Notwendige Korrekturen an einem falschen Bild
von Shir Hever
Für die deutschen Mainstreammedien und -politiker ist die Protestbewegung ein Abbild der Stereotypen über Israel: säkulare, aschkenasische (Jüdinnen und Juden europäischer Abstammung) Vertreter:innen des Hightech-Sektors und der militärischen Elite. Diejenigen, die dem Klischee »Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten« Glauben schenken, stellen sich vor, dass Israel ein Land ist, in dem solche Menschen die Mehrheit bilden.
Im gesamten von Israel kontrollierten Gebiet sind Jüdinnen und Juden jedoch lediglich eine Minderheit, etwa 48 Prozent der Bevölkerung. Innerhalb der jüdischen Bevölkerung sind diejenigen in der Mehrheit, die die derzeitige rechtsextreme Regierung unterstützen. Die Opposition stellt eine Minderheit innerhalb einer Minderheit dar.
Am 24.Juli erlitt die Protestbewegung einen Rückschlag. Trotz der fast ein halbes Jahr dauernden Proteste, erheblicher finanzieller Ressourcen für die Organisation dieser Proteste und umfangreicher Unterstützung von Israels größten Zeitungen und Medieneinrichtungen sowie Drohungen von Militärangehörigen, die sich weigerten oder versäumten, ihren Dienst zu leisten, verabschiedete die Koalition das Gesetz, das die »Angemessenheitsklausel« aufhebt, mit einer Mehrheit von 64:0. Die Opposition mit ihren 56 Sitzen boykottierte die Abstimmung.
Durch die Streichung der Angemessenheitsklausel wird dem Obersten Gerichtshof das Recht abgesprochen, die Politik der Regierung zu überprüfen, selbst wenn diese unvernünftig ist. Das ist das Ende der Gewaltenteilung in Israel.
Das Scheitern des Protests war absehbar. Die Demonstrant:innen haben bislang keine klaren Werte und Ziele in den Mittelpunkt ihrer Bewegung gestellt, sondern haben ihren Protest auf ihrer Identität und ihrem Gefühl von Privilegien aufgebaut. Sie argumentieren, als sie an der Macht waren, sei Israel eine Demokratie gewesen. Jetzt, da sie in der Opposition sind, ist es keine mehr, da dieselben Unterdrückungsmechanismen, die Israel seit seiner Gründung gegen die Palästinenser:innen einsetzt, richten sich nun auch gegen einige seiner jüdischen Bürger:innen.
Die Protestbewegung beschuldigt die rechtsextreme Regierung, sie sei »diktatorisch«, »theokratisch« und »faschistisch«. Sie ist jedoch nichts davon, sondern vielmehr eine rassistische, apartheidartige und militaristische Regierung. Das Problem ist, dass auch die früheren israelischen Regierungen rassistisch und militaristisch agiert haben und sich des Verbrechens der Apartheid schuldig gemacht haben. Die gegenwärtige Regierung ist lediglich extremer und weniger entschuldbar in bezug auf diese Politik.
Yair Lapid, Israels früherer Premierminister und jetziger Oppositionsführer, erklärte kürzlich in einem Interview, es sei eine rechtsextreme Regierung gewählt worden, weil Lapids Koalition Araber in die Regierung aufgenommen hatte. Mit anderen Worten: Er sieht die gegenwärtige Regierung und ihr Vorhaben, die israelische Justiz zu untergraben, als Strafe für die Verletzung der jüdischen Reinheit der Regierung. Seine Ansicht beweist, dass die Vorstellung eines jüdischen Staates für die meisten Israelis mit Demokratie nicht vereinbar ist.
Waffenbrüder
Obwohl die Opposition die Koalition des Faschismus beschuldigt und darauf hinweist, dass Finanzminister Bezalel Smotrich sich selbst als »faschistischen Homophoben« bezeichnete, zeigt ihre Bewegung mehr faschistische Elemente als die rechtsextreme Koalition: Sie entwickelt Personenkulte um militärische Führer wie Benny Gantz und verwendet eine sowohl rassistische als auch militaristische Sprache. Die größte Organisation der Protestbewegung nennt sich selbst »Waffenbrüder«, eine paramilitärische Bewegung, die physische Gewalt gegen Demonstrant:innen ausübt, die auf der gleichen Seite stehen und ebenfalls Kritik an der gegenwärtigen Regierung üben, es jedoch wagen, palästinensische Fahnen und Schilder gegen die Besatzung zu zeigen.
Die Protestbewegung ist nicht wirklich faschistisch, solange sie intern zerrissen, widersprüchlich und inkonsequent ist. Die Demonstrant:innen wissen, dass sie keine Aussicht auf Erfolg haben. Wenn sie die zionistische Ausgrenzungsideologie nicht aufgeben, werden die Palästinenser:innen die Proteste niemals unterstützen, und ohne die Palästinenser:innen bleiben sie eine kleine Minderheit.
Wer sind die Demonstrierenden?
Der Protest wird von zwei Gruppen angeführt und dominiert. Die erste Gruppe besteht aus Menschen in ihren späten 60er, 70er oder sogar 80er Jahren, hauptsächlich aschkenasischer Herkunft, also europäischer Abstammung. Diese Gruppe sehnt sich nach den Tagen zurück, in denen sie in den wichtigsten Institutionen des Staates hegemonial war: im Militär, dem Gewerkschaftsverband Histadrut, den Gerichten, den Mainstreammedien und im Wirtschaftssektor. Heutzutage ist die israelische Gesellschaft vielfältiger geworden, und obwohl die Diskriminierung nach wie vor alle Lebensbereiche durchdringt, sind die Entscheidungsträger:innen in bezug auf ethnische und religiöse Identität weniger homogen.
Die zweite Gruppe, die bei den Demonstrationen im Vordergrund steht, sind Menschen im Alter von Ende 30 bis Anfang 50, die sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere befinden. Diese Gruppe beteiligt sich aus einem Gefühl der moralischen Verpflichtung heraus an den Demonstrationen, zumindest um ihren Kindern erzählen zu können, dass sie ihr Bestes getan haben, um den Zusammenbruch des Staates Israel zu verhindern. Allerdings gibt es keine Anzeichen dafür, dass sie glauben, dass sie eine Chance auf Erfolg haben.
Die gleichen Menschen, die am Samstagabend in Tel Aviv demonstrieren, sind auch diejenigen, die vor den Banken Schlange stehen, um Konten im Ausland zu eröffnen und ihre Ersparnisse in Devisen umzutauschen; die nach beruflichen Möglichkeiten in anderen Ländern suchen und dringend versuchen, einen zweiten Pass oder ein Arbeitsvisum zu erhalten. Angesichts der Tatsache, dass die gebildete israelische Mittelschicht ihre Koffer packt und das Land verlassen möchte, wer kann diese Mittelklasseprotestler:innen noch ernst nehmen?
Ärztinnen und Ärzte gehören zu den prominentesten Gruppen, die den Glauben an die Zukunft des Staates Israel verloren haben und im Ausland Arbeit suchen. Eine Karikatur in der Zeitung Haaretz zeigt ein voll besetztes Flugzeug. Als die Flugbegleiterin fragt: »Gibt es einen Arzt an Bord?«, heben alle ihre Hand.
Jugend kontra ›saure Gurken‹
Die Regierungskoalition wird von überwiegend jungen Menschen unterstützt, die voller optimistischer Energie sind. Netanyahu wiederum hat die Protestbewegung als »saure Gurken« bezeichnet: Ihre Protestlieder sind ein Recycling der Lieder von vor zwanzig oder mehr Jahren. Am 26.Juli war der jüdische Feiertag Tisha Beaw (der neunte Tag des Monats Ab), ein Trauertag für den Tempel, der aus unnötigem Hass zerstört wurde. Die Opposition sah in diesem Feiertag ein Symbol für die Zerstörung des Staates Israel aufgrund von Hass. Die Koalition hingegen ist voller Optimismus und freut sich auf den Aufbau eines jüdischen Königreichs, eines neuen Tempels.
Es wäre unangebracht zu behaupten, dass die Schwäche der Protestbewegung dem entspricht, was Premierminister Netanyahu anstrebt. Er hat seine Regierung mit unerfahrenen und jungen Extremisten besetzt, die sich nicht um die Konsequenzen kümmern, die ihre Politik für die israelische Wirtschaft und das internationale Ansehen des Landes hat. Netanyahu denkt strategisch, wenn auch kurzfristig, und ist nicht ernsthaft daran interessiert, die Palästinensische Autonomiebehörde zu zerstören, die BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestition und Sanktionen gegen Israel) zu beflügeln und die internationalen Handelsbeziehungen Israels zu untergraben. Die einzige Methode, wie er seine Kabinettsmitglieder zurückhalten und sie zum Abwarten bewegen konnte, war sie zu warnen, dass die Protestbewegung die Regierung stürzen und Wahlen herbeiführen könnte, auf die eine »linkere« Regierung folgen würde.
Da es den Demonstrant:innen nicht gelungen ist, die Regierung wirklich herauszufordern, hat Netanyahu keine Ausreden mehr. Seine Koalition erlässt im Eiltempo weitere Apartheidgesetze, billigt die Zerstörung palästinensischer Siedlungen und schränkt die Menschenrechte und die Pressefreiheit sowohl für Palästinenser:innen als auch für Jüdinnen und Juden ein. Noch vor wenigen Monaten warnten die Demonstrierenden, dass die rechtsextreme Koalition das Ende der israelischen Demokratie bedeuten würde. Heute behaupten sie, dass die rechtsextreme Koalition den Staat Israel gänzlich abschaffen wird.
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