskleidung zu tragen, die jede Individualität beseitigen sollte. Die Sprecher der Roten Khmer verkündeten den Beginn eines neuen revolutionären Zeitalters, in dem jede Form der Unterdrückung und der Gewaltherrschaft abgeschafft sei. Pol Pot, der Führer der Roten Khmer, schaffte Geld, Märkte und Privateigentum ab und sprengte 1975 die Zentralbank.
Einige linke Organisationen hierzulande hielten die Berichte über das brutale Regime der Roten Khmer für Propagandalügen des kapitalistischen Westens – unter anderem die KPD/AO und der Kommunistische Bund Westdeutschland, die von einer Kulturrevolution nach maoistischem Vorbild schwärmten.
Auch die nationale und internationale Aufarbeitung des Völkermords zog sich nach 1979 hin – das lag unter anderem daran, dass der Westen nach dem Sturz von Pol Pot und seinem Terrorregime durch die vietnamesische Armee die Roten Khmer jahrelang weiterhin als einzig legitime Regierung Kambodschas anerkannte. »Im Vergleich zum sozialistischen Vietnam, das den Massenmord im Nachbarland durch Eroberung beendet hatte, galten die Massenmörder als das kleinere Übel, so sahen es vor allem die USA«, schreibt die Publizistin Charlotte Wiedemann in ihrem Buch Den Schmerz der anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis.

Die Schatten der Vergangenheit
Erst in den 2000er Jahren kam es zu einem Sondertribunal, bei dem einige wenige Täter verurteilt wurden. Unter anderem der Leiter des S-21. »Ich und alle anderen, die an diesem Ort arbeiteten, wussten, dass jeder, der dorthin kam, psychologisch zerstört und durch ständige Arbeit eliminiert werden musste und keinen Ausweg bekommen durfte«, sagte dort Kaing Guek Eav, mit Kampfnamen »Genosse Duch«, aus. »Keine Antwort konnte den Tod verhindern. Niemand, der zu uns kam, hatte eine Chance, sich zu retten.« Eine persönliche Verantwortung wies er von sich, er habe »gehorchen« müssen und »keine Alternative« gehabt.
Hun Sen, Premierminister von 1985 bis 2023, war früher selbst Offizier der Roten Khmer und erst 1977 zu den Vietnamesen übergelaufen. Er mokierte sich mehrfach öffentlich über Sinn und Zweck des Sondertribunals und blockierte Ermittlungen gegen weitere Täter. Er und seine Verwandten gehören heute zu den reichsten Familien in Kambodscha, ihr Vermögen wird auf etwa eine Milliarde US-Dollar geschätzt.
In Kambodscha gibt es weder kritische Medien noch eine Gewaltenteilung. Es herrschen Willkür und Vetternwirtschaft. Die meisten prominenten Mitglieder der Oppositionsparteien sind entweder im Exil, in Haft, unter Hausarrest oder ermordet. Die Elite des Landes stellt ihren Reichtum schamlos zur Schau, während viele der 16 Millionen Kambodschaner:innen in Armut und Angst leben.

Investorenparadies
Der internationalen Finanzwelt gilt das Land heute als Vorzeigestaat – u.a. weil der Dollar faktisch die Leitwährung und das Investionsrisiko damit erheblich reduziert ist.
Die Geschichte der Roten Khmer, vor allem die der Abschaffung des Geldes, wird heute in Kambodscha als Rechtfertigung für einen völlig hemmungslosen Kapitalismus benutzt. Auf Wunsch von Hun Sen wurde vor wenigen Jahren das Museum für Wirtschaft und Geld eröffnet. Dort wird erklärt: »Ohne Währung wurde die Preis- und Werteskala zerstört. Nichts mehr hatte einen Wert, ob Ware oder Mensch.« Geld wird zu einem menschlichen Grundbedürfnis befördert. Statt öffentlicher Daseinsvorsorge gibt es überall Mikrokredite, die eine massenhafte Überschuldung der Bevölkerung zur Folge haben. Streiks und Proteste werden ohne Rücksicht auf Verluste niedergeschlagen.
Bou Meng war nie im Geldmuseum. Er würde es auch nicht wagen, gegen Hun Sen oder seinen Sohn und Nachfolger Hun Manet, Premierminister seit Sommer 2023, das Wort zu erheben. Aber er hat Bilder über die Schrecken von S-21 gemalt, hält sich dort immer wieder auf und ist auch für Besucher ansprechbar. »Die Schatten der Vergangenheit verfolgen uns bis heute«, so Bou Meng. Er sagte 2009 im Roten-Khmer-Tribunal gegen den Leiter von S-21 aus.

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