Palästinensische Stimmen zum Angriff des 7.Oktober
Vorspann:
Der nachstehende Artikel hat in der Redaktion für erhebliche Diskussion gesorgt – von inhaltlicher Kritik bis hin zur Forderung, den Artikel von der Webseite zu nehmen. Die Redaktion hat sich darauf geeinigt, ihm online einen Vorspann voranzustellen.
Die Diskussion zeigte, dass der Artikel sehr unterschiedlich gelesen wurde. Einige sehen darin eine Rechtfertigung des Überfalls der Hamas vom 7.Oktober und eine kritiklose Übernahme ihrer Positionen (einschließlich nachweislich falscher propagandistischer Behauptungen). Das war jedoch nicht die Intention für seine Veröffentlichung. Tatsächlich lässt der Artikel verschiedene palästinensische Stimmen zu Wort kommen – eine solche, die den Angriff ablehnt, weil er palästinensischen Sache schaden, ebenso wie solche, die ihn aus der hoffnungslosen Lage der Palästinenser:innen erklären, ohne der Hamas ein politisches Vertrauen zu schenken, außerdem die Hamas selbst. So gelesen, verdeutlicht der Artikel die Zwangslage, in der sich die palästinensische Bevölkerung befindet, die das Recht auf Widerstand hat, aber nur eine reaktionäre Führung. Problematisiert wurde, dass an einigen Stellen des Artikels der Eindruck entsteht, auch die Gräueltaten des 7.Oktober könnten Teil eines legitimen Widerstands sein. Davon distanzieren wir uns ausdrücklich. Die zivilen Opfer auf beiden Seiten, sowohl der israelischen als auch der palästinensischen, sind nicht zu rechtfertigen.
Vielmehr wäre es interessant zu erfahren, wann und warum die palästinensische Linke gescheitert ist und welche Auswege sie diskutiert. In einer der kommenden Ausgaben wollen wir uns dieser Frage widmen. Es geht dabei nicht darum, was wir für richtig oder falsch halten, sondern zuzuhören und zu verstehen, welche Schlussfolgerungen sie aus gegenwärtigen Entwicklung ziehen.
d.Red.
Die Hamas-Führung hat ihre Operation am 7.Oktober als gerechte Rebellion gegen eine Besatzungsmacht bezeichnet, die einen militärischen, politischen und wirtschaftlichen Krieg gegen die Bevölkerung von Gaza führt. »Sie haben uns keine andere Wahl gelassen, als die Entscheidung selbst in die Hand zu nehmen und zurückzuschlagen«, sagt Dr.Basem Naim, ein hochrangiges Mitglied des Politischen Büros der Hamas und ehemaliger Regierungsminister in Gaza.»
Der 7.Oktober ist für mich ein Akt der Verteidigung, vielleicht die letzte Chance für die Palästinenser, sich zu verteidigen.« Der Mediziner Naim gehört zum inneren Kreis um den ehemaligen Premierminister des Gazastreifens, Ismail Haniyeh, den obersten politischen Führer der Hamas, der seinen Sitz in Doha, Qatar, hatte. [Er wurde am 31.Juli 2024 von Israel in Teheran ermordet.]
Nach dem 7.Oktober war Naim einer der wenigen Hamas-Funktionäre, die befugt waren, öffentlich im Namen der Bewegung zu sprechen. »Die Menschen in Gaza hatten eine von zwei Möglichkeiten: Entweder sie sterben an der Belagerung, an Unterernährung und Hunger, an fehlenden Medikamenten und fehlender Behandlung im Ausland oder sie sterben durch eine Rakete. Wir haben keine andere Wahl«, verteidigte Naim in einem Interview die Angriffe gegen Israel. »Wenn wir uns entscheiden müssen, warum sollten wir dann die guten Opfer sein, die friedlichen Opfer? Wenn wir sterben müssen, müssen wir in Würde sterben: stehend, kämpfend, zurückschlagend und als würdige Märtyrer.
Vor den Anschlägen vom 7.Oktober deuteten Meinungsumfragen im Gazastreifen und im Westjordanland darauf hin, dass die Unterstützung für die Hamas rückläufig war. Laut einer Umfrage unterstützten nur 23 Prozent der Befragten die Hamas in hohem Maße, mehr als die Hälfte äußerten sich negativ. »Der Krieg vom 7.Oktober kehrte diesen Trend um und führte zu einem starken Anstieg der Popularität der Hamas«, sagte Arab Barometer.
Eine neuere Umfrage des Palästinensischen Zentrums für Politik- und Umfrageforschung, deren Ergebnisse Mitte Juni 2024 veröffentlicht wurden, ergab, dass zwei Drittel der Bevölkerung des Gazastreifens den Angriff auf Israel am 7.Oktober weiterhin befürworten, mehr als 80 Prozent sagen, dass dieser Angriff Palästina in den Mittelpunkt der weltweiten Aufmerksamkeit gerückt habe. Mehr als die Hälfte der befragten Bewohner des Gazastreifens gaben an, sie hofften, die Hamas werde nach dem Krieg an die Macht zurückkehren. »Sie haben das Vertrauen in den Frieden mit Israel verloren. Die Menschen glauben, dass der einzige Weg jetzt darin besteht, gegen Israel zu kämpfen«, sagte Ghazi Hamad, der ehemalige stellvertretende Außenminister der Hamas und langjähriges Mitglied ihres Politischen Büros.
Dr.Yara Hawari, Kodirektorin von Al-Shabaka, einer unabhängigen palästinensischen Denkfabrik, sagte, die Bewertung der Rolle, die die Angriffe der Hamas am 7.Oktober für die wachsende weltweiten Bewegung zur Unterstützung der Palästinenser:innen gespielt haben, werfe komplexe moralische Fragen auf. »Hätte das israelische Regime im Gazastreifen keinen Völkermord begangen, würden wir dann ein solches Ausmaß an Solidarität erleben? Ich denke, das ist eine schwer zu beantwortende Frage. Es ist auch eine unangenehme Frage, denn ich glaube nicht, dass die Palästinenser für die Solidarität von Menschen auf der ganzen Welt mit Blut bezahlen sollten, und schon gar nicht mit über 40000 getöteten Menschen.«
Die Hamas hat betont, ihr Ziel am 7.Oktober habe darin bestanden, den Status quo zu erschüttern und die USA und andere Nationen zu zwingen, sich mit der Notlage der Palästinenser zu befassen. Nach Ansicht informierter Analysten ist ihr dies gelungen. »Am 6.Oktober war Palästina von der regionalen und internationalen Tagesordnung verschwunden. Israel ging einseitig mit den Palästinensern um, ohne Aufmerksamkeit oder Kritik zu erregen«, sagte Mouin Rabbani, ein ehemaliger UN-Beamter, der als Sonderberater für Israel/Palästina für die International Crisis Group tätig war.
US-amerikanische und israelische Beamte reagieren auf Fragen nach der hohen Zahl der Todesopfer im Gazastreifen oder dem Massenmord an Frauen und Kindern in den letzten neun Monaten häufig mit der alleinigen Schuldzuweisung an die Hamas. »Keines der Leiden wäre geschehen, wenn die Hamas nicht getan hätte, was sie am 7.Oktober getan hat«, ist ein Satz, den Außenminister Antony Blinken gerne wiederholt. Das ist eindeutig unwahr. Aber entbindet die jahrzehntelange Brutalität der israelischen Besatzung die Hamas von jeder Verantwortung für die Folgen ihres Handelns am 7.Oktober?
»Diese Todesfälle sollten die israelischen Führer auf dem Gewissen haben, die beschlossen haben, all diese Menschen zu töten«, sagte Rashid Khalidi, Autor des Buches Der Hundertjährige Krieg um Palästina und weithin als der führende US-Historiker Palästinas angesehen. »Aber sie sollten auch bis zu einem gewissen Grad auf dem Gewissen der Leute sein, die [die Operation am 7.Oktober] organisiert haben. Sie hätten wissen sollen und müssen, dass Israel nicht nur an ihnen, sondern vor allem an der Zivilbevölkerung verheerende Rache üben würde. Das Endergebnis könnte die dauerhafte Besetzung, Zerstörung und vielleicht sogar die Vertreibung der Bevölkerung von Gaza sein, und in diesem Fall glaube ich nicht, dass irgendjemand den Organisatoren dieser Operation Glauben schenken möchte.«
Die palästinensisch-amerikanische Schriftstellerin Susan Abulhawa ist seit Beginn der Belagerung im letzten Herbst zweimal nach Gaza gereist und hat den bewaffneten Widerstand der Palästinenser ohne Umschweife verteidigt. Sie weist die Vorstellung zurück, dass die Hamas für das massenhafte Töten von Zivilisten in Gaza durch Israel seit dem 7.Oktober verantwortlich ist. »Das ist in etwa so, als würde man den Leuten beim Warschauer Aufstand sagen, ihr hättet wissen müssen, dass das deutsche Militär so reagieren würde, wie es getan hat, und dass ihr für den Tod anderer Bewohner des Warschauer Ghettos verantwortlich seid«, sagte Abulhawa. »Als Palästinenserin bin ich dankbar dafür. Ich denke, was sie getan haben, ist etwas, das keine noch so gute Verhandlung jemals erreichen konnte. Nichts, was wir getan haben, konnte das erreichen, was sie am 7.Oktober getan haben. Und ich sollte sagen, dass es eigentlich nicht so sehr um das geht, was sie getan haben, sondern dass es Israels Reaktion war, die zu einer Verschiebung des Narrativs geführt hat, weil sie endlich vor der Welt nackt dastehen.«
Die israelische Sozialversicherungsbehörde hat die offizielle Zahl der Todesopfer vom 7.Oktober mit 1139 Personen angegeben. Unter den Getöteten befanden sich 695 israelische Zivilisten, 71 ausländische Zivilisten und 373 Angehörige der israelischen Sicherheitskräfte. So entsetzlich die Zahl der zivilen Todesopfer am 7.Oktober auch war, die Botschaft der USA und Israels war und ist eindeutig: Das Leben von Israelis ist exponentiell mehr wert als das von Palästinensern.
Die Hamas hat Behauptungen, ihre Kämpfer hätten am 7.Oktober absichtlich Zivilisten getötet, stets bestritten. »Möglicherweise sind bei der Durchführung der Operation Al-Aqsa-Flut einige Fehler passiert, die auf den raschen Zusammenbruch des israelischen Sicherheits- und Militärsystems und das Chaos zurückzuführen sind, das in den Grenzgebieten zum Gazastreifen entstanden ist«, heißt es. Yahya Sinwar, ranghöchster Hamas-Führer in Gaza, räumte Berichten zufolge nach dem 7.Oktober gegenüber seinen Kameraden ein, dass »die Dinge außer Kontrolle gerieten« und »Menschen darin verwickelt wurden, und das hätte nicht passieren dürfen«.
Rabbani sagte, es sei unbestreitbar, dass die Hamas bei den Anschlägen vom 7.Oktober Zivilisten getötet habe, und äußerte ernsthafte Zweifel an der offiziellen Position der Gruppe, dass die Al-Aqsa-Flut nur auf das israelische Militär abzielte. »Die Hamas hat eine Vorgeschichte mit Selbstmordattentaten gegen zivile Busse und Restaurants und so weiter während der zweiten Intifada. Aber ich frage mich auch, inwieweit es vorsätzlich war. Es würde mich sehr interessieren, inwieweit die Hamas beabsichtigte, der israelischen Gesellschaft, und nicht nur dem israelischen Militär, einen furchtbaren traumatischen Schlag zu versetzen. Es gibt Beweise, die dies belegen. Es gibt auch Beweise, die dem widersprechen. Aber ich denke, das ist eine Frage, die es wert ist, genauer untersucht zu werden.«
In den Jahren vor den Anschlägen vom 7.Oktober, unter den Präsidenten Trump und Biden, musste die Hamas mit ansehen, wie Israel immer stärker ermutigt wurde, während die Aussichten auf eine Befreiung der Palästinenser:innen zu Fußnoten bei den von Washington geführten Initiativen zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und arabischen Staaten wie Saudi-Arabien, Qatar und den Vereinigten Arabischen Emiraten wurden. Netanyahus Position war: »Wir dürfen den Palästinensern kein Veto gegen neue Friedensverträge mit arabischen Staaten einräumen.«
Nur zwei Wochen vor den Anschlägen vom 7.Oktober hielt der israelische Regierungschef eine Rede vor der UN-Vollversammlung in New York, in der er eine Karte des »Neuen Nahen Ostens« vorstellte, wie er versprach. Sie zeigte einen Staat Israel, der sich durchgehend vom Jordan bis zum Mittelmeer erstrecken würde. Der Gazastreifen und das Westjordanland als palästinensische Gebiete wurden ausradiert.
In dieser Rede stellte Netanyahu die vollständige Normalisierung der Beziehungen zu Saudi-Arabien als Dreh- und Angelpunkt seiner Vision für diese »neue« Realität dar, die die Tür öffnen würde zu einem »visionären Korridor, der sich über die Arabische Halbinsel und Israel erstrecken wird. Er wird Indien mit Europa verbinden, mit Seeverbindungen, Eisenbahnverbindungen, Energiepipelines und Glasfaserkabeln.«
Die Hamas verfolgte diese Entwicklungen aufmerksam und betrachtete die Schritte der USA zur Umgehung einer palästinensischen Resolution durch ihre Normalisierungskampagne als existenzielle Bedrohung. »Wenn Saudi-Arabien unterschreibt, bedeutet das, dass die gesamte Region, was die palästinensische Frage betrifft, zusammenbrechen wird. Das ist kein Plan. Es ist kein Friedensprozess. Es ist eine Integration Israels in den neu geschaffenen Nahen Osten. Sie haben begonnen, über die NATO im Nahen Osten zu sprechen«, sagte Naim. »Es ist ein Putsch gegen das Erbe, die Geschichte, die Werte dieser Region und gegen die Zukunft, all das zusammen.«
Abulhawa sagte, sie habe während ihrer Reisen in den Gazastreifen mit den Menschen darüber gesprochen, wie sie die Hamas sehen, und sei dabei auf komplexe, nuancierte und manchmal widersprüchliche Sichtweisen gestoßen. »Das Trauma sitzt tief. Und sie werden Ihnen im gleichen Atemzug zwei widersprüchliche Geschichten erzählen. Auf der einen Seite sind sie wütend. Und manchmal geben einige der Hamas die Schuld, aber jeder weiß, wer sie bombardiert. Jeder.«
9.Juli 2024
Das Gespräch führte Jeremy Scahill.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.