Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Soziales 2. Juli 2010
Ein Wort an die Hartz-IV-Bezieher
Jahrzehntelang ist es eigentlich prima gelaufen. Die einen verdienten ganz gut, die anderen mussten nicht allzu viele soziale Zugeständnisse machen. Im Gegenteil: Damit nichts anbrennt am Standort Deutschland, hatten die Vertreter der Arbeitsplatzbesitzer schon seit längerem eine im internationalen Vergleich notorische Lohnzurückhaltung gepflegt, auch mit Hartz IV und Agenda 2010 ziemlich drastische Einschnitte ins soziale Netz ziemlich klaglos hingenommen.
Trotzdem ist heute Krise. Die immer wieder kolportierte Floskel von den heutigen Gewinnen, die morgige Investitionen und übermorgige Arbeitsplätze seien, hat sich transformiert in die Formel von den heutigen Gewinnen, die morgige Spekulation und übermorgiger Krach sind. Im Zuge der Finanzkrise mussten zur Bewahrung vor dem Schlimmsten, nämlich einer Bankenpleite, Gelder in schwindelerregender Höhe und Geschwindigkeit als finanzielle Daseinsvorsorge nämlicher Banken locker gemacht werden. Vorher war die soziale Daseinsvorsorge durch besagte «Reformen» schon demontiert.

Diese Diskrepanz ließ sich medial nicht mehr wegschwadronieren; selbst allerrudimentärstes Klassenbewusstsein denkt nach wie vor in den Kategorien oben und unten. Und jetzt, wo Krise ist und noch mehr Lohndumping bis hin zu Elendslöhnen und Sozialkahlschlag sein muss, damit der Laden wieder ans Laufen kommt, muss legitimatorisch gerettet werden, was zu retten ist. Die Kanzlerin: «Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt.» Der Vizekanzler: «Hartz-IV-Beziehende schwelgen in spätrömischer Dekadenz.» Spätestens jetzt packt einen das apokalyptische Grausen: Das römische Reich ging ja ob der galoppierenden Dekadenz unter. Die Sparopfer waren aber noch gar nicht überzeugend an die Leute gebracht, da konterkarierte das DIW diese Bemühung der politischen Kaste mit einer Erhebung, der zufolge die Zahl der Millionäre und ihre jeweiligen Vermögen in der Finanzkrise erheblich gewachsen sein die Zahl der Armen und insbesondere der armen Kinder allerdings auch.

Kurzum: Das Ende des sozialen Friedens und Zusammenhalts, bisher Standortfaktoren, scheint heraufzudämmern. Da ist es nützlich, wenn ein Sündenbock zur Hand ist. Ein Sündenbock ist harm- und wehrlos, lässt sich bequem stigmatisieren, zum Beispiel als unnützer Esser, der ob seiner erforderlichen Alimentation und seines Nichtstuns die «Leistungsträger» in den Ruin treibt. Die faktisch schön ausgegrenzten Hartz-IV-Beziehenden füllen diese Rolle ideal. Einerseits trösten sie die verarmenden Arbeitsplatzbesitzer, weil es jemanden gibt, dem es noch schlechter gehen kann und wird. Andererseits befördern sie höchste Arbeitsleistung trotz sinkenden Lebensniveaus und vor allem politische Willfährigkeit ganz im Sinne wirtschaftsliberaler Dogmatik: Nur ein hochgehängter Brotkorb generiert ordentliche Arbeitsleistung. Das nennt sich «Anreize zur Arbeit» schaffen. Früher hieß das erfrischend direkt «Arbeit macht frei».

Überhaupt: Die Wirtschaftsliberalen hätten am liebsten gleich ein autoritäres Regime ohne Legitimations-Schnickschnack man denke etwa an die «gelenkte Demokratie» in Russland; da lässt sich durchregieren. Und das, obwohl die einheimischen Arbeitsplatzbesitzervertreter auf «den Klassenkampf von oben nicht mit dem Klassenkampf von unten antworten würden» (Dieter Schulte, vormals DGB-Vorsitzender). Im Vergleich zu sonstigen vollmundigen Ankündigungen ist ihnen das tatsächlich bis heute gelungen. Nach ein paar Sozialprotesten 2004 fielen sie erst in eine «Sommerpause», dann in einen Dornröschenschlaf.

Die Hartz-IV-Betroffenen jedenfalls haben mit ihren anhaltenden Protesten gegen den Sozialkahlschlag deutlich gemacht, dass sie, die Sündenböcke, eher ein zur Identifikation einladendes Beispiel abgeben. Früher einmal hieß der subalterne Mannschaftsgeist Solidarität. Damit schafften es die Proleten über mehrere Jahrzehnte, das gesellschaftspolitische Spiel entscheidend mitzugestalten. Wäre ein neuer Versuch wert.
JG

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