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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2017

Einflüsse, Auswirkungen und Aussichten
Interview mit Josep Maria Antentas

«Es braucht einen Fahrplan für einen Bruch mit dem nachfranquistischen Regime von 1978», sagt Josep Maria Antentas, Dozent für Soziologie an der Autonomen Universität Barcelona (UAB) und Leitungsmitglied von Revolta Global. Das Interview mit ihm führte Dan LaBotz, Mitherausgeber der US-amerikanischen Zeitschrift New Politics.

 

Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung und deren Unterdrückung durch den Spanischen Staat wird in aller Welt aufmerksam verfolgt. Was ist deine Meinung zur Lage in Katalonien?

Meine ganz traditionelle Position in dieser Frage ist die der Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts. Das beruht auf der Idee, dass man immer, wenn eine Gruppe dieses Recht in Anspruch nimmt, sich diese Position konkret anschauen muss. Seit die derzeitige Unabhängigkeitsbewegung 2012 begonnen hat, weist meiner Meinung nach das Ja zur Unabhängigkeit erheblich mehr demokratische Substanz auf als das Nein – dieses argumentiert ausschließlich im Rahmen der reaktionären Verfassung von 1978 und des damit verknüpften politischen Regimes.

 

Also hast du beim jüngsten, von der katalanischen Regierung organisierten Referendum mit Ja gestimmt?

Ich meine, dass das Ja beim Referendum es möglich macht, mit den postfranquistischen Strukturen, die wir haben, zu brechen. Das heißt nicht unbedingt, dass am Ende des Prozesses die Unabhängigkeit stehen muss. Am Ende kann ebenso gut eine Konföderation der katalanischen Republik mit Spanien stehen.

 

Welche Auswirkung hatte der Prozess bisher auf den Spanischen Staat?

Die Auswirkungen des Unabhängigkeitsprozesses auf Gesamtspanien sind sehr komplex. Kurzfristig betrachtet nutzt die spanische Rechte die Situation, um ihre soziale Basis zu festigen. In den letzten Wochen fand in Spanien zweifellos ein Rechtsruck statt. Gleichzeitig ist das Regime, dass 1978 geschaffen wurde*, ernsthaft bedroht. Wenn Katalonien unabhängig würde, ist es unwahrscheinlich, dass dieses Regime das überleben würde.

So eine tiefe Krise eröffnet Möglichkeiten zu Veränderungen im Spanischen Staat. Die entscheidende strategische Frage ist, wie wir die Frage der Unabhängigkeit mit der Perspektive eines Bruchs mit dem Regime von 1978 verknüpfen können. Es ist nötig, dass wir einseitige Aktionen in Katalonien mit den Kämpfen im gesamten Spanischen Staat verknüpfen, die die Frage des Bruchs auch hier stellen und die mehrheitsfähig ist. Die Dialektik von Zentrum und Peripherie ist komplex. Weder die katalanische Unabhängigkeitsbewegung noch Kräfte der spanischen Linken wie Podemos haben dafür gegenwärtig eine Lösung.

 

Was ist die soziale Basis der Unabhängigkeitsbewegung?

Die Hauptstützen der Unabhängigkeitsbewegung sind die Mittelklassen, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und die Jugend. Die katalanische Regierung wird von einem Bündnis zwischen der neoliberalen rechten Partei PDeCAT und der Mitte-Links Partei ERC getragen. Seit Beginn der Bewegung hat sich allerdings das Kräfteverhältnis zwischen diesen beiden Parteien zugunsten der ERC verschoben, die PDeCAT hat an Rückhalt eingebüßt. Wenn am 21.Dezember Wahlen stattfinden und die beiden Parteien ihr Bündnis fortsetzen, wird die ERC den Ton angeben.

 

Welche Rolle spielt die CUP? Und was ist der Stand der Dinge bei En Comú Podem?

Die CUP tritt für die Unabhängigkeit ein und ist die wichtigste Kraft in der antikapitalistischen Bewegung Kataloniens. In den letzten fünf Jahren ist die CUP bei Wahlen von 3 auf 9 Prozent gestiegen. Das Projekt der Unabhängigkeit geht bei der CUP deutlich über die offizielle Parole «Unabhängigkeit und sonst nichts» hinaus. Sie verknüpft die nationale Frage mit sozialen Themen. Die CUP vertritt explizit antikapitalistische Positionen und stellt sich gegen das Regime von 1978. Sie ist eine kämpferische Kraft, basisorientiert und lebt eine antibürokratische Organisationskultur. Aber sie bleibt gefangen in der Rolle des ehrlichen Maklers, der sicherstellt, dass der Unabhängigkeitsprozess auch wirklich zum Abschluss geführt wird. Die CUP übt Druck auf die Regierung aus und sorgt dafür, dass diese keinen Schritt zurückweicht. Aber die CUP verfügt über keine Strategie, um für die Linke eine soziale Basis jenseits der Unabhängigkeitsbewegung aufzubauen.

 

Mit welchen Problemen sieht sich die Linke konfrontiert?

Das größte Problem ist, dass die katalanische radikale Linke gespalten ist: Ein Teil, die CUP, ist ausschließlich innerhalb der Bewegung aktiv; der andere Teil (unter der Führung von Ada Colau, der Bürgermeisterin von Barcelona und Führungsperson von En Comú Podem) steht außerhalb und legt zur Zeit eine abwartende Haltung an den Tag. Ich meine, dass man sowohl innerhalb als auch außerhalb der Unabhängigkeitsbewegung aktiv sein muss. Man muss die Bewegung dabei unterstützen, wenn sie demokratische Forderungen stellt, die einen Bruch mit dem alten Regime befördern, auch wenn man nicht unbedingt Strategie und Ziele der Unabhängigkeitsbewegung teilt. Tatsache ist aber, dass ein Teil der Linken sich völlig raushält und damit der Rechten größeren Handlungsspielraum verschafft.

En Comú Podem unterstützt das Recht auf Selbstbestimmung, ist aber nicht für die Unabhängigkeit. Die Organisation vertritt ein Antiausteritätsprogramm, das aber nicht antikapitalistisch ist. Sie befürwortet ein Referendum über die Unabhängigkeit, das gemeinsam mit der spanischen Regierung durchgeführt wird, doch sie lehnt die Abhaltung eines einseitig ausgerufenen Referendums wie am 1.Oktober ab, wobei sie aber die Mobilisierung dafür als legitim betrachtet.

 

Und wo bleibt die Arbeiterklasse bei alledem? Ich gehe davon aus, dass die katalanische Arbeiterklasse multinational ist. Was bedeutet das in der aktuellen Situation?

Ja, ein wichtiger Teil der katalanischen Arbeiterklasse, insbesondere in der Industriearbeiterschaft, ist in den 1970er Jahren aus Südspanien zugewandert, hat also migrantische Wurzeln. Wir sollten in Kopf haben, dass die katalanische Gesellschaft in weiten Teilen zweisprachig ist, die Menschen also sowohl spanisch als auch katalanisch sprechen, allerdings ist es so, dass viele Leute im Alltag einer Sprache den Vorzug geben. Hinzu kommt: Wie Spanien insgesamt hat auch Katalonien in den letzten zwei Jahrzehnten eine starke Zuwanderung aus Lateinamerika, Osteuropa, Afrika und Asien erlebt. Die Gesellschaft ist multinational und mehrsprachig geworden. Aber sowohl die spanische als auch die katalanische Politik, einschließlich der sozialen Bewegungen, ist weitgehend «weiß» und «einheimisch» geblieben, also geprägt von Menschen, die in der Region geboren sind.

Der Teil der Arbeiterklasse, der sich an der Unabhängigkeitsbewegung beteiligt, sind die Beschäftigten im öffentlichen Dienst (Bildung und Gesundheitswesen) und junge Leute mit Universitätsabschluss, die keine angemessene Vollzeittätigkeit finden können. Die traditionelle Industriearbeiterschaft und Jugendliche mit geringerem Bildungsniveau bleiben auf Distanz zur Unabhängigkeitsbewegung. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens haben sie eine weitaus geringere Identifikation mit der katalanischen Frage, weil die Mehrheit der katalanischen Industriearbeiter hauptsächlich aus Migranten besteht, die in den 70er Jahren aus Südspanien zugewandert sind. Zweitens hat der Zerfall der Arbeitermilieus einen allgemeinen Niedergang der Arbeiterklasse zur Folge gehabt.

Während der Franco-Diktatur waren die nationale und die soziale Frage stets eng miteinander verknüpft, weil beide den gleichen Feind hatten. Das war die Zeit, als die Arbeiterbewegung auch die nationale Bewegung Kataloniens prägte. Das begann sich in den 80er Jahren zu ändern, als der konservative Nationalismus eines Jordi Pujol, bis 2003 Führer der liberalen CDC, politische dominant wurde, während gleichzeitig die Arbeiterklasse ihre einstmals vorherrschende Position im sozialen und politischen Leben Kataloniens einbüßte. Dass die Unabhängigkeitsbewegung, die sich 2012 zu entwickeln begann, sich nur die Unabhängigkeit auf die Fahnen schrieb und sich von anderen Forderungen verabschiedete, war ein schwerwiegender strategischer Fehler, der es der Unabhängigkeitsbewegung schwer machte, in der Arbeiterbewegung und in der Linken Anklang zu finden.

 

Nach allem, was du jetzt sagst, wie kann diese Bewegung weiter voran kommen?

Nach der Reaktion der spanischen Zentralregierung am 27.Oktober macht die katalanische Regierung einen völlig paralysierten Eindruck. Offenbar hat sie nicht damit gerechnet, dass die Regierung in Madrid so weit gehen würde. Sie hat nicht erwartet, dass die Regierung Rajoy mehr als symbolische Maßnahmen beschließen würde. Seit dem 27.Oktober ist deshalb auf seiten der Unabhängigkeitsbewegung keinerlei Führung mehr auszumachen. Die strategischen Mängel bei der katalanischen Regierung und den sozialen Organisationen, die den Kern der Bewegung bilden, treten offen zu Tage. Die Auflösung der katalanischen Regierung durch den spanischen Staat über die Anwendung von Artikel 155 der Verfassung, die Ankündigung von Neuwahlen durch den spanischen Ministerpräsidenten Rajoy für den 21.Dezember und die Verhaftung eines Teils der katalanischen Regierung (der andere Teil ist in Brüssel im Exil), haben die Unabhängigkeitsbewegung in die Defensive gedrängt.

 

Was sind jetzt die Prioritäten für die Linke?

Es ist wichtig, dass wir zu gemeinsamen Aktionen auf der Straße kommen (Demonstrationen usw.), inhaltlich aber unabhängig von PDeCAT und ERC bleiben. Wir müssen die Bedeutung eines Prozesses für eine konstituierende Versammlung in Katalonien hervorheben und soziale Fragen sowie das Thema Demokratie in den Mittelpunkt der Debatte stellen, nicht nur das Thema Unabhängigkeit.

 

Wie sind die Aussichten bei den vom Spanischen Staat angesetzten Wahlen am 21.Dezember?

Diese Wahlen wurden uns mit Gewalt aufgezwungen. Dennoch werden sich alle katalanischen Parteien daran beteiligen, weil es dazu keine realistische Alternative gibt. Alle Kräfte, die sich gemeinsam gegen den Block stellen, der das Regime von 1978 verkörpert, werden ihren Widerstand gegen die Auflösung des Parlaments deutlich machen und Freiheit und Amnestie für die Verhafteten fordern. Über diese rein defensiven Aspekte hinaus ist die grundlegende strategische Frage, wie ein demokratischer Fahrplan für den Bruch mit dem Regime von 1978 entwickelt werden kann, der eine Brücke bildet zwischen den Kräften, die die Unabhängigkeit anstreben, und jenen, die das nicht tun, aber das Recht auf Selbstbestimmung verteidigen.

 

Aus: New Politics, November 2017.

 

* Das «Regime von 1978» bezieht sich auf den politischen und institutionellen Rahmen der Verfassung von 1978, die sich aus dem Kompromiss zwischen den antifranquistischen Kräften und Befürwortern von Reformen innerhalb des Franco-Regimes ergab. Durch das Übereinkommen wurden die Kräfte, die das Abkommen ablehnten und einen «Bruch» mit der Diktatur wollten, marginalisiert. Das führte zu einer Art demokratischem Staat, der wichtige Aspekte des Franco-Regimes beibehalten und den herrschenden Block an der Macht nicht wesentlich verändert hat.

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