Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2013

von Paul Michel

Die Gegner von Stuttgart 21 hatten schon vor der Volksabstimmung errechnet, dass Stuttgart 21 viel teurer werden würde als offiziell veranschlagt. Die Betreiber hatten das immer bestritten. Jetzt ist die Katze aus dem Sack: Der Kostendeckel von 4,52 Mrd. wird gesprengt – und zwar deutlich. Laut einem McKinsey-Gutachten, das im Auftrag des Aufsichtsrats der Bahn erstellt wurde, steigen die Kosten für Stuttgart 21 auf 6,8 Mrd. Euro. Und das für einen Bahnhof, der deutlich weniger leistungsfähig ist als der aktuelle Kopfbahnhof. Stuttgart 21 ist bereits jetzt, bevor noch richtig mit dem Bau begonnen wurde, auf dem besten Weg, den Berliner Flughafen und die Hamburger Elbphilharmonie als Fass ohne Boden zu toppen.
Nach rationalen Erwägungen müsste das Projekt sofort beerdigt werden. S21 hat mittlerweile die noch vor einem Jahr von Bahnchef Grube benannte Rentabilitätslatte von 4,7 Mrd. eindeutig gerissen. Aber bei der Bahn und der Bundesregierung haben Machtfragen mittlerweile sogar noch Vorrang vor Profiterwägungen. Im September 2011 hatte Kanzlerin Angela Merkel das Projekt zur Nagelprobe für die Durchsetzbarkeit von Großprojekten gemacht, indem sie erklärte, an S21 «entscheide sich die Zukunftsfähigkeit Deutschlands».
Bahnchef Rüdiger Grübe tönt zwar: «Wir stehen zu Stuttgart 21 … Wir werden diesen Bahnhof bauen.» Dennoch werden auch bei der Bahn jetzt Bruchstellen sichtbar. Auf der Aufsichtsratssitzung vom 12.12. 2012 wurde die Vorstandsvorlage nicht, wie üblich, nach kurzer Aussprache durchgewunken, die Entscheidung wurde auf die nächste Aufsichtsratssitzung verschoben. Es soll, so berichtet die Welt, Verärgerung darüber gegeben haben, dass die Bahn den Aufsichtsrat «über diese uns überraschende Kostenexplosion in Form einer Tischvorlage» informiert habe. Eine Vorbereitung im Detail sei nicht möglich gewesen. Laut Welt hat der Aufsichtsrat einen unabhängigen Gutachter beauftragt, der den Fortgang des Projekts aus aktienrechtlicher Sicht überprüfen soll.
Entscheidend wird wohl sein, ob es Technikvorstand Volker Kefer in dieser Zeit gelingt, das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart an die Kandare zu nehmen. Kefers Strategie ist klar. Einerseits gibt er sich großzügig, indem er erklärt, die Bahn werde die 1,2 Mrd. Mehrkosten selbst übernehmen. Andrerseits will er über die Einforderung der «Sprechklausel»* das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart dazu zwingen, den eigenen Anteil deutlich aufzustocken. Gelingt ihm das bis zur nächsten Aufsichtsratssitzung im Januar 2013, bekommt er vom Aufsichtsrat grünes Licht. Gelingt es ihm nicht, wird es eng für Kefer und für Stuttgart 21.
Es liegt nun in der Hand der grün-roten Landesregierung, das unselige Projekt dahin zu befördern, wo es hin gehört: in die ewigen Jagdgründe. Wenn sich Ministerpräsident Kretschmann und Finanzminister Schmid an die Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag halten und die Reißleine ziehen, sprich sich weigern, weitere Landesgelder in Stuttgart 21 zu pumpen, könnte Grubes Projekt alsbald in die Grube fahren. Aber der grüne Oberrealo Kretschmann zögert immer noch. Am Tag vor der Vorstandssitzung der Bahn ließ er seine (grüne) Staatssekretärin Gisela Erler noch einmal verkünden: Wir fühlen uns an das Ergebnis der Volksabstimmung gebunden. Dabei hat selbst der juristische Architekt der Volksabstimmung, der Rechtswissenschaftler Joachim Wieland, bestätigt, dass auch nach bürgerlichem Rechtsverständnis das Ergebnis der Volksabstimmung nicht mehr bindend ist, da es unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zustande gekommen ist. In dieser Situation kommt es darauf an, dass die Bewegung gegen Stuttgart 21 dem zögernden grünen Landesvater noch einmal richtig Druck macht.
Politisch ist das Projekt Stuttgart 21 jetzt delegitimiert. Aber gute Argumente allein können Bahnchef Grube und Politmanagerin Merkel nicht zum Einlenken zwingen. Die Bewegung gegen Stuttgart 21 muss den politischen Druck auf Grube, Merkel und Kretschmann so erhöhen, dass ihnen der Ausstieg aus Stuttgart 21 als das «kleinere Übel» erscheint. Wenn die Proteste wieder jenes Ausmaß erreichen würden wie vor den Schlichtungsgesprächen und erneut «unkalkulierbar» würden, könnte dieser Punkt erreicht sein. Aber da müsste die Bewegung gegen Stuttgart 21 in den nächsten Wochen noch einige Schippen drauflegen – regional und bundesweit.
Eins ist klar: Die Milliarden, die in der S21-Grube versenkt werden, fehlen beim Ausbau der maroden Bahninfrastruktur, für die Sanierung heruntergekommener Bahnhöfe, bei der Anschaffung moderner Züge und beim dringend gebotenen Ausbau des Regionalverkehrs. Und das sind keine ländlespezifischen, sondern bundesweit relevante Probleme!

*Nach einem Passus im Finanzierungsvertrag von 2009 müssen die Projektpartner Gespräche führen, wenn der Kostendeckel von 4,5 Mrd. überschritten ist.

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