Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2024


Die Perspektiven der Linken nach ihrem Sieg im zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen
Gespräch mit Olivier Besancenot

Macron lässt sich sichtbar Zeit mit der Regierungsbildung. Und auch bei der Neuen Volksfront (NFP) ist die Findung einer gemeinsamen Kandidatin für das Amt der Premierministerin holprig verlaufen. Meinst du, Macron wird Lucie Castets am Ende doch akzeptieren und zur Premierministerin ernennen?

Indem die Neue Volksfront Lucie Castets vorschlug, umging sie eine Klippe: Sie wollte vermeiden, Macron ein wichtiges Argument zu liefern, um das Wahlergebnis abzulehnen, nach dem Motto: »Die Linke ist unfähig, sich auf einen Namen zu einigen, also werde ich eine andere Regierung bilden … mit der Rechten!« Aber Macron bleibt stur, im Grunde geht es ihm um seine Legitimität gegenüber der Öffentlichkeit.
Die Verhältnisse in Frankreich sind jedoch dauerhaft unregierbar, wir stecken in einer Dauerkrise, einer Regimekrise. Die Fünfte Republik, die auf dem Ultrapräsidialsystem beruht, bei dem der Präsident zugleich die Funktionen des Staatsoberhaupts, des Regierungschefs und des Obersten militärischen Befehlshabers innehat, ist abgenutzt bis auf die Knochen. Sie bietet den herrschenden Klassen nicht einmal mehr Gewähr für Stabilität. Daher die Versuchung, mit der extremen Rechten einen bürgerlichen Block der Ordnung zu bilden.
Macron wird also das Wahlergebnis so weit wie möglich ablehnen und auf Biegen und Brechen eine Regierung durchsetzen wollen, die nicht eine der Neuen Volksfront ist.
Die Herausforderung für die NFP besteht darin, sich nicht allein auf ihren Regierungsvorschlag zu konzentrieren, sondern damit zu beginnen, eine institutionelle Alternative zu formulieren: Demokratie von unten nach oben, Verfassunggebende Versammlung, Bruch mit dem Präsidialsystem, eine Nationalversammlung, die aus nur einer Kammer besteht und von der Bevölkerung kontrollierbar ist… Sie muss eine Perspektive für eine gemeinsame Mobilisierung bieten, um ihr Programm durchzusetzen unabhängig davon, wie die institutionelle Lage ist: Lohnerhöhungen, Verteilung des Reichtums durch Einbehaltung der Profite, Recht auf Rente mit 60… Ab dem kommenden Schulbeginn muss die Dynamik wiederbelebt werden, die wir während der Wahlkampagne gespürt haben.

Versucht die extreme Rechte, mit den Konservativen zusammen eine Regierung zu bilden?

Die Neuformierung der Rechten und der extremen Rechten ist noch nicht abgeschlossen. Auch Macron versucht, ein Bündnis mit den Konservativen einzugehen, die dadurch in die Zange genommen werden. Die neofaschistische Gefahr in Frankreich ist noch lange nicht vorüber. Wir haben nur einen Aufschub bekommen, der für uns aber lebensrettend sein muss.
Die Wurzeln unserer Schwächen sitzen tief. Zunächst glaube ich, dass selbst auf der Linken lange Zeit die Tatsache unterschätzt wurde, dass es recht eigentlich einen französischen Faschismus gibt. Man hielt an der Vorstellung fest, dieser sei ein ausländisches Produkt, das sich uns im Zuge der Besatzung, der Kollaboration und des Vichy-Regimes aufgedrängt habe. Dabei wird vergessen, dass es in Wirklichkeit eine einzigartige Wurzel des Faschismus in Frankreich gibt, so alt wie die Französische Revolution und die konterrevolutionären Reaktionen, die sie hervorgebracht hat. Deren Ideen sind tief in einem Teil der autoritären und konservativen Rechten verwurzelt.
Vergessen wurde, dass der »politische« Antisemitismus in Frankreich mit der Dreyfus-Affäre entstanden ist, und zwar in den Reihen der nationalistischen, konservativen, um nicht zu sagen monarchistischen Rechten.
Und dann wurde vergessen, dass die Rassentheorie zuerst in Frankreich von Arthur de Gobineau im Rahmen der »republikanischen« französischen Kolonialgeschichte entwickelt wurde.
Diese Strömung ist nie verschwunden. Sie taucht jetzt deshalb wieder auf, weil sie mit einer weltweiten Tendenz einhergeht, bei der ein Teil des Kapitals offen für Autoritarismus oder sogar Neofaschismus eintritt, um mit allen notwendigen Mitteln wieder eine Ordnung herzustellen und die systembedingte, kapitalistische Unordnung mit der Brechstange einzudämmen.
Wir müssen dieser Situation und dieser Gefahr gewachsen sein. Wir haben jetzt einen kleinen Vorgeschmack davon bekommen, dass man, um die faschistische Rechte aufzuhalten, sie nicht nur stoppen, sondern auch eine andere Politik vorschlagen muss. Eine solche Perspektive hilft zweifellos, unser eigenes gesellschaftliches Lager und die Jugend erneut zu mobilisieren.

Wie sind die Kräfteverhältnisse innerhalb der NFP?

Die NFP ist nur ein Linkskartell. Zu Beginn des Prozesses war es eine Einigung zwischen den Führungsspitzen, ohne die wäre ein Wahlsieg nicht denkbar gewesen. Doch sehr schnell hat sich der Rahmen erweitert und umfasst jetzt Kollektive, soziale Bewegungen an der Basis…
Die NFP ist nicht die Volksfront von 1936, auch nicht die Union de la gauche von 1981, nicht die Gauche plurielle von Jospin 1997 und auch keine Neuauflage der NUPES. Deshalb hat die NPA beschlossen, dabei zu sein. An der Basis ist wirklich etwas passiert, das haben wir erlebt. Dies gesagt, bleibt noch alles zu tun.
Während der starken Mobilisierung gegen die Rentenreform im letzten Jahr war es ein bisschen so: Das Gewerkschaftskartell Intersindicale gab das Tempo vor, die Mobilisierung ging schnell über den vereinbarten Rahmen hinaus, brachte sich aber selbst nicht so stark ein, dass sie Druck auf die Intersindicale hätte ausüben, um einen anderen Mobilisierungsrhythmus durchzusetzen. Da gab es viel Unentschlossenheit.

Wie beurteilst du La France Insoumise (LFI)? Ich habe den Eindruck, dass sie sich radikalisiert und gleichzeitig für andere Strömungen öffnet. Trifft das zu?

Die Situation der LFI ist in der Tat paradox. Die Welle infamer Beschuldigungen, die der Mainstream gegen sie vorgebracht hat, hat dazu geführt, dass sie viele ihrer politischen Positionen gefestigt hat. Diese Entwicklung hat uns wirklich näher zusammengebracht. Gleichzeitig erlebt sie eine offene Krise, insbesondere innerhalb ihrer Parlamentariergruppe, was die politischen Perspektiven und das interne Funktionieren angeht.
Demokratie ist für uns kein untergeordnetes Thema, sondern eine strategische Frage, die etwas über die Art der Gesellschaft aussagt, die wir aufbauen wollen.

Und die NPA in dem Ganzen?

Der NPA geht es, nachdem sie schwere Zeiten durchgemacht hat, besser. Sie versucht, sich wie ein Fisch zwischen zwei Wassern zu bewegen, indem sie Einheit und Radikalität miteinander verbindet – in dem bescheidenen Umfang, der uns angesichts unseres realen Gewichts möglich ist.

Glaubst du, dass angesichts einer absehbar schwachen Regierung, werde sie nun von rechts oder von links geführt, die Mobilisierungen im Herbst wieder aufgenommen werden? Wäre die Linke in der Lage, Ziele der Mobilisierung vorzugeben – z.B. den Rücktritt Macrons oder einen Regimewechsel?

Die Situation in Frankreich wird dauerhaft instabil und damit naturgemäß unvorhersehbar sein. Dies gilt auch für die Möglichkeiten der sozialen und politischen Linken. Positiv ist das Streben nach Einheit, das sich seit einiger Zeit aufbaut. All die Ameisenarbeit, die seit Jahren geleistet wird, hat doch Spuren hinterlassen.
Seit der Gelbwestenbewegung, den Mobilisierungen der Feministinnen, denen für das Klima, gegen die Polizeirepression, gegen die Rentenreform ist es Schritt für Schritt gelungen, Verbindungen und Zusammenhänge zwischen Sektoren der sozialen und politischen Linken herzustellen, die auf den ersten Blick nicht spektakulär sind. Aber man hat sich besser kennengelernt. Dass das gelingen würde, war nicht ausgemacht.
Eine Zusammenarbeit war manchmal schwer vorstellbar zwischen Stadtteilaktiven, Gewerkschaftern, LGBTI-Aktivist:innen, Jugendlichen in Solidarität mit Palästina usw. Die aktive Präsenz etwa von Kollektiven gegen Transphobie in der Rentenbewegung, hinter Gewerkschaftsblöcken, wäre noch vor zehn Jahren kaum denkbar gewesen.
Die Neue Volksfront ist auch das Ergebnis dieser geduldigen Wühlarbeit. Das verpflichtet uns.
Aber vor allem müssen wir konkrete Erfolge erringen, um weiter kollektives Vertrauen aufzubauen. Ich denke dabei an den Kampf um Löhne, öffentliche Dienstleistungen, die Aufgabe ökologisch unnötiger und gefährlicher Projekte…
Die Systemkrise ist da. Der politische Ausweg kann folglich nicht dar­in bestehen, sich allein auf Macron zu konzentrieren in der Hoffnung auf eine vorgezogene Präsidentschaftswahl. Ein solches Ziel würde nur die Fixierung auf den Präsidentialismus in unserem eigenen sozialen Lager stärken. Wir würden Illusionen verstärken, und das würde uns immer mehr zu Gefangenen der institutionellen Agenda und der Terminvorgaben der V.Republik machen. Wir müssen wieder an eine globale und emanzipatorische demokratische Perspektive anknüpfen.

Olivier Besancenot ist führendes Mitglied der NPA (Neue Antikapitalistische ­Partei), deren Sprecher er bis 2011 war

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