Ein Rückblick auf die jüngste Geschichte des Landes
von Leo Gabriel
Die misslungenen Präsidentschaftswahlen vom 28.Juli werfen in dem wirtschaftlich wie politisch abgesackten Land nicht nur Schatten voraus, sie sind auch Anlass, sich mit der weithin unbekannten Geschichte ernsthaft auseinanderzusetzen.
Der Fluch des Erdöls
Seit der Entdeckung gigantischer Erdölfunde in den 1950er Jahren ist dieses Land nicht zur Ruhe gekommen. Bis 1958 riss eine Abfolge von Militärdiktaturen Venezuela aus hundert Jahren Dornröschenschlaf. Danach folgte eine parlamentarisch abgestützte Präsidentschaftsrepublik nach europäischem Vorbild, in der Christdemokraten und Sozialdemokraten einander die Klinke reichten und die Gesellschaft in zwei Teile gespalten war: eine relativ schmale obere Mittelschicht, die vom »Trickle-down«-Effekt der riesigen, von US-amerikanischen und westeuropäischen Erdölkonzernen beherrschten Wirtschaft profitierte, und die breite Masse von verarmten, entwurzelten Bauern und Stadtbewohnern, die eine Art Lumpenproletariat bildeten.
1998 drehte sich der Spieß um, als nach einem Aufstand (Caracazo) ein damals relativ junger Oberst namens Hugo Chávez Frías im Namen der entrechteten, verarmten Zivilbevölkerung, aber auch einer jungen Garde venezolanischer Militärs nicht nur zu einer Stimme, sondern auch zu einer nahezu absoluten Macht verhalf.
Diese sogenannte »Bolivarianische Revolution«, die Chávez etwas später als »Sozialismus des 21.Jahrhunderts« bezeichnete, erneuerte das Bildungs- und Gesundheitswesen, schuf eine linksliberal ausgerichtete Verfassung mit besonderer Berücksichtigung der indigenen Bevölkerung und entzog der herrschenden Oberschicht die Kontrolle über die staatliche Erdölgesellschaft PDVSA, was im April 2002 prompt zu einem von den USA eingefädelten, misslungenen Putschversuch der korrupten Oberschicht führte.
So nebenbei richtete Chávez auch das modernste Wahlsystem ein, von dem bisher in einem Dutzend Präsidentschafts-, Parlaments- und Gemeinderatswahlen Gebrauch gemacht wurde. Es besteht darin, dass jeder Wähler und jede Wählerin neben der physischen Stimmabgabe auch ein speziell eingerichtetes, computergesteuertes Gerät bedienen muss, dessen Resultat mit den physisch abgegebenen Stimmen übereinstimmen muss.
Kampf und Krampf für und gegen Maduro
Als Chávez im Januar 2013 einem langdauernden Krebsleiden erlag, roch die in den Wahlen immer unterlegene rechtsgerichtete Opposition Lunte und ging gegen den von Chávez bestimmten und durch Wahlen legitimierten Nachfolger, den Gewerkschafter und ehemaligen Außenminister Nicolás Maduro, mit teilweise sehr gewaltsamen Methoden vor. Die Straßenkämpfe der sogenannten »Guarimbas«, bei denen die Polizei gewaltsam durchgriff, hinterließen im Saldo hunderte Tote und Schwerverletzte, die Anführer kamen jahrelang hinter Gitter.
Dabei führte die rechtsgerichtete, von den USA unterstützte Opposition gegen Maduro immer schon eine doppelte Strategie: Einerseits versuchte sie mit Hilfe einer relativ kleinen Gruppe von Militärs und der vor drei Jahren noch reaktionären Regierung Kolumbiens, einen Putsch vorantreiben, der letztendlich scheiterte; andererseits wollte sie sich bei den in Venezuela sehr häufig stattfindenden Wahlen durchsetzen. Da letzteres von der Regierung Joe Bidens in den USA nicht nur befürwortet, sondern auch mit der Abschaffung der, ähnlich wie in Kuba, gegen Venezuela verhängten Sanktionen verknüpft wurde, kam den Präsidentschaftswahlen am 28.Juli 2024 eine im wahrsten Sinn des Wortes historische Bedeutung zu.
Dafür sprach auch die mit über 60 Prozent relativ hohe Wahlbeteiligung. Zwar legte Maduro von vornherein die Latte sehr hoch, indem er mit bürokratischen Argumenten nur etwa 60000 von sieben Millionen ins Ausland geflüchteten Venezolanerinnen und Venezolanern das Wahlrecht zugestand. Aber auch der Gegenkandidatin María Corina Machado, auf die sich die Opposition letztendlich geeinigt hatte, verbot er, sich als Kandidatin zu präsentieren, weshalb diese einen Strohmann, den ehemaligen Exdiplomaten und CIA-Mann Edmundo González ins Rennen schickte.
Trotzdem hatte sich schon im Vorfeld der Wahlen gezeigt, dass unglaublich viele ehemalige Anhänger:innen von Hugo Chávez aufgrund der katastrophalen Lage und der von Korruption geprägten Misswirtschaft ins Lager der Opposition gegen Maduro gewechselt sind. In Venezuela lebt derzeit mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und ist von monatlichen Esspaketen abhängig, die ihr die Regierung bei politischem Wohlverhalten zugesteht.
Wie dem auch sei: Lange bevor die Stimmen in der Wahlnacht ausgezählt waren, erklärte sich Nicolás Maduro mit 51,9 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen zum Wahlsieger. Dabei waren über 20 Prozent noch gar nicht ausgezählt, weil das oben geschilderte Wahlsystem angeblich einem »Angriff terroristischer Hacker« zum Opfer gefallen war. Doch wie man es dreht und wendet, das angegebene Endresultat scheint äußerst unglaubwürdig und an seinem Zustandekommen waren auch keine Wahlbeobachter zugelassen.
Dieser Umstand führte dazu, dass US-Außenminister Antony Blinken das von Maduro hinausposaunte Resultat nicht anerkannte und die Wiederholung der Wahlen forderte. Aber auch in Lateinamerika und im Land selbst meldeten linksliberale Regierungen und namhafte Persönlichkeiten der Linken Zweifel an, solange bis die endgültigen Resultate vorlägen.
Vermittlungsangebote
Der brasilianische Präsident Luiz Inácio (Lula) da Silva hat nach fast dreiwöchigen Unruhen nach der Wahl vorgeschlagen, in Venezuela neue Präsidentschaftswahlen abzuhalten. Zusammen mit dem kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro und dem mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador hat Lula nach den Wahlen eine Vermittlerrolle eingenommen und die venezolanischen Wahlbehörden aufgefordert, die vollständige Auszählung der Stimmen zu veröffentlichen – was sie bisher nicht getan haben – und gleichzeitig davon abzusehen, den Sieg des Oppositionskandidaten Edmundo González zu erklären. Lula wies darauf hin, dass Maduro noch sechs Monate seiner Amtszeit vor sich hat und, »wenn er vernünftig ist«, »Neuwahlen ausrufen, einen Wahlausschuss einsetzen und Beobachter aus aller Welt zulassen könnte«.
Die venezolanische Oppositionsführerin María Corina Machado hat die Idee energisch zurück: »Die Wahlen haben bereits stattgefunden«, eine weitere Abstimmung wäre »eine Beleidigung« für das venezolanische Volk. González veröffentlichte ein Video, in dem er Maduro aufforderte, die Wahl zu respektieren und einen friedlichen Übergang herbeizuführen. Er warf Maduro vor, mit dem Leben der Menschen zu spielen und das Land »in einen wirtschaftlichen und politischen Abgrund« zu führen.
Petro seinerseits schlug in einem Beitrag auf X ein Abkommen zur Teilung der Macht vor, das sich, wie er sagt, an den Erfahrungen der kolumbianischen Nationalen Front orientiert. Der Plan würde Folgendes beinhalten: »Die Aufhebung aller Sanktionen gegen Venezuela. Eine allgemeine nationale und internationale Amnestie. Volle Garantien für politische Aktionen. Eine Übergangsregierung der Kohabitation. Neue freie Wahlen«, schrieb Petro. Berichten zufolge hat sich López Obrador von den Vermittlungsbemühungen zurückgezogen und erklärt, er wolle eine Überprüfung der Wahlen durch den Obersten Gerichtshof Venezuelas abwarten.
Maduro hält unterdessen an seinem Anspruch auf den Sieg fest, obwohl von der Opposition veröffentlichte Beweise auf einen entscheidenden Sieg von González hindeuten. Maduro rief den Staat dazu auf, mit »eiserner Faust« gegen Demonstrant:innen vorzugehen, die die Position der Regierung anfechten, und versprach »strenge Gerechtigkeit« für Aufwiegler. Bei dem brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte wurden schätzungsweise 25 Menschen getötet und zwischen 1500 und 2000 inhaftiert. Die venezolanischen Streitkräfte haben sich geschlossen hinter die Regierungspartei gestellt, berichtet El País, die Militärführung habe Maduro angesichts der Betrugsvorwürfe »absolute Loyalität« geschworen.
Mitte August veröffentlichte eine Gruppe von 25 Menschenrechtsorganisationen eine gemeinsame Erklärung, in der sie die »systematische Repression der Regierung gegen Menschenrechtsaktivist:innen und Demonstrant:innen« verurteilte. In der Erklärung heißt es: »Diese Akte physischer und gewaltsamer Repression gegen die Zivilbevölkerung erfordern ein sofortiges Eingreifen internationaler Gerichte und Schutzorganisationen, einschließlich des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen.«
Ein UN-Expertengremium, das zur Beobachtung der Wahl am 28.Juli eingeladen wurde, veröffentlichte einen Bericht, in dem es heißt, dass die nationale Wahlbehörde des Landes grundlegende Kriterien der Transparenz und Integrität »nicht erfüllt hat, die für die Abhaltung glaubwürdiger Wahlen unerlässlich sind«. Die Entscheidung der Regierung, einen Wahlsieg zu verkünden, ohne die Wahldaten zu veröffentlichen, »hat keinen Präzedenzfall in modernen demokratischen Wahlen«, heißt es in dem Bericht.In einem Meinungsbeitrag für Ojalá schrieb Alexander Hall Lujardo, der Tumult nach den Wahlen markiere »das Ende des bolivarischen Emanzipationszyklus«. Er argumentiert, dass »die repressive Natur von Maduros Regime das demokratische, partizipatorische und volksnahe Erbe, das Chávez jahrelang betreute, ruiniert hat«.
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