Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2019
Wie aus Geschlechteridentität Kapital geschlagen wird
von Tim Kühnel

Queer. Der Oberbegriff für alle Menschen, die nicht der Heteronormativität entsprechen, scheint in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein. Doch er bezeichnet mittlerweile mehr als nur eine Geschlechteridentität. Zunehmend gilt «queer» als Trend und Label und auch der Kapitalismus macht nicht halt davor.
Ich bin queer. Den Satz hört man mittlerweile immer häufiger, und auch ich habe mich seit einiger Zeit dazu entschlossen ihn zu verwenden, da ich mich bewusst nicht in das gesellschaftliche Bild des binären Geschlechtersystems einfügen möchte. Aber der Weg bis dahin war lang. Immer mehr junge Menschen verwenden diesen Begriff heute als Synonym für Weltoffenheit, Toleranz und als Ausdruck gegen Homophobie. Und auch wenn queere Menschen meistens diese Werte repräsentieren, wird der Begriff oft falsch verwendet. Zunehmend sehe und rede ich mit jungen Menschen, die von sich behaupten queer zu sein, jedoch weder schwul, lesbisch, transsexuell, transgender, intersexuell, bisexuell oder queer sind. Und da sehe ich das Problem. «Queer» zu sein bzw. sich so zu bezeichnen, wird immer mehr zu einem Trend, was dazu führt, dass Stimmen von LSBTTIQ*-Menschen immer weniger gehört werden, ihre Stimme geht schlichtweg in der Masse unter. Dies sehe ich kritisch.
Wir leben in einer kapitalistischen und neoliberalen Gesellschaft, und natürlich dauert es dann nicht lange, bis Unternehmen auf diesen Zug aufspringen und versuchen daraus Kapital zu schlagen. Es werden allerlei Regenbogenartikel angepriesen. Regenbogenarmbänder werden als Freundschaftsbändchen verwendet, der geliebte vierbeinige Freund trägt mittlerweile auch Regenbogenfarben, und selbst die Thermoflasche macht vor dem Label queer nicht halt.
Doch damit nicht genug, auch Streamingdienste wie Netflix und Co. labeln mittlerweile alle Serien, die auch nur ansatzweise von LSBTTIQ*-Menschen handeln, mit «queer». Schließlich lässt sich damit Geld machen. Unter Zalando-Werbung, die für abstruse Jugendmode wirbt, findet man mittlerweile immer öfter die Frage: «Ist das dieses divers?» Nein, ist es nicht. Queer ist kein Trend, keine Modeerscheinung, keine Lebensphase junger Menschen, es ist die Identität und/oder die sexuelle Orientierung von Menschen, die bis heute unterdrückt werden.
Dieser Trend geht soweit, dass nun die App «Snapchat» Fotofilter angelegt hat, die dich abweichend von deinem biologischen Geschlecht männlich oder weiblich aussehen lassen. Zumal die «weiblichen» Filter die Haut heller und glatter machen, also ein klassisches Genderklischee bedienen, doch das ist eine andere Geschichte. Hier wird also bewusst mit dem Geschlecht gespielt, und das ist problematisch, da diese Filter und Schwindeleien suggerieren, dass Geschlechteridentität einfach nur ein Spiel von Verkleidung und Fantasie ist.
Ich sehe in all dem eine Gefahr. Zwar geht es teilweise in die Richtung die ich will, nämlich die Zerschlagung des binären Geschlechtersystems und das Ende der Unterdrückung von LSBTTIQ*-Menschen, aber es führt auch zum Gegenteil und zur Stärkung des Kapitalismus. Liebe CIS-Menschen*, wir sind kein Trend! Wir möchten unsere Identität und/oder sexuelle Orientierung frei ausleben und keine Gender-Games wie den Fotofilter, wir benötigen auch nicht tausende von Artikeln im Pride-Look als Unterstützung. Wahre Unterstützer*innen sind Freund*innen und Organisationen, die uns dabei unterstützen, für unsere Rechte zu kämpfen. Diese missbrauchen aber auch meist den Begriff queer nicht, sondern sind unter dem Begriff «straight ally» bei uns willkommen.
Zuletzt möchte ich anmerken, das dies meine persönliche Meinung ist und nicht die Meinung der kompletten queeren Community repräsentiert.

Der Autor ist Aktivist und Organizer in Kassel und engagiert sich u.a. im Stadtteilladen «Rothe Ecke».

* CIS-Menschen sind Menschen, deren Geschlechtsidentität dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.

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