Signale der Entspannung zwischen der EU und Russland
von Angela Klein
Im Zeitraum zwischen dem 4. und dem 12.September fielen mehrere wichtige Entscheidungen über die Ukraine und das Verhältnis zu Russland: die Vereinbarungen von Minsk zwischen den Regierung der Ukraine und Russlands, den Separatisten und der OSZE; die Erklärungen der EU zum Assoziierungsabkommen mit der Ukraine und zu den Sanktionen gegen Russland; sowie die Beschlüsse auf dem NATO-Gipfel in Wales. Es ist angebracht, sie in einem Zusammenhang zu sehen. Und dieser Zusammenhang lässt nur einen Schluss zu: Der Westen sucht in der Ukraine einen Kompromiss mit Moskau, der Russland einen wie auch immer gearteten Einfluss in der Ukraine zugesteht.
Gehen wir chronologisch vor:
– Am 5.September wird in Minsk ein Abkommen unterzeichnet, das einen ersten Schritt in Richtung «Föderalisierung» der Ukraine darstellt: es sieht u.a. das Recht auf eigene Wahlen in den Regionen Donezk und Lugansk, auf eine eigene Miliz und eine «enge Kooperation mit den angrenzenden russischen Gebieten» vor.
– Zur selben Zeit bestätigt die NATO in Wales, was die EU zuvor auch schon verkündet hatte: dass sie nämlich keine Waffen an die Regierung der Ukraine liefern wird.
– Am 9.September beschließt die EU neue Sanktionen gegen Russland, die vor allem seinen Energiesektor treffen sollen: Die Refinanzierungsmöglichkeiten der russischen Energiekonzerne auf dem europäischen Finanzmarkt werden erschwert, ebenso die Lieferungen von technischem Knowhow. Der Beschluss ist jedoch eng an die Einhaltung des Waffenstillstands gebunden und stellt in Aussicht, die Sanktionen – die jüngsten wie die vorherigen – zu überprüfen, wenn der Waffenstillstand anhält.
– Am 12.September verkündet Brüssel, dass der Handelsteil des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine erst Anfang 2016 in Kraft treten wird – er war auf dem EU-Gipfel am 27.Juni unterzeichnet und am 16.September mit großem medialem Getöse vom EU-Parlament und dem Parlament in Kiew ratifiziert worden. Der Handelsteil umfasst die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Schaffung einer Freihandelszone und eine Anpassung der ukrainischen Vorschriften und Normen an die Standards der EU.
– Der Hintergrund dafür ist, dass die deutsche Bundesregierung dem russischen Drängen nachgegeben und eingewilligt hat, eine Ukraine-Russland-EU-Verhandlungsgruppe einzurichten, die das Abkommen modifiziert. Vordergründig handelt es sich dabei nur um die Zölle auf einige Warengruppen, aber die russische Regierung hat eine Liste mit 2370 Punkten vorgelegt, bei denen sie Verhandlungsbedarf sieht.
Von Merkel zitiert dieSüddeutsche am 12.9. zudem einen Satz, den sie auf dem EU-Gipfel im Dezember 2013 sagte: «Es gibt heute eine Situation, in der die Mitgliedschaft in zwei Zollunionen nicht möglich ist.» Man werde mit Russland darüber sprechen müssen, «wie wir aus diesem Entweder-Oder herauskommen». Auszuloten, inwieweit der Ukraine dieses Entweder-Oder erspart werden kann, soll nun Aufgabe der Verhandlungsgruppe sein. Der EU-Kommissar für die EU-Erweiterung, Stefan Fule, ging am 13.September noch einen Schritt weiter: Die Ukraine soll nicht nur beiden Wirtschaftsblöcken angehören können, es sollen auch Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Eurasischen Zollunion aufgenommen werden. Letztere zählt bislang Russland, Weißrussland und Kasachstan als Vollmitglieder.
Last but not least sollen auch wieder trilaterale Verhandlungen über die russischen Erdgaslieferungen aufgenommen werden.
Alles hängt mit allem zusammen
Diese «Beschlüsse auf höchster Ebene», zu denen sicher auch die Entscheidung Russlands zu zählen ist, die meisten seiner in der Ostukraine operierenden Soldaten wieder hinter die Grenze zurückzuziehen (Meldung von Reuters am 10.September), wurden allesamt über den Kopf der ukrainischen Regierung hinweg getroffen; die Separatisten in Donezk werden sowieso nicht gefragt, auch nicht von Moskau. Diese Beschlüsse stellen einen Bruch mit der aggressiven Politik der Poroschenko-Führung dar, die den Sommer über versucht hat, den Konflikt durch massiven militärischen Einsatz, u.a. durch Luftangriffe, zu «lösen».
Dieser Versuch ist grandios gescheitert, u.a. deshalb, weil die Separatisten im August aktive russische Militärhilfe bekommen haben. Der neue Präsident der «Volksrepublik Donezk», Alexander Sachartschenko, hat Ende August dazu erklärt, in seinen Reihen würden «drei- bis viertausend Russen» kämpfen, davon seien einige Freiwillige, andere Soldaten im Ruhestand, wiederum andere noch aktive Militärs, die «ihren Urlaub in einem Einsatz im Donbass» verbringen wollten. Die Beschreibung klingt realistisch; damit würden die russischen Streitkräfte aber etwa die Hälfte der Kämpfer in der Ostukraine ausmachen – die Zahl der vor Ort Rekrutierten soll sich ebenfalls auf 4000 belaufen (in einer Region, wo allein die Hauptstadt 1 Million Einwohner zählt, der Großraum Donezk 2 Millionen! – soviel zur «Repräsentativität» dieser Führung für die örtliche Bevölkerung!).
Eine weitere Ursache des Scheiterns der militärischen Offensive Kiews ist, dass die ukrainische Armee nicht funktionstüchtig ist und es der ukrainischen Regierung auch mit Hilfe wüster antirussischer Kampagnen nicht gelingt, ausreichend Kräfte für den Aufbau einer schlagfähigen Truppe zu mobilisieren.
Auf der anderen Seite war auch Moskau offenkundig unzufrieden mit den Rebellenführern vor Ort. So unzufrieden, dass sie die Führung in Donezk und Lugansk um Igor Strelkow und Denis Puschilin Mitte August nach Moskau zurückbeorderte.
Wenn beide Seiten über die Köpfe der Ukrainer hinweg Zeichen der Entwarnung setzen, kann das nicht allein mit dem militärischen Missgeschick Kiews zu tun haben: die Abhängigkeit der EU von den russischen Gaslieferungen, die Bumerangwirkung der Sanktionspolitik vor allem für die deutsche Wirtschaft, die schlechte ökonomische Situation in Russland, aber auch die Tatsache, dass der Westen bei der Bewältigung der Nahostkrise auf die Mithilfe Russlands angewiesen ist, werden dafür eine weitaus größere Rolle spielen. Die Ukraine selbst ist im weltpolitischen Spiel nur eine mindere Schachfigur. Am Rande des EU-Gipfels vom 30.August erklärte der damals noch amtierende Kommissionspräsident Barroso: «Wir wollen keinen neuen Kalten Krieg. Wir wollen keine Konfrontation mit Russland, und wir hoffen, dass auch Russland diese nicht will.» Der italienische Premierminister Matteo Renzi, der derzeit den Vorsitz in der EU führt, wurde noch deutlicher: «Russland könnte eine Rolle spielen, wenn es Teil der internationalen Gemeinschaft wäre, zum Beispiel im Dialog mit Syrien.»
Zerfall
Was international eine begrüßenswerte Entwicklung ist, bedeutet für die ukrainische Bevölkerung jedoch nur, dass sich zwei ungleiche Räuber auf ihre Kosten einigen wollen.
Die bewaffneten Kräfte in der Ostukraine werden nicht eher Ruhe geben, bis sie eine Lostrennung von Kiew, in welcher Form auch immer, erreicht haben. Da Putin aber schon im Mai anlässlich des Referendums klargestellt hat, dass er an einer Angliederung des ukrainischen Donbass an Russland nicht interessiert ist, der Kohlebergbau in dieser Gegend aber massiv von den Subventionen Kiews abhängt, deren Fortsetzung in einem solchen Fall mindestens unklar wäre, ist nicht ersichtlich, inwiefern eine solche «Lösung» den Menschen vor Ort eine Perspektive bieten könnte.
Das bedeutet freilich nicht, dass die Separatisten nicht ein wertvoller Trumpf für Putin wären: Für ein ständiges Troubleshooting, das sich auf dem Territorium der Ukraine abspielt und das Moskau insofern als ständiges Druckmittel einsetzen kann, sind sie immer gut genug. Der Krieg in der Ukraine wird also weiter gehen und die Führung der «Volksrepublik Donezk» wird die Aussicht auf eine Föderalisierung als Ermunterung begreifen, weitere Schritte in Richtung Unabhängigkeit zu unternehmen. Nach der Einnahme von Nowoasowsk richtet sich ihr Augenmerk nun auf die Rückeroberung von Mariupol, um von da aus vielleicht einen Korridor zur Krim zu öffnen.
Die Regierung in Kiew wiederum hat den Menschen in der Ostukraine bislang nicht mehr zu bieten gehabt als einen Krieg, der vor allem die Zivilbevölkerung hohe Opfer gekostet hat – die Zahlen gehen in die Hunderte – und die Kiew- und EU-feindliche Stimmung in der Region noch gesteigert hat. Ein naheliegendes Angebot an die Ostukrainer wären Programme zur Konversion der Rüstungsindustrie, die immer noch eng mit dem militärisch-industriellen Komplex Russlands verwoben ist, und des Kohlebergbaus, der eine qualitativ schlechte, auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähige Kohle fördert. Diese Programme müssten dazu dienen, moderne Industriezweige aufzubauen und zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen. Davon wollen die auf die leichte Gasrente fixierten Oligarchen jedoch nichts wissen. Eher versuchen sie, die Defizite der ukrainischen Armee durch den weiteren Ausbau von Privatarmeen auszugleichen, die sie gegeneinander ins Feld führen. (Das gilt vor allem für den Gouverneur von Dnepropetrowsk, Igor Kolomoiski, der nicht nue «seine» Region unter eigener militärischer Gewalt hat, sondern seine Fühler auch nach Saporoshje und sogar Donezk ausstreckt.)
Das bedeutet aber nichts anderes, als dass die Ukraine de facto in eine Reihe von Oligarchen-Fürstentümern zerfällt, also eine moderne Form der Feudalisierung.
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