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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2017

Wie Europa abgeschottet wird
von Judith Gleitze

Massive Abwehrmassnahmen senken die Ankunftszahlen von Bootsflüchtlingen – mit schrecklichen Folgen.

Anfang August genehmigte der italienische Senat auf Anfrage der Regierung Fayez al-Sarraj die Unterstützung der libyschen Küstenwache mit einem Logistik- und einem Patrouillenschiff. Human Rights Watch kritisierte: «Nach Jahren der Rettung von Leben auf See hilft Italien nun Libyen, obwohl bekannt ist, dass Menschen dort der großen Gefahr von Folter, sexueller Gewalt und Zwangsarbeit ausgesetzt sind.»

Wenig begeistert ist auch General Haftar, Gegenspieler von al-Serraj aus Ostlibyen. Er sieht die Souveränität des Landes gefährdet und droht, die italienischen Militärschiffe zu bombardieren. Die Folge: Fast täglich gibt es Meldungen, dass die libysche Küstenwache (wovon es mehrere gibt) Bootsflüchtlinge zurückholt, die push-backs, die dem italienischen Staat verboten sind, erfolgen nun also durch die Libyer selbst.

 

Italien und Libyen Hand in Hand

Unter der Führung von Innenminister Minniti, einem Sozialdemokraten, ist Italien nun endgültig zum Handlanger der Abschottung Europas geworden. Viele Kommunen wollen sich nicht mehr am freiwilligen Aufnahmeprogramm mit Integration beteiligen, lediglich die Aufnahmezentren, für die meist alte, nicht funktionierende Hotels und Pensionen herhalten müssen, sind beliebt, da sie Gewinne für die Betreiber generieren.

EU-Flüchtlingskommissar Avramopoulos unterstützt Italiens Bestrebungen und fordert die in der Seenotrettung engagierten NGOs auf, den von Minniti erlassenen, nicht rechtsverbindlichen Verhaltenskodex zu unterzeichnen (der auf EU-Ebene nicht zustande kam). Die NGOs kritisieren daran besonders zwei Punkte: Es soll keine Transfers mehr von einem Rettungsschiff zum anderen geben; und für die Suche nach Schleppern unter den Geretteten an Bord wird bewaffnete Polizei eingesetzt.

Ersteres hat lange Fahrten nach Sizilien bzw. zum italienischen Festland zur Folge, wodurch die Schiffe im Rettungsgebiet tagelang ausfallen. Und bewaffnete Polizei an Bord entspricht nicht dem humanitären Auftrag der Rettungs-NGOs. Massiver Druck der italienischen Regierung, die damit gedroht hat, die Retter bei Nichtunterzeichnung nicht mehr in italienische Häfen einfahren zu lassen, hat etliche NGOs bewogen, den «Kodex» zu unterzeichnen. Sea-Watch und Ärzte ohne Grenzen (MSF) aber verweigern ebenso wie «Jugend rettet» die Unterschrift.

Auch Libyen droht den NGOs. Schon am 25.Juli hatte die Regierung in Tripolis nach einem Treffen mit staatlichen Vertretern aus Algerien, Österreich, Frankreich, Deutschland, Italien, Libyen, Mali, Malta, Niger, Slowenien, Schweiz, Tschad und Tunesien in Tunis verkündet, eine eigene Search-and-Rescue-Zone (SAR) festzulegen. Zuvor hatte die libysche Küstenwache mehr als 3000 Geflüchtete «gerettet» und nach Libyen zurückgebracht. Weitere 11000 wurden nach Angaben der libyschen Regierung in Tripolis vor der Abfahrt gestoppt, so die Nachrichtenagentur Ansa. Nach Expertenmeinungen sind die SAR-Zonen jedoch kein feststehender juristischer Begriff. So äußerte der Seerechtsexperte Alexander Proelß im Spiegel, dass «die Verdrängung von Rettungsschiffen aus internationalen Gewässern mit Search and Rescue nichts zu tun [habe]. Für das von der libyschen Regierung geplante Vorgehen gibt es im Völkerrecht keine Grundlage.»

 

Kriminalisierung der ­Seenotrettung

Weitere Drohungen wurden Anfang August laut. Die NGOs hätten sich von der Küste fernzuhalten, wobei nicht klar ist, was das in Seemeilen bedeutet. Am 15.?August wurde das Schiff einer spanischen Rettungs-NGO zum Abdrehen gezwungen, Tage zuvor hatten Drohungen aus Libyen andere NGOs dazu veranlasst, ihre Arbeit einzustellen, da die Gefahr für die Besatzungen zu groß war. In dem Zusammenhang rief Ärzte ohne Grenzen (MSF) die EU und Italien dazu auf, diese mörderische Strategie, die nur immer weitere Opfer fordere, zu beenden.

Am 2.August beschlagnahmten die italienischen Behörden das Rettungsschiff Iuventa der Organisation «Jugend rettet». Unter dem Vorwand, sie müssten zwei gerettete Syrer unbedingt selber an Land bringen, wurde die Iuventa nach Lampedusa beordert, die Übergabe an ein anderes Schiff wurde abgelehnt. Laut Behörden war dies nur ein «routinemäßiges Kontrollvorgehen», obwohl die Staatsanwaltschaft Trapani seit Monaten «Beweise» für die Beihilfe zur illegalen Einreise durch die Besatzung der Iuventa gesammelt hatte. Das erinnert an die Cap Anamur, die 2004 mit 37 geretteten Geflüchteten erst nach langem Tauziehen in Sizilien anlegen durfte, dann aber ein fünfjähriger Prozess gegen den Kapitän, Ersten Offizier und Leiter der Cap Anamur folgte, der mit einem Freispruch endete.

Nun werden erneut Seenotretter kriminalisiert. Dabei bestätigte Nicola Carlone, Admiral der italienischen Küstenwache, schon Anfang des Jahres bei einer Befragung durch die italienischen Behörden, dass die Rettungseinsätze grundsätzlich von der Seenotleitstelle in Rom (MRCC) koordiniert werden und kein Schiff auf eigene Faust in libysche Gewässer gefahren ist. Die Ermittlungen entlasten die Retter, die angeblichen Schlepper, mit denen die Crew in Kontakt gewesen sein soll, sind engine fisher, libysche Fischer, die bei Rettungsaktionen in Windeseile die Motoren der Schlauchboote klauen.

Laut der UNO-Flüchtlingsorganisation UNHCR erreichten 2017 bis zum 17.August 97377 Geflüchtete Italien, dabei gab es mindestens 2400 Tote, die Dunkelziffer ist viel höher. Die Gesamtankunftszahlen decken sich mit denen von 2016 im gleichen Zeitraum. Kamen im Juni 2017 noch 23524 Geflüchtete über See nach Italien, war es im Juli nicht einmal mehr die Hälfte. Eine der Hauptursachen für den massiven Rückgang dürfte die Arbeit der diversen libyschen Küstenwachen sein: Geflüchtete können gar nicht erst losfahren oder werden schon kurz nach der Abfahrt zurückgeholt.

Seitdem die EU libysche Küstenwachmitarbeiter (ausgesucht von der al-Serraj-Regierung) auf Eunavfor-Schiffen ausbildet und Italien ihnen Schiffe zur Verfügung stellt, wirkt die Abschottung offenbar. Auch das Wetter und die Knappheit an Booten spielen eine Rolle. Die Bedrohung der Rettungs-NGOs von europäischer, italienischer und libyscher Seite zeigt, dass es Europa egal ist, was mit den Menschen geschieht. «Es ist schon absurd: Anstatt darüber zu reden, welche Verantwortung die EU für die Flüchtlinge trägt, führen wir eine Debatte, ob es gut oder schlecht ist, Menschenleben zu retten», sagt Titus Molkenbur von «Jugend rettet».

 

Die vollständige Fassung des Artikels findet sich auf www.borderline-europe.de.
Auf https://rettung-ist-kein-verbrechen.de kann man die Petition: «Seenotrettung ist kein Verbrechen» unterzeichnen.

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