Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2016

Der rote Sommer der Anarchie
von Paul Michel

Die Kollektivierung der Industrie in Katalonien
Wenige Jahre nach der Zwangskollektivierung von Industrie und Landwirtschaft in der Sowjetunion mit der Folge enormer wirtschaftlicher und sozialer Katastrophen und parallel zu der darauffolgenden Welle der Moskauer Prozesse erlebte Spanien zumindest in den von der Gewerkschaftskonföderation CNT dominierten Landesteilen einen «roten Sommer der Anarchie». Diese spontane Bewegung für die Kollektivierung von Industrie und Landwirtschaft von unten verdient es, ins kollektive Gedächtnis der Linken zurückgeholt zu werden.

Die Macht lag auf der Straße
Dort, wo der Aufstand der Putschisten unter Francos Führung unterlag, waren dafür zumeist nicht die staatlichen Behörden wie Polizei, ­Guardia Civil, Armee oder örtliche und regionale Verwaltung verantwortlich, sondern der bewaffnete Widerstand der Arbeiterbewegung. Bedeutende Teile des alten Staatsapparats hatten entweder mit den Rechten sympathisiert oder auf einen Kompromiss mit den Putschis­ten gehofft. Sie zogen es vor, zunächst von der Bildfläche zu verschwinden. Polizei, Armee, die alte Verwaltung: sie existierten im republikanischen Bereich faktisch nicht mehr. Offiziell war sie zwar noch im Sattel, real aber reichte der Machtbereich der Regierung Giral kaum über die Umgebung von Madrid hinaus. Die Macht lag auf der Straße.

So löste der Putsch genau das aus, was er eigentlich verhindern sollte: die Schleusen wurden geöffnet für eine soziale Revolution. Im republikanischen Teil des Landes lag die reale Macht nun in den Händen bewaffneter Arbeiterorganisationen und ihrer sich nun überall bildenden lokalen und regionalen Komitees. Die Komitees richteten Kontrollpatrouillen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zur Bekämpfung der Konterrevolution ein. Sie rekrutierten und rüsteten Milizen aus, um sie an die Front nach Aragón zu schicken.

Sie übernahmen aber auch eine ganze Reihe von zivilen Funktionen. Auf lokaler Ebene bildeten sich in den Wohnbezirken größerer Städte Nachbarschafts- und Versorgungskomitees, die die Verpflegung der Stadtbevölkerung aus den Lagerhäusern, Geschäften und Dörfern der Umgebung organisierten. Parteien und Gewerkschaften besetzten in großer Zahl Gebäude. Luxusvillen und Paläste wurden in Krankenhäuser, Kindergärten und ähnliche allgemeinnützige Anstalten verwandelt. Barcelona, das Epizentrum der Revolution, sah die «größte Fiesta der Revolution im Europa des 20.Jahrhunderts». «Man hatte das Gefühl, plötzlich in einer Ära der Gleichheit und Freiheit aufgetaucht zu sein. Menschliche Wesen konnten sich wie menschliche Wesen benehmen und nicht wie ein Rädchen in der kapitalistischen Maschine», schrieb George Orwell in Mein Katalonien.

Katalonien
Nach der Niederschlagung der nationalistischen Kräfte waren die Anarchisten die absolut dominierende Kraft in Katalonien. Der Chef der Regionalverwaltung Kataloniens, Luis Companys, machte in einer Unterredung mit führenden Köpfen der CNT und der mit ihr verbundenen Iberischen Anarchistischen Föderation (FAI) den Vorschlag, alle linken Kräfte in Katalonien sollten das «Zentralkomitee der antifaschistischen Milizen» (CCMA) bilden. FAI/CNT akzeptierten das, obwohl die sozial­demokratische Gewerkschaft UGT und die am 23.Juli 1936 u.a. aus der Kommunistischen Partei Spaniens (PCE) hervorgegangene PSUC darin die gleiche Anzahl von Sitzen wie CNT/ FAI bekamen – was den realen Kräfteverhältnissen überhaupt nicht entsprach. Neben der Aufrechterhaltung der revolutionären Ordnung und der Aufstellung von Milizen für den Kampf gegen die Nationalisten übernahm das «Zentralkomitee» auch zivile Aufgaben wie die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung und Bekleidung, Gesetzgebung und Rechtsprechung, Bewirtschaftung des Bodens, Schulen, Gesundheitswesen und die Umstellung der Produktion in den Betrieben. Als politisches Gebilde mit Legislativ- und Exekutivfunktionen verteilte das Zentralkomitee seine Arbeit auf Unterausschüsse und Fachkomitees, die bald wie wirkliche Ministerien funktionierten.

Die Kollektivierung der Betriebe
Vor allem in den traditionell von der CNT dominierten Landesteilen kam es zu einer spontanen Kollektivierungsbewegung in der Landwirtschaft, der Industrie und in den Dienstleistungsunternehmen. Das Zentrum der Kollektivierungsbewegung in der Industrie war Katalonien. Als die Arbeiter nach Beendigung des Generalstreiks in die Betriebe zurückkehrten, nahmen sie die Arbeit unter neuen Bedingungen auf. Sie wählten auf Belegschaftsversammlungen eigene Betriebsleitungen. Die Fabrikkomitees führten die Betriebe unter Hinzuziehung aller hierzu erforderlichen technischen und kaufmännischen Fachleute weiter. Die Betriebe wurden kollektiviert. Unternehmer, die die neue Ordnung anerkannten, wurden als gleichberechtigte Belegschaftsmitglieder aufgenommen. Sie wurden an einen ihren Fähigkeiten entsprechenden Platz gestellt. Nicht selten verblieben sie in der Betriebsleitung.

Etwa 40% der Fabriken und Dienstleistungsbetriebe in Katalonien wurden kollektiviert. In Barcelona beschlagnahmten die Arbeiter die meisten größeren Fabriken, alle bedeutenden Dienstleistungsunternehmen (Stadtwerke und Verkehrsmittel), Hotels und Warenhäuser. Hinzu kam die Mehrzahl der Industriebetriebe und Schifffahrtsgesellschaften: Ford Motor Ibérica, Hispano Suiza, Socieze de Petroles, Asland Zement, Transportes Maritimes – nicht jedoch die Banken, an denen die Anarchisten aus ihrer traditionellen Verachtung für Geld heraus kein Interesse zeigten. In manchen kollektivierten Betrieben wurde der Einheitslohn eingeführt, in anderen wehrten sich Teile der Belegschaft dagegen. Gemeinsam war allen kollektivierten Betrieben, dass die Einkommensunterschiede zwischen den verschiedenen Beschäftigtengruppen deutlich verringert wurden.

Auffällig ist allerdings, dass sich an der grundlegenden Benachteiligung von Frauen wenig änderte. Sie waren kaum in den Selbstverwaltungsorganen vertreten, und ihre Löhne lagen zumeist deutlich unter denen der Männer.

In Branchen, die in viele kleine, wenig produktive Betriebseinheiten zersplittert waren, leiteten die Arbeiterräte Rationalisierungsmaßnahmen ein. Kleine, unrentable Schwitzbuden, wo oft unter gesundheitsschädlichen Bedingungen gearbeitet wurde, wurden von den Selbstverwaltungsgremien geschlossen und zu größeren Einheiten zusammengefasst. Für die Anarchosyndikalisten in Spanien war «klein, aber (un)fein» keine Priorität, und sie waren auch keine Gegner der geplanten Wirtschaft. «Ein großer Nachteil der kleinen Fabriken ist ihre Zersplitterung und ihr Mangel an technischer/wirtschaftlicher Koordinierung. Das verhindert ihre Modernisierung und Konsolidierung in bessere und effizientere Produktionseinheiten. Wir sind der Auffassung, dass diese Nachteile … korrigiert werden müssen … Bei der Sozialisierung der Industrie müssen wir gleichzeitig in jeder Branche die verschiedenen Einheiten in Übereinstimmung mit einem übergreifenden Plan konsolidieren, um so Konkurrenz und andere Probleme zu vermeiden, die eine gute und effiziente Organisation der Produktion und Distribution behindern.» Diese Art der Rationalisierung der Betriebe fand in verschiedenen Branchen Anwendung: etwa in der Textilindustrie, der optischen Industrie, der Holzindustrie oder bei den Bäckereien.

Erstaunliche Erfolge
Die Übernahme der großen Industrieunternehmen vollzog sich mit erstaunlicher Leichtigkeit und ohne Produktionsstörungen. Es zeigte sich, dass für das Funktionieren eines modernen Wirtschaftsunternehmens weder Aktienbesitzer noch hoch bezahlte Direktoren oder Aufsichtsräte erforderlich sind. Die Versorgungs- und Verkehrsbetriebe in Barcelona wurden von gemeinsamen CNT/UGT Ausschüssen geleitet; bereits zwei Tage nach dem Aufstand waren sie wieder in Betrieb: Straßenbahnen, Autobusse und U-Bahn funktionierten normal, Gas und Strom wurden ohne Pannen geliefert. «Betriebswirtschaftlich und organisatorisch betrachtet, muss die Kollektivierung der Verkehrsbetriebe Barcelonas als Erfolg betrachtet werden», schreibt hierzu Walter Bernecker in seinem Standardwerk Anarchismus und Bürgerkrieg.

In den 800 katalanischen Metallbetrieben stellte sich die Aufgabe der Waffenproduktion. Die Autofabrik Hispano Suiza stellte jetzt statt zivilen Lkw gepanzerte Lkw her. Bernecker schreibt dazu: «Die Kriegsindustrie-Kommission erzielte innerhalb eines Jahres Produktionsziffern, die selbst optimistische Schätzungen für unerreichbar gehalten hatten. Die zu 80% in der CNT organisierten Munitionsarbeiter scheuten selbst vor den größten Anstrengungen nicht zurück, um die Produktion in Gang zu bringen und, trotz erheblicher Schwierigkeiten, ständig zu steigern.» Für die ersten Monate bilanziert Bernecker: «Soweit es um die Lösung begrenzter Aufgaben – z.B. das Funktionieren der Arbeitsprozesse, die Befriedigung spezieller Bedürfnisse der Belegschaften – ging, haben sich die Komitees als durchaus effektiv erwiesen.»

Da sich die Kollektivierung spontan, je nach örtlichen Bedingungen ganz unterschiedlich und nicht nach einem Plan vollzog, stellte sich in den Folgemonaten das Problem, wie die Zusammenarbeit der Betriebe regional, überregional und landesweit koordiniert werden konnte. Am 11.August 1936 rief die katalanische Regionalregierung den «Wirtschaftsrat für Katalonien» ins Leben, dessen Aufgabe die Koordinierung der Produktion sein sollte. Die CNT war mit seiner Konstituierung nicht nur einverstanden, sondern auch personell in ihm vertreten.

Im Kollektivierungsdekret der Regionalregierung vom 24.Oktober 1936 wurde der bis dahin erreichte Status quo zwar anerkannt, er enthielt aber keine Lösungsansätze im Sinne der Anarchosyndikalisten. Es war «ein Kompromiss zwischen dem Verlangen nach Selbstverwaltung und der Tendenz zur staatlichen Oberaufsicht». Grundsätzliche Probleme wie das der mangelhaften Finanzierung der Betriebe über Bankkredite, Probleme beim Absatz der produzierten Güter durch den Wegfall der nationalistischen Gebiete als Absatzmärkte, Probleme bei der Beschaffung von Devisen für den Handel mit dem Ausland und die Suche nach Ersatz für jene Rohstoffe, die ursprünglich aus jenem Teil Spaniens bezogen wurden, der jetzt von Franco kontrolliert wurde, wurden nicht angegangen. Als ab Spätherbst 1936 der mittlerweile reorganisierte Staatsapparat wieder erstarkte, hatte das negative Folgen für die Kollektivierungsbewegung. Insbesondere die PCE, die in den zentralen staatlichen Apparaten eine immer wichtigere Rolle spielte, war darauf bedacht, die Kollektivierung zu stoppen und wieder rückgängig zu machen.

Die  Kollektivierungsbewegung wurde nach der Ausschaltung der POUM und der entscheidenden Schwächung der CNT/FAI im Mai 1937 sowie der Regierungsübernahme durch die Regierung Negrín von der republikanischen Zentralregierung in Valencia de facto abgewürgt.

Die früheren Teile der Serie erschienen in SoZ 2, 3 und 7-8/2016.

Teile diesen Beitrag:

Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.