von Hermann Dierkes
Der Feldzug von israelischen Bodentruppen und Luftwaffe gegen den Gazastreifen und seine 2,3 Millionen Menschen seit Oktober letzten Jahres verschont buchstäblich nichts. Bis Ende April sind 34.305 Tote zu beklagen und über doppelt so viele Verletzte, davon sehr viele schwer. Die grosse Mehrheit der Toten und Verletzten sind Frauen und Kinder. Die Traumatisierung durch die ständigen Luftangriffe, Artilleriebeschuss und das rücksichtslose Vorgehen der Armee selbst gegen Hilfesuchende und Hungernde ist quantitativ nicht mehr zu erfassen. Die Infrastruktur ist völlig zerstört, die Wohnbebauung zu über 70 Prozent. Hunderte von Schulen, davon viele UN-Schulen, und sämtliche Universitäten sind zerbombt oder mutwillig gesprengt; Moscheen, Kirchen und Kultureinrichtungen liegen in Trümmern. 1,5 Millionen Menschen – 80 Prozent der Bevölkerung – sind vertrieben worden und konzentrieren sich im Südzipfel bei der Stadt Rafah, die meisten in behelfsmässigen Zelten ohne feste und ausreichende Versorgungseinrichtungen, bei Toiletten angefangen. Der Weg nach Ägypten ist versperrt.
Das Vorgehen der israelischen Armee hat sich von Beginn des Angriffs an gezielt auch gegen Krankenhäuser und Gesundheitsposten gerichtet. Von den 36 Krankenhäusern, darunter einige sehr grosse, ist bestenfalls noch ein Sechstel in Betrieb. Sie sind vollkommen überfüllt, u.a. auch durch Binnenflüchtlinge, die irgendeine sichere Unterkunft suchen. Der Mangel an medizinischem Gerät, Medikamenten, Material, Hygienebedarf, Lebensmitteln und Energie ist katastrophal, was nicht nur Kriegsopfer trifft, sondern auch Tausende an Epidemien Erkrankte, Krebskranke, Dialysepatienten usw. Das Personal – darunter auch das von internationalen Hilfsorganisationen – ist vollkommen überarbeitet, viele wurden verschleppt, verletzt, gefoltert, erschossen oder sind dem Bombenterror zum Opfer gefallen.
Ein besonders schweres Kriegsverbrechen wird derzeit enthüllt, das sich ebenfalls einreiht in den laufenden Völkermord. Am 7.4. hatten sich israelische Armeeeinheiten nach viermonatiger Belagerung, Beschiessung, Erstürmung und 14tägiger Besetzung des Nasser-Hospitals in der Stadt Khan Younis zurückgezogen. Was von der Armeeführung als ”mission completed” dargestellt wurde, enthüllt sich nun als brutaler Massenmord. Die noch existierenden Einheiten von Feuerwehr und Zivilschutz der Gaza-Verwaltung haben am 25.4. auf einer Pressekonferenz grausige Einzelheiten bekanntgegeben. Aus drei Massengräbern auf dem Klinikgelände sind bis dato 392 Leichen aller Altersgruppen ausgegraben worden. Von ihnen konnten bisher nur 56 – u.a. durch Angehörige – identifiziert werden, so der Chef des Gaza-Zivilschutzes Yamen Abu Sulaiman. Die Identifikation, so der anwesende Arzt Mohammed al-Moghier, werde auf Grund fortgeschrittener Verwesung oder erlittener schwerer Folter erschwert oder verunmöglicht.
Von den bisher aufgefundenen und in Plastiksäcke verschiedener Farbe hineingestopften Leichen sind nach ersten Erkenntnissen etwa 20 lebendig begraben worden – es handelt sich wohl um Patienten des Hospitals. Sie hatten noch Infusionsnadeln und Verbände am Körper, waren zum Teil verstümmelt oder man hatte ihnen innere Organe entnommen. Gefunden wurden auch etliche Leichen mit auf dem Rücken gefesselten Händen, entkleidet und mit Einschusslöchern in den Köpfen, was auf Exekutionen hinweist. Die Suchmannschaften stellen immer wieder fest, dass die Leichen in mehreren Metern Tiefe rücksichtslos übereinander geworfen sind, etliche waren mit Müll zugedeckt. Feuerwehr und Zivilschutz arbeiten an einem Bericht und haben ihre Bereitschaft erklärt, mit einer unabhängigen Untersuchungskommission zusammenzuarbeiten.
Auf die ersten Nachrichten von den Horrorfunden und Fragen nach den Tätern reagierte die israelische Seite unwirsch nach bekanntem Muster: ”Haltlose Anschuldigungen”, ”völlig unwahr”. Dann hiess es, die Armee habe Massengräber geöffnet, um nach verstorbenen Geiseln zu suchen. Nachdem man keine gefunden habe, seien die Leichen ”sorgfältig und würdevoll” wieder bestattet worden. Israel behauptete weiter, die militärischen Aktivitäten seien durchgeführt worden ”ohne dem Hospital, den Patienten oder dem Personal Schaden zuzufügen”. Feuerwehr/Zivilschutz und weitere Zeugen weisen dies als grobe Unwahrheit zurück. Die Fakten, so Al Jazeera (englisch)-Reporter Hamda Salhut und Tareq Abu Azzoum, sprechen ”eine ganz andere Sprache”. Die israelische Reaktion reihe sich wieder einmal nahtlos in das ständige Abstreiten und Vertuschen von zahllosen Kriegsverbrechen ein.
Leichenfunde dieser Art gab es bereits mehrfach an belagerten und schliesslich erstürmten Krankenhäusern, so dem grossen Al Shifa, das Ende März vollkommen zerstört wurde. Die Funde beim Nasser-Hospital haben aber nun einen weltweiten Aufschrei der Empörung ausgelöst, weil alles auf ein schweres Kriegsverbrechen hinweist. Geoffrey Robertson, renommierter Anwalt und früherer Richter, u.a. beim Europäischen Gerichtshof, spricht von ”Horror”, einem ”Verbrechen gegen die Menschlichkeit” und fordert – wie viele inzwischen – eine unabhängige Untersuchung mit internationaler Beteiligung und Forensik-Experten.
Die UN-Menschenrechtsabteilung, Human Rights Watch, zahlreiche NGOs sowie die EU fordern eine umfassende und unabhängige Untersuchung. Auch die US-Regierung, die soeben weitere 26 Mrd. Dollar für Israel locker gemacht hat, musste sich zu einer Stellungnahme bequemen, spricht von ”bedrückenden” Funden und fordert Israel zu einer ”Erklärung” auf. G. Robertson und vielen weiteren Kommentatoren reicht das absolut nicht aus. Er spricht von einem hochwahrscheinlichen schrecklichen Kriegsverbrechen, das dringend aufgeklärt werden müsse. Die Zeit dränge. Er fordert den Internationalen Strafgerichtshof auf, endlich tätig zu werden. Unverzichtbar sei jetzt, dass Israel ein unabhängiges Expertenteam zulässt. Er erinnert indes daran, dass Israel jedesmal Vorwürfe zurückgewiesen oder sich schliesslich mit ”nicht beabsichtigt” herausgeredet hat, wie bei der Ermordung von sieben internationalen Helfern der ”World Kitchen” durch gezielte Drohnenangriffe.
Marwan Bishara, Senior political Analyst beim TV-Sender Al Jazeera, sagt im Interview vom 25.4.: ”Wir mussten in den letzten Monaten schon viel Schreckliches erleben, aber die Untersuchung der Massengräber führt uns auf eine neue Stufe des Alptraums. Es handelt sich um eine noch höhere Stufe von Kriminalität, von der ich dachte, die Israelis wären clever genug, um sich nicht darin zu verstricken und Beweise zu hinterlassen. Israel mag sich politisch und juristisch wieder einmal herauswinden, aber diese Ereignisse werden in die Geschichte eingehen.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.