›Auch unter derzeitigen Bedingungen können wir Siege erzielen‹
Gespräch mit Caroline Heitmann und Jonas Schwabedissen
Krankenhausbeschäftigte schauen darauf, was ihnen der Streik gebracht hat
Was bleibt vom Entlastungsstreik im Sommer 2022 aus der Sicht der Beschäftigten? Violetta Bock sprach mit Caroline Heitmann und Jonas Schwabedissen vom Uniklinikum Essen.
Wie ist gerade die Situation im Betrieb?
Jonas: Der Tarifvertrag greift erst zum 1.Januar 2023. Das wesentliche Entlastungsmoment mit Entlastungstagen für den Pflegedienst greift frühestens ab Sommer 2024. Das ist noch lange hin. Nach dem Streik ist erstmal Erschöpfungsstimmung. Die Arbeitssituation hat sich logischerweise erst einmal verschärft, weil die geschlossenen Bereiche wieder auf sind und die generelle Lage in den Krankenhäusern sich nicht verbessert hat. Alle versuchen, durch die derzeitige Situation erstmal durchzukommen – auch mit steigenden Coronazahlen.
Caroline: In so einem großen Betrieb ist die Stimmung natürlich unterschiedlich. In der Radiologie hat sich Frustration breit gemacht, in der Anästhesie hoffen die Kolleg:innen auf Entlastung im nächsten Jahr. In der unfallchirurgischen Bettenstation sind noch immer wegen fehlendem Personal 14 Betten geschlossen, das bringt den Kolleg:innen Entlastung. In der Notaufnahme kommt Neueinstellung nach Neueinstellung. Das ist sehr gut, aber für die Bestehenden anstrengend, weil man gar nicht weiß, wie man drei neue Kolleg:innen im Frühdienst einarbeiten soll und man ihnen im Einzelfall gar nicht gerecht werden kann. Und es gibt immer wieder Lichtblicke, bei denen man denkt: Ja, das kann was werden.
Wie wurde der Streik ausgewertet und wie bereitet ihr euch auf die Umsetzung vor?
Caroline: Es fanden Bildungsurlaube statt. Das war für die Streikenden total gut, um sich unsere Erfolge vor Augen zu halten. Aber bis jetzt ist der Tarifvertrag noch nicht verschriftlicht und unterzeichnet, sondern in den letzten Zügen. Wir werden uns den genau ansehen und hoffen, dass die Umsetzung genauso gelingt. Die Auswertung fehlt noch auf vielen Ebenen. Es geht schließlich um eine riesige Bewegung, die im Sommer über NRW rollte. Da braucht man eine vernünftige Auswertung und muss strategisch die letzten Monate durchgehen.
Jonas: Ja, die Auswertung ist ein Riesenprozess, allein aufgrund der vielen Beteiligten, Ebenen und politischen Blickwinkel. Es gibt durchaus unterschiedliche Positionen, die einen gemeinsamen Blick in einzelnen Fragen unmöglich machen. Das ist für uns Betriebliche nicht unbedingt entscheidend. Wir kennen das von 2018. Im Zweifelsfall muss man den eigenen Standpunkt als Betriebliche einbringen, jede Auseinandersetzung wird von Konflikten um die richtige Strategie begleitet.
Die Umsetzung des Tarifvertrags müssen wir nun betrieblich mit dem Arbeitgeber verhandeln, etwa wo genau die 30 neuen Stellen geschaffen werden. Und natürlich müssen die Kolleg:innen nun für die Überwachung der schichtscharfen Bemessung fit gemacht werden.
Was nehmt ihr selbst von den 77 Tagen Streik mit?
Caroline: Ich könnte ein ganzes Buch darüber schreiben. Ich habe mir immer wieder gesagt: Das ist nicht das Ende der Fahnenstange. Wenn man sich die Entlastungsbewegung in Deutschland in den letzten Jahren anschaut, sieht man das Wachstum von Haus zu Haus. Unser Ergebnis ist ein riesiger Meilenstein, aber es gibt immer noch Bereiche im Krankenhaus, die nicht oder fast gar nicht abgebildet sind. Ich finde es ungerecht, als Pflegekraft vom Tarifvertrag zu profitieren, während Leute in der Bettenaufbereitung oder der Sterilisation fast gar nichts bekommen.
Es war ein großer Schritt der Organisation zu versuchen, die Tarifauseinandersetzung zu demokratisieren. Das hat in Teilen funktioniert, in anderen gar nicht. Ich finde den Ansatz total gut, dass die Beschäftigten viel mehr an die Tarifkämpfe angebunden werden und entscheiden, was in den Vertrag kommt und was nicht. Wir könnten das noch viel stärker vorantreiben, wenn wir Delegiertenräte und Tarifkommissionsmitglieder besser schulen, wenn wir die Leute für die Aufgaben auswählen und für eine Freistellung in den Zeiten sorgen. Wir haben auch viel gelernt vom Zusammenspiel von erfahrenen Gewerkschafter:innen und jungen Aktiven, die empowert wurden und große Aktionen in die Tat umgesetzt haben.
Jonas: Für mich ist die Haupterkenntnis: Nur weil gefühlt gerade alles gegen unsere Interessen läuft, heißt das nicht, dass man sich nicht wehren kann. Der Streik und das Ergebnis zeigen, dass es möglich ist, in dieser Situation der gesellschaftlichen Krise als Arbeiter:innenbewegung Siege zu erzielen, die weit über das hinaus führen, was man sich in einer Lohnrunde als normal vorstellt. Das liegt auch daran, dass wir in der Regel in den Lohnrunden um zu wenig kämpfen und zu wenig kämpfen. Wir haben diesen teuren Tarifvertrag gegen eine Landesregierung durchgesetzt, die politisch sicher kein großes Interesse an so einem Abschluss hatte. Das ist die direkte Folge davon, dass wir 77 Tage durchgehalten haben. Das kann Mut machen, weil es abstrakt für jeden gilt.
Mit Hartnäckigkeit und Kampfbereitschaft kann man Auseinandersetzungen gewinnen. Ein ganz relevanter Aspekt zusätzlich zu dem Demokratisierungsaspekt, der gegenüber 2018 sehr stark im Vordergrund stand, ist, dass wir den Streik anders als 2018 nicht unterbrochen haben. Das ist für die Durchsetzung am Ende ein wichtiger Punkt gewesen. In den letzten Streikwochen ist die Streikbeteiligung teilweise sogar stärker geworden.
Wie ist das Verhältnis zur gewerkschaftlichen und zur hauptamtlichen Struktur?
Jonas: Wir waren teilweise sehr eng in dem internen Prozess der Vorbereitung. Es gibt natürlich innerhalb der Gewerkschaft unterschiedliche Positionen, auch innerhalb des Hauptamts, wie man Tarifrunden organisiert. Da muss man viel darum ringen, das war schon 2018 so. Wir haben da einige Erfolge erzielt, aber noch nicht alle.
Caroline: Geholfen hat, sich vor Augen zu halten, dass dieser Tarifvertrag bestimmt, womit ich mich täglich auseinandersetzen muss. Der Tarifvertrag soll die Arbeitsbedingungen von mir und meinen Kolleg:innen langfristig und nachhaltig verändern. Deshalb sehe ich es als meine Verantwortung mich dafür einzusetzen, was da drin steht. Dafür brauche ich die Möglichkeit mitzubestimmen. Das haben wir ansatzweise sehr gut mit den Forderungsinterviews und den Teamratschlägen auf jeder einzelnen Station hinbekommen. Sich immer wieder vor Augen zu halten, es geht um meine Arbeitsbedingungen, war zeitweise sehr anstrengend und bedeutet auch gegenüber den Kolleg:innen noch weitere Arbeit.
Wo seht ihr Verbesserungsbedarf?
Jonas: Zum Thema Demokratisierung lohnt sich ein Blick auf die Tarifkommission, den Delegiertenrat und die ständigen Anwesenheit am Verhandlungsort in Köln. Auf der einen Seite gab es die Vorstellung – und vielen war das sehr wichtig –, dass man mit der ganzen Tarifkommission im Verhandlungsraum sitzt. Aus einer Vielzahl von Gründen war absehbar, dass das nicht so sein würde. Das war für viele ernüchternd. Ich finde das politisch gar nicht so relevant, wie viele in der Verhandlung sitzen, solange man sicherstellen kann, dass man den eigenen Verhandler:innen vertraut. Aber die Idee wurde gerade am Anfang sehr aktiv vorgetragen und das war auch ein Problem.
Auf der anderen Seite waren unsere Gremien sehr groß: eine 71köpfige Tarifkommission, ein Rat der 200 und in den Betrieben die Teamdelegierten. Dieser Rat der 200 und die Tarifkommission waren ständig in Köln anwesend, hatten unterschiedlich viel zu tun und unterschiedliche Chancen, überhaupt etwas aus den Verhandlungen zu erfahren. Das war natürlich ein Defizit. Die Frage der Rückkopplung ist da entscheidend. Es geht immer wieder darum: Wie sehr können wir unsere Verhandlungsstrategie verbreiten, bis sie zum Arbeitgeber durchdringt? Das ist ein permanenter Aushandlungsprozess.
Die großen Gremien bedeuten außerdem nicht per se mehr Demokratie. Die Qualifizierung der Kolleg:innen ist entscheidend, und die ist uns noch nicht so gut gelungen. So waren diese riesigen Gremien die ganze Zeit in Köln, aber mit ihren eigenen Standorten rein logistisch nicht mehr so viel in Kontakt. Die Erfahrungen aus Jena, Mainz, Berlin und teilweise Schleswig-Holstein lassen sich aber auf ein Flächenland wie NRW mit sechs Betrieben und großen Entfernungen nicht schematisch übertragen.
Caroline: Ich sehe das ein bisschen anders. Viele Leute haben sich den Arsch aufgerissen, ihnen war die Entfernung egal. Problematisch war, dass einige Leute in den Notdienst zurückgerufen worden sind, weil die Freistellung für den Delegiertenrat nicht ordentlich geklärt war und wir die Wartezeiten nicht ordentlich, etwa mit Schulungen gefüllt haben. Auf der anderen Seite hatte auch keiner die Kraft, wenn er um 4 Uhr morgens in Essen zurück war und um 9 Uhr wieder zurück nach Köln musste, noch einen Input vorzubereiten. Da kommt es weniger auf die Entfernung, sondern auf die Strategie dahinter an.
Jonas: Wir sind jetzt deutlich stärker aufgestellt. In vorher schwachen Betrieben entstehen gerade Betriebsgruppen, die eine Perspektive haben. In den verschiedenen Abteilungen haben wir jetzt ansprechbare Leute. Man kennt nun viel mehr Kolleg:innen durch den langen Streik im Sommer. Es gibt diese Erfahrung und dieses Gefühl: Da ist eine Kraft und eine Verbindung und Vernetzung, von der man jahrzehntelang zehren kann. Auf diesen Verbindungen muss eine Menge unserer Hoffnung für die Zukunft beruhen.
Caroline Heitmann, 28 Jahre, arbeitet seit 2017 am Universitätsklinikum Essen, in der unfallchirurgischen Notaufnahme.
Jonas Schwabedissen, 24 Jahre, arbeitet im Intermediate Care Springerpool, also als Springer auf den Überwachungsstationen.
Beide sind in der Vertrauenskörperleitung am Uniklinikum Essen und waren schon im Entlastungsstreik 2018 gewerkschaftlich aktiv.
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