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Gegen Israels Völkermord und die Hamas
von Jared Abbott

Nach fast anderthalb Jahren, in denen die Palästinenser in Gaza massive Zerstörungen und kollektives Elend ertragen mussten, verschaffen sie sich nun Gehör. In den letzten Tagen haben Tausende an weit verbreiteten Protesten in der belagerten Enklave teilgenommen und das Recht auf ein Leben in Würde und Frieden in ihrem eigenen Heimatland gefordert.

Der Hauptgegenstand ihrer Proteste waren Israels völkermörderischer Krieg und Amerikas neue Vertreibungsphantasien sowie die Komplizenschaft der arabischen Regime und des Westens. Besonders kritisch äußerten sie sich auch gegenüber der Hamas und ihrer kostspieligen Form des Widerstands gegen die israelische Besatzung. Auch arabische Medien wie Al-Jazeera blieben wegen ihrer unkritischen Berichterstattung über die Hamas nicht verschont.
In Anlehnung an die Vorkriegsbewegung »Wir wollen leben« skandierten die Demonstranten in einigen der am stärksten dezimierten Gebiete im Norden des Gazastreifens: »Das Volk will die Hamas stürzen« und »Hamas raus«. Ein Demonstrant fasste die Gefühle der Bevölkerung so zusammen: »Wir haben heute demonstriert, um zu erklären, dass wir nicht sterben wollen. Letztendlich ist es Israel, das angreift und bombardiert, aber auch die Hamas trägt direkte Verantwortung, ebenso wie alle, die sich als arabische und palästinensische Führer definieren.«
Die Reaktion der Hamas war typisch für ihr autokratisches Verhalten: Statt die tiefe kollektive Wut und Empörung über den nicht enden wollenden Krieg und die systematische Erniedrigung der menschlichen Existenz in Gaza anzuerkennen, setzte sie sich über die Gefühle der Palästinenser und die Stimmung in der Bevölkerung hinweg und drohte den Demonstranten mit Strafe.
Zunächst behauptete sie, die Demonstrationen richteten sich gegen Israel als Besatzer und nicht gegen sie. Dann ging sie gewaltsam gegen die Demonstranten vor, bezeichnete sie als Verräter und Spalter und veröffentlichte eine Erklärung mit anderen militanten Gruppen, in der sie die Demonstranten offen als »verdächtige Personen« und »Kollaborateure« bezeichnete und ihnen vorwarf, die Position der Hamas bei den Geiselverhandlungen zu untergraben. Ihre Reaktion bestätigt, dass Fragen zum politischen und militärischen Agieren der Hamas in Gaza nicht für immer zum Schweigen gebracht werden können. Die Palästinenser in Gaza wollen an der Gestaltung ihrer politischen Zukunft teilhaben.

Genozid
Seit dem 7. Oktober sind die Palästinenser in einem von Israel geschaffenen Kreis der Hölle gefangen. Niemand scheint in der Lage zu sein, die Zerstörung ihrer Gesellschaft in Gaza aufzuhalten. Die Palästinenser haben weit über das normale Maß menschlicher Toleranz hinaus ausgehalten, wurden mehrfach vertrieben und können nirgendwo mehr hin, leben nun inmitten von Trümmern und Massengräbern unter unmenschlichen Bedingungen.
Die Zahlen sind erschütternd. Mindestens fünfzigtausend Palästinenser (zumeist Zivilisten) wurden direkt durch Israels Krieg getötet – mehr als zwei Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens; in einem Ausmaß und einer Häufigkeit, die es im 21. Jahrhundert noch nicht gegeben hat, und das in einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt, in dem die Hälfte der Bevölkerung Kinder sind.
Zwei Millionen Palästinenser haben keinen regelmäßigen Zugang zu sauberem Wasser oder Nahrungsmitteln und sind von akuter Unterernährungt betroffen. Jeder Tag ist ein Kampf ums Überleben.
Zweiundneunzig Prozent der Wohneinheiten in Gaza wurden zerstört oder beschädigt. Ganze Städte und Flüchtlingslager wurden von der Landkarte getilgt. Die meisten Kinder im schulpflichtigen Alter haben keinen Zugang zu formaler Bildung, da 2308 Bildungseinrichtungen zerstört wurden. Das Bildungssystem hat aufgehört zu existieren, alle Universitäten wurden zerstört. Nur sehr wenige Krankenhäuser sind voll funktionsfähig, viele sind völlig zerstört. Eine Million Kinder benötigen psychologische Unterstützung und sind dauerhaft vom Krieg gezeichnet.
Das war Israels Plan, sein Hauptkriegsziel: die Bedingungen für eine massenhafte palästinensische Flucht und Vertreibung und eine dauerhafte israelische Besatzung zu schaffen. Die beabsichtigte Folge dieses Krieges ist Völkermord. Er ist Israels Rache für den 7. Oktober. Man sieht das am Verhalten der israelischen Soldaten und hört es in israelischen Liedern über das Niederbrennen von Dörfern und das Auslöschen von Palästinensern – allen Palästinensern, nicht nur der Hamas.
Das ist der Hauptgrund für die Proteste der Palästinenser. Sie haben die Nase voll vom Massentod und davon, ein entbehrliches Volk und Spielball der kolonialer Pläne und imperialer Fantasien zu sein.

Der Militarismus der Hamas
Die Demonstranten in Gaza haben auch die Hamas als Problem bezeichnet und fordern, dass sie den Gazastreifen verlässt. Für diejenigen außerhalb des Gazastreifens, die diesen Völkermord nicht miterlebt haben, mag diese Forderung seltsam klingen: Wie können Palästinenser der wichtigsten Widerstandsgruppe in Gaza so offen kritisch und misstrauisch gegenüberstehen? Ein Abzug der Hamas ist schließlich das, was Israel als Strafe für den 7. Oktober will.
Seit dem 7. Oktober sind die Palästinenser dem völkermörderischen Zorn Israels schutzlos ausgeliefert, ohne dass die Zivilbevölkerung in Gaza geschützt wäre. Während die Palästinenser die Hauptlast der israelischen Zerstörung zu tragen haben, haben sich die Hamas-Kämpfer in die Tunnel unter dem Gazastreifen geflüchtet. Diese Praxis des Schutzes von Kämpfern, aber nicht von Zivilisten, ist Quelle des Unmuts der Bevölkerung gegen die Hamas.
Ein Beispiel dafür war das Massengemetzel letzte Woche, als Netanyahu das Waffenstillstandsabkommen mit der Hamas brach und die israelische Armee über vierhundert palästinensische Zivilisten im Gazastreifen tötete – das größte Massaker an Kindern an einem Tag seit Beginn des Krieges. Die Hamas antwortete, indem sie zwei primitive Raketen auf Tel Aviv abschoss, die vom Iron Dome abgefangen wurden.
Was die Palästinenser wütend macht, ist die Tatsache, dass solche militärischen Aktionen keinerlei Chance haben, den Krieg gegen Gaza zu beenden. Sie werfen viele Fragen zur Art des militärischen Widerstands der Hamas und dessen Wirksamkeit auf. Demonstranten haben offen über das Scheitern und die Vergeblichkeit solcher militärischen Reaktionen gesprochen, die Palästinenser eher einem Vergeltungsschlag aussetzen, als Israel abzuschrecken.
Ein weiteres Problem für die Demonstranten sind die israelischen Geiseln, die immer noch in Gaza festgehalten werden. Aufbauen auf den Erfahrungen mit dem Gilad-Shalit-Deal ging die Hamas davon aus, die Geiselnahme werde Israel zu Verhandlungen, zur Aufhebung der Belagerung des Gazastreifens und zur Freilassung aller palästinensischen politischen Gefangenen zwingen. Doch dieser Ansatz ist gescheitert.
Das Gegenteil ist eingetreten: Netanyahu benutzt die Geiseln, um den Krieg zu verlängern. Sie dienen ihm jetzt als Hauptvorwand, um den »totalen Sieg« zu erringen und sicherzustellen, dass Gaza für die kommenden Generationen befriedet wird.
Um jegliches politische Druckmittel, das die Geiseln auf seine Kriegsführung ausüben könnten, zu neutralisieren, hat sich Netanyahu dem Druck der israelischen Öffentlichkeit und der Elite widersetzt, einen Deal anzustreben und den Krieg zu beenden. Das ist ihm gelungen, und seine Regierung ist jetzt sicherer denn je.
Weder die Raketen der Hamas noch die Geiseln haben die Besatzung erträglicher machen und die Bedingungen in Gaza verbessern können. Für die Palästinenser war der Krieg ein völliges Desaster. Durch die Verhaftung Tausender von ihnen seit dem 7. Oktober (Zehntausende sitzen heute in israelischen Gefängnissen) hat Israel präventiv jeden realen Wert, den ein Geisel/Gefangenen-Austausch haben könnte, zunichte gemacht. Nach jedem Geiselaustausch nimmt Israel mehr Palästinenser fest, als es freilässt.

Ein Recht auf Leben
Die Demonstranten in Gaza haben ihre eigenen Überlegungen über die Wirksamkeit eines wahllosen militärischen Widerstands gegen Israel angestellt. In den Trümmern ihrer Städte und Häuser sehen sie nicht die angepriesenen Siege der Hamas, sondern die sinnlose Zerstörung ihrer sozialen Existenz, deren Wiederaufbau Jahrzehnte dauern wird. Sie fordern, dass eine neue Politik in Gaza ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen in den Mittelpunkt stellt.
Die Proteste bestätigen etwas Grundlegendes: den eindeutigen Wunsch der einfachen Menschen im Gazastreifen, dort zu bleiben, den Krieg zu beenden und ihr zerstörtes Heimatland wieder aufzubauen – wie schwierig das auch sein mag.
Nur kollektive Maßnahmen und Solidarität können die palästinensische Gesellschaft heilen und die neue Naqba in Gaza überwinden. Dies unterdrücken oder verzerren bedeutet, die Palästinenser in gescheiterte politische Formeln einzusperren und die Zukunft des Gazastreifens zu riskieren.
Viele Palästinenser suchen nun nach neuen antikolonialen Emanzipationsstrategien – weg von den verbrauchten Rezepten, sei es im Gazastreifen oder im Westjordanland.

Gekürzt nach: https://jacobin.com/2025/04/palestinians-genocide-hamas-israel-protests.

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