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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2015
Das Referendum – ein Klassenvotum
von Stathis Kouvelakis

Im Referendum vom 5.Juli lehnte die griechische Bevölkerung das von den Institutionen vorgeschlagene Sparpaket mit einer großen Mehrheit von 61,2% ab – obwohl es eine Liquiditätskrise gab, viele Banken geschlossen waren und die Medien und die Parteien des alten Regimes eine hysterische Gegenkampagne entfachten. Kaum jemand hat mit einem solchen Ergebnis gerechnet, nicht einmal in der Linken Plattform. Die meisten rechneten mit etwas um die 55%.
Stathis Kouvelakis hat diese Reaktion der Bevölkerung folgendermaßen erklärt*:
Für das starke NEIN waren mehrere Faktoren verantwortlich, in erster Linie die Klassenzugehörigkeit. Selbst Kommentatoren, die eher im Mainstream angesiedelt sind, mussten anerkennen, dass diese Abstimmung entsprechend der Klasse einzigartig in der griechischen Geschichte ist. In den Arbeitervierteln gab es 70% und mehr für ein Nein, in den Reichenvierteln 70% und mehr für ein Ja. Selbst in den traditionell stark konservativen Teilen des Landes wie etwa Lakonien nahe Sparta, Messinia und anderen Gebieten in Zentralgriechenland, wo die Rechte dominiert, überwog das Nein deutlich. Es war in allen Bezirken Griechenlands in der Mehrheit. Die hysterische Gegenkampagne der herrschenden Kräfte und die dramatische Situation, verursacht durch Bankenschließungen und Einschränkungen der Bargeldabhebungen, beförderten in den unteren Klassen sehr schnell die Erkenntnis, dass das Ja-Lager all das verkörperte, was sie hassen.
In allen Betrieben, die ich besucht habe, um für das Nein zu werben, drehte sich die Diskussion um zwei Punkte: Warum hat die Regierung bisher so wenig getan, warum ist sie so ängstlich? Und: Was werdet ihr nach dem Sieg des Nein tun? Hier war von der Ja-Kampagne nichts zu sehen. Es gab aber eine große Nervosität, was nach dem Sieg des Nein geschehen würde. Immer wieder wurde ich gefragt: Was werdet ihr tun? Warum redet ihr immer noch über Verhandlungen, wenn wir seit fünfeinhalb Monaten sehen, dass dieser Ansatz fehlgeschlagen ist?
Ebenso beeindruckend war die Radikalisierung der Jugend. Zum ersten Mal seit Beginn der Krise hat die Jugend vereint Stellung bezogen. 85% der 18- bis 24jährigen stimmten mit Nein, das zeigt, dass diese Generation, die von den Memoranden komplett geopfert wurde, eine klare Vorstellung hat, welche Zukunft sie erwartet. Europa steht für sie für Austerität, für die Erpressung ihrer Regierung und die Zerstörung ihrer Zukunftsaussichten. Das erklärt auch die entschlossenen Massendemonstrationen, die am 3.Juli in den riesigen Demonstrationen in Athen und anderen Großstädten Griechenlands gipfelten.
Ein dritter Faktor war sicher der Nationalstolz. Er erklärt, warum selbst außerhalb der großen urbanen Zentren, im ländlichen Griechenland und in den kleinen Städten, wo die Trennlinien zwischen den Klassen nicht so klar verlaufen, das Nein eine klare Mehrheit bekam.
Selbst Menschen, die der Regierung skeptisch gegenüberstehen und sich nicht mit SYRIZA oder Tsipras identifizieren, war ganz klar, dass dies ein Versuch war, eine gewählte Regierung zu demütigen und das Land unter der Herrschaft der Troika zu halten.
Im Verlauf des Referendums hat sich die öffentliche Meinung zur Eurozone verändert, es hat ein Radikalisierungsprozess stattgefunden. Ich will damit nicht sagen, die Gründe für das Nein seien einheitlich gewesen. Es gab Leute, die argumentierten, ein Nein werde der Regierung in den Verhandlungen den Rücken stärken.
In der Arbeiterklasse, der Jugend und in den verarmten Mittelschichten war aber auch das Gefühl verbreitet, dass sie nichts mehr zu verlieren zu haben und bereit sind, Risiken auf sich zu nehmen und sich einen Kampf zu liefern. Dieser Kampfgeist war äußerst beeindruckend. So etwas habe ich in Griechenland seit den 70er Jahren nicht mehr erlebt. Diejenigen, die mit Nein stimmten, haben zumindest das Risiko eines Euro-Austritts in Kauf genommen.

* http://marx21.de/griechenland-der-kampf-geht-weiter.

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