Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2017

Trotz Tarifkoordination wurde der Arbeitskampf im Einzelhandel abgewürgt
von Karin Zennig*

In Ver.di wird gerade viel über strukturelle Veränderungen und Organisationsumstellungen diskutiert, wobei bisher leider politische hinter finanziellen Überlegungen zurückstehen. Am Beispiel des jähen Endes der Tarifrunde Einzelhandel mit dem unerwarteten Abschluss in Baden-Württemberg wird aber offenkundig, wie wichtig die Einigung auf tarifpolitische Grundsätze ist, um zukünftigen Frust und eine unnötige eigene Schwächung zu vermeiden.

Was ist passiert? Ende März hatte die Tarifrunde über die Entgelte im Einzelhandel begonnen, in die Schritt für Schritt, abhängig vom jeweiligen Ende der regionalen Flächentarifverträge, Bundesländer mit Aktionen und Streiks eingestiegen sind. Die traditionell streikaktivsten Bundesländer sind Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg, wobei in Niedersachsen/Bremen, Hessen und anderen eine Zunahme der Streikaktivitäten verzeichnet werden konnte.

Die jeweiligen Regionen verhandeln autonom, stellen eigene Forderungen auf und haben jeweils eigene Tarifkommissionen, die über das Ergebnis und die Streikaktivitäten entscheiden. Doch es gibt eine Koordinierung dieser autonomen Tarifrunden auf Bundesebene, dort werden die Forderungen aufeinander abgestimmt und auch Tarifabschlüsse vor einer Unterzeichnung rückgesprochen. Es fand sogar eine Tarifkoordinierungskonferenz statt, auf der die Eckpunkte für eine deutliche Reallohnerhöhung beschlossen wurden.

 

Die Ausgangslage

Obwohl es sich lediglich um eine Entgeltrunde handelte, fiel die Streikbeteiligung ausgesprochen gut und vielfältig aus, vergleichbar mit früheren Tarifrunden, als z.B. die Arbeitgeberseite den Manteltarifvertrag gekündigt hatte.

Trotz der sehr guten wirtschaftlichen Entwicklung im Einzelhandel 2016 und 2017 und den beeindruckenden betrieblichen Aktivitäten der Kolleginnen und Kollegen gestaltete sich die Tarifrunde flächendeckend jedoch sehr zäh. Die Arbeitgeber legten bundesweit koordiniert sehr geringe Angebote vor, und so gingen auch in den oben genannten starken Bundesländern vier bis fünf Verhandlungsrunden ohne Abschluss ins Land.

Vorgelegt wurde lediglich ein Angebot von 2 Prozent im ersten Jahr und 1,8 Prozent im zweiten Jahr (bei 24 Monate Laufzeit). Inoffiziell wurde suggeriert, es werde eine gläserne Grenze zwischen 2,3 Prozent und 2,0 Prozent geben. In der bundesweiten Tarifkoordination wurde dieses inoffizielle Angebot verworfen, da es unter dem Abschluss des wirtschaftlich schlechter aufgestellten Groß- und Außenhandels lag und wegen der für 2017 erwarteten Inflation von 1,8–2,0 Prozent kaum einen spürbaren Reallohnzuwachs versprach.

In einigen Bundesländern wurde das Angebot darüber hinaus verworfen, weil es nicht der Struktur der eigenen Forderung nach einem Festgeldzuwachs, d.h. nach einer sozialen Komponente entsprach. Das ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil die Forderung nach einer Festgelderhöhung in der Vergangenheit meist bereits in der ersten oder zweiten Verhandlungsrunde fallengelassen wurde, in diesem Jahr aber sehr lange und mit breiter Kommunikation in den Betrieben daran festgehalten wurde.

 

Wie kam es zum Ergebnis?

Trotz des eindeutigen Meinungsbilds unter den Landesfachbereichsleitern (acht Gegenstimmen, eine Abwesenheit, eine Pro-Stimme) kam es am 27.Juli 2017 in Baden-Württemberg zu einer erneuten kurzfristigen sechsten Verhandlungsrunde, die mit dem Abschluss eben dieses inoffiziellen Angebots, ergänzt um 50 Euro Einmalzahlung im ersten Jahr, endete. Die Tarifrunde Einzelhandel endete damit faktisch noch bevor aufgrund der zeitlich weit auseinanderliegenden Auslauftermine der Tarifverträge auch nur alle Bundesländer richtig in die Streikaktivitäten einsteigen konnten.

Obwohl Baden-Württemberg nicht müde wurde zu betonen, dass es sich nicht um einen Pilotabschluss handele, hat das Land als Pilotabschlussregion in etlichen vergangenen Tarifrunden ausreichend Erfahrung und Weitblick, um sich der Dimension ihres regionalen Abschlusses im klaren zu sein. Nach einem einmal erzielten regionalen Ergebnis steht es zwar allen anderen Regionen formal frei, weiter zu verhandeln und andere Ergebnisse zu fordern und zu erstreiken, die dafür nötige Durchsetzungskraft liegt aber um ein Vielfaches höher, ist vielleicht sogar unerreichbar, da die Arbeitgeberseite einen höheren Abschluss um jeden Preis zu verhindern versuchen wird.

Trotz einhelliger Kritik aus den anderen Tarifgebieten an der Entscheidung in Baden-Württemberg führte die Abwägung zwischen dem eigenen unausgeschöpften Kräftepotenzial und dem Risiko, bei einer Weiterführung der Tarifrunde von den Arbeitgebern mit einem schlechteren Ergebnis abgewatscht zu werden, zu einem zeitnahen Tarifabschluss auch in den Bundesländern Niedersachen/Bremen und Bayern – und damit zur Zementierung der beschriebenen Situation.

Der Frust darüber ist vielerorts verständlich hoch, viele Kolleginnen und Kollegen hatten sich gedanklich auf Streikaktivitäten bis zur Weihnachtszeit eingerichtet und waren jetzt mit dem abrupten, unbefriedigenden Ergebnis konfrontiert, das sie gleichzeitig relativ handlungsunfähig zurückließ.

Auch wenn man anführen könnte, dass in der Vergangenheit die Tarifabschlüsse auf einem ähnlichen Niveau zwischen 4 und 5,5 Prozent lagen, muss angemerkt werden, dass früher aufgrund der Eurokrisenjahre die Inflationsrate bedeutend geringer und damit die Reallohnzuwächse doch recht relevant waren.

 

Schlussfolgerungen

Das Ergebnis zeigt einerseits, dass die Zeiten im Einzelhandel härter geworden sind. Trotz des Zuwachses von Streikbetrieben und -aktivitäten war es nicht möglich ein den Vorjahren vergleichbares Ergebnis zu erzielen. Dies mag auch an der relativen Ruhe bei den Hardliners der Verhandlungskommission auf Arbeitgeberseite liegen, den Big Playern im filialisierten Lebensmitteleinzelhandel. Es ist klar, das Ver.di hier noch viel Luft nach oben hat und Kampfkraft entwickelt werden muss, um der verhärteten Überheblichkeit auf Arbeitgeberseite Paroli zu bieten.

Das Tarifergebnis war aber nicht das tatsächliche Ergebnis der aktuellen Kräfteverhältnisse, diese wurden vielmehr, wie beschrieben, gedeckelt, was zur zweiten, noch wichtigeren Lehre aus der Tarifrunde führt: dass es nämlich dringend einer Überarbeitung von Qualität und Form tarifpolitischer Absprachen und Koordinierungsarbeit im Fachbereich bedarf. Denn der Frust und das Gefühl, passiv gestellt worden zu sein, stellt sich vor allem bei denjenigen ein, die die Tarifrunde am aktivsten und eigenständigsten gestaltet haben. Den aktiven Kolleginnen und Kollegen ist bekannt, dass im Handel aus einer Minderheitenposition heraus gekämpft und gestreikt wird. Aus dieser Position heraus waren wir in der Vergangenheit nicht nur in der Lage, kontinuierlich das Niveau der Entgelte anzuheben, wir konnten auch  größere Angriffe der Arbeitgeberseite zurückschlagen. Jetzt fühlen sich die Kolleginnen und Kollegen um das Ergebnis ihrer eigenen Kraft betrogen.

Es wird zu Recht gefragt, warum es überhaupt eine Tarifkoordinierung gibt, wenn diese dann keinerlei Konsequenzen oder innere Bindefähigkeit für die beteiligten Akteure hat. Die Spekulation darüber, dass der Abschluss in Baden-Württemberg einschlägigen Pressemeldungen zufolge zu finanziellen Engpässen bei Galeria Kaufhof geführt und die Angst vor einem möglichen Tarifausstieg beflügelt hätte, macht das Ergebnis vielleicht individuell verständlich, aber auf der Ebene kollektiver tarifpolitischer Konsequenzen nicht besser oder richtiger.

Es braucht deswegen eine breite politische Auseinandersetzung im Fachbereich über die Form einer Tarifkoordinierung, die diesen Namen auch verdient, damit sich dergleichen nicht wiederholt. Denn solche Erfahrungen kann man nicht beliebig aneinanderreihen. Der erlebte Frust führt sonst unweigerlich zu einer Schwächung der Voraussetzung für eine wachsende Durchsetzungsfähigkeit: der gewerkschaftlichen Basis im Betrieb.

Dabei erscheint es erstmal nicht als zielführend, die Tarifautonomie generell in Frage zu stellen, da auch dies zu einer Einengung von demokratischer Teilhabe aus den Betrieben führen würde und Tarifrunden nicht mehr in gleicherweise breit getragen wären. Auch eine Kultur des Misstrauens und der Unterbindungskontrolle wird Ver.di im Fachbereich dem angesprochenen Ziel wenig näherbringen.

Dem Handel stehen noch anstrengende Zeiten bevor. Bereits seit einiger Zeit stehen Verhandlungen über eine neue Entgeltstruktur für die Flächentariferträge des Einzelhandels im Raum. Hier wollen die Arbeitgeber eine beispiellose Entqualifizierung von Abschlüssen und Erfahrungswissen und, damit verbunden, eine massive Abgruppierung durchsetzen. Für diese Auseinandersetzung muss klar sein, dass es keine unabgesprochenen Tarifabschlüsse geben darf.

Auf diese längst überfällige Debatte wollen wir nicht nur hoffen, sie muss auch innerorganisatorisch eingefordert werden.

Für eine kämpferische Ver.di!

 

* Karin Zennig ist Gewerkschaftssekretärin bei Ver.di im Fachbereich Handel in Frankfurt am Main.

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