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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2024

US-Ökonomie in der Stagnation
von Ingo Schmidt

Der Sturm des Kapitols durch einen rechten, dem Wahlverlierer Trump verpflichteten Mob prägt die Erinnerung an den Amtsantritt Joe Bidens im Januar 2021. Fast vergessen sind dagegen die wirtschaftlichen Turbulenzen während des Wahlkampfs und in der ersten Zeit von Bidens Präsidentschaft.

Im zweiten Quartal 2020, als Trump und Biden noch um ihre Nominierung als Präsidentschaftskandidaten rangen, schrumpfte die Wertschöpfung um 7,5 Prozent, es war der stärkste Konjunktureinbruch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der damit verbundenen Rüstungskonjunktur.
Im zweiten Quartal 2021 – Biden kämpfte im Kongress um Mehrheiten für sein während der Coronarezession entwickeltes Ausgabenprogramm Build Back Better (BBB) – legte die US-Wirtschaft um 12 Prozent zu. Es war der stärkste Aufschwung seit 1950. Damals wurde das konjunkturelle Auf und Ab der Nachkriegszeit aber erst 1958 von einem langanhaltenden Aufschwung abgelöst und damit die Große Depression der 30er Jahre endgültig überwunden.

Inflation statt Green New Deal
Biden hatte sein BBB-Programm mit deutlichen Bezügen auf Roosevelts New Deal entworfen und propagiert. Letzterer ging erst Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Bedingungen der Prosperität auf. Bidens Pläne, in Sachen Ausgaben deutlich ambitionierter als Roosevelt bis zum Beginn der Kriegskonjunktur, fanden im Kongress keine Mehrheit. Stattdessen wurde der Inflation Reduction Act (IRA) verabschiedet, eine eigenartige Mischung aus Staatsausgaben und Steuernachlässen zur Förderung nichtfossiler Energien, die gleichzeitig das Haushaltsdefizit und die Inflation bekämpfen sollten.
Ersteres war während der Coronarezession auf 14,5 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) gestiegen – der höchste Wert seit 1943. Letztere war während des Nach-Corona-Aufschwungs auf 9,1 Prozent gestiegen – der höchste Wert seit 1980, dem Vorabend der Hochzinspolitik, die mit Rezession und Massenarbeitslosigkeit den amerikanischen Gewerkschaften das Genick brach und entscheidend zum Übergang vom New-Deal-Keynesianismus zum Neoliberalismus beitrug.
Als der IRA im August 2022 unterzeichnet wurde, war der Höhepunkt der Inflation bereits überschritten, nicht zuletzt, weil die Zentralbank bereits seit März die Leitzinsen angehoben hatte – in kleinen Schritten, um ein Abwürgen der Konjunktur wie nach den Zinserhöhungen zu Beginn der 80er Jahre zu verhindern. Tatsächlich gingen Inflation und Wachstum des BIP zurück, letzteres stabilisierte sich aber bald wieder auf Werten von 2–3 Prozent, wie sie vor der Coronarezession erreicht worden waren. Das war wenig im Vergleich mit früheren Aufschwüngen, aber immer noch mehr als in anderen OECD-Ländern.

Säkulare Stagnation
Angesichts niedriger Wachstumsraten in den Jahren zwischen der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 und der Coronarezession hatten selbst Mainstreamökonomen eine säkulare Stagnation diagnostiziert, das ist eine Situation, in der es zu wenig profitabel erscheinende Investitionsprojekte gibt, deren Finanzierung alle zur Verfügung stehenden Ersparnisse erfordern würde. Etwas genauer könnte man sagen, dass diejenigen, die viel Geld haben, dieses nur zu einem geringen Teil ausgeben.
Andere verschulden sich, um angesichts der hohen Immobilienpreise, die deutlich über den Werten vor der Krise 2008/2009 liegen (die selbst vom Platzen einer Immobilienblase ausgelöst wurde), Wohneigentum zu erwerben. Anders als vor dieser Krise werden teure Immobilienpreise aber nicht mehr so häufig als Sicherheiten zur Aufnahme weiterer Konsumentenkredite genutzt. Die Angst vor Zahlungsunfähigkeit und Zwangsräumung, die viele überschuldete Immobilienbesitzer vor bald 20 Jahren getroffen hat, wirkt immer noch nach. Am unteren Ende der Einkommenspyramide stellt sich die Frage nach schuldenfinanziertem Konsum nicht. Wer wenig verdient, ist nicht kreditwürdig.
Wie es scheint, ist nach der durch politische Lockdowns verursachten Coronarezession die durch längerfristige ökonomische Entwicklungstendenzen bedingte Stagnation zurückgekehrt. Sie paart sich mit der Angst vor dem Platzen einer um die Künstliche Intelligenz entstandenen Spekulationsblase und einer dadurch verursachten Rezession.
Vorboten eines solchen Szenarios gab es bereits im Frühjahr 2023. Damals gingen drei US-Banken pleite, eingeklemmt zwischen steigenden Leitzinsen, die die Refinanzierung ihrer Geschäfte verteuerten, und dem Kursverlust von Kryptowährungen, in die sie kräftig investiert hatten. Seit Sommer dieses Jahres sind die Kurse von KI-Firmen mehrfach drastisch eingebrochen und haben die Börsen mit nach unten gezogen. Bislang sind diese Turbulenzen auf den »spekulativen Überbau« begrenzt, aber die Angst, dass weitere Kursrutsche auch Produktion und Beschäftigung nach unten ziehen, ist zurück. Damit verbinden sich Spekulationen, ob es vor den Wahlen zu einer Rezession kommt und diese Kamala Harris den Einzug ins Oval Office kosten könnte.
Spekulationen auf zukünftige Gewinne in der KI-Branche leben von der Erwartung, oder auch verzweifelten Hoffnung, auf eine neue industrielle oder auch informationelle Revolution und damit verbundene Produktivitätsgewinne. Aktuelle Verkäufe von KI-Aktien gehen auf die Feststellung zurück, dass hohen Investitionen bislang keine oder kaum Gewinne gegenüberstehen. Manche Börsianer vermuten, dass sich erst nach einem KI-Crash und den damit verbundenen Firmenpleiten eine kleine Zahl profitabler und marktbeherrschender Firmen durchsetzen wird. Andere fragen sich, ob KI überhaupt jemals zu einer grundlegenden Neuorganisation von Arbeitsprozessen führen wird.
Angesichts eines weiterhin schwachen Wachstums der Arbeitsproduktivität klagen Unternehmen über Mangel an Arbeitskräften. Dafür spricht der rapide Rückgang der Arbeitslosigkeit nach der Coronarezession, während der die Arbeitslosenquote von 3,5 im Februar 2020 auf 14,9 Prozent im April gestiegen war. Im April 2021 war sie bereits wieder auf 6,1 Prozent und ein weiteres Jahr später auf die auch im internationalen Vergleich niedrigen Werte von vor der Rezession gefallen.
Der Verweis auf knappe Arbeitskräfte und die damit verbundene Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale diente der Zentralbank denn auch als Begründung für steigende Zinsen, obwohl selbst liberale Ökonomen festgestellt hatten, dass viele Unternehmen ihre Profitmargen nach Überwindung der Rezession massiv angehoben und dadurch eine Profit-Preis-Spirale ausgelöst hatten. Infolge steigender Zinsen gingen Bautätigkeit und Kapazitätsauslastung in der Industrie zurück. Eine von Investitionen getriebene Konjunktur wurde unmöglich.
Die Nominallöhne stiegen, wie seit Jahrzehnten nicht mehr, doch die Preissteigerungen waren noch höher. Die Reallöhne liegen gegenwärtig immer noch unter dem Niveau der Vor-Corona-Zeit. Die mediale Klage über fehlende Arbeitskräfte, eine Reihe gewerkschaftlicher Organisationserfolge und erfolgreicher Streiks vermitteln den Eindruck, die gesellschaftliche Machtbalance habe sich vom Kapital zur Arbeit verlagert. Davon kann jedoch keine Rede sein. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist im vergangenen Jahr von 11,3 Prozent 2022 auf 11,2 Prozent gesunken.
Die Inflationskonjunktur war ein gutes Geschäft fürs Kapital. Es steht weiterhin eine riesige, die Löhne drückende Reservearmee bereit. Diese wird statistisch nicht von der Arbeitslosenquote, sondern von der Erwerbsquote abgebildet. Diese war seit Mitte der 60er Jahre mehr oder minder kontinuierlich von Werten knapp unter 60 Prozent auf 67,3 Prozent im Frühjahr 2000 gestiegen. Dann kam der dot.com-Krach. Seither sinkt die Erwerbsquote: auf 63,3 Prozent vor der Coronarezession, trotz schnellen Wiederaufschwungs sind es seit dem Ende der Lockdown aktuell aber nur noch 62,7 Prozent. Im umgekehrten Verhältnis zur sinkenden Erwerbsquote ist die stille Arbeitsmarktreserve gestiegen. Sie umfasst Menschen, die bei den aktuellen Löhnen keine Arbeit suchen, im Falle steigender Löhne aber ins Arbeitsleben zurückkehren würden. Als Arbeitsmarktreserve verhindern sie solche Lohnsteigerungen jedoch.

Politische Blockaden
Bidens BBB-Programm war ökonomisch ein Versuch, aus der Stagnation auszubrechen, die auf die Krise 2008/2009 gefolgt war. Politisch diente sie der Kooptation von Bernie Sanders und seiner linken Anhängerschaft. Ähnlich wie Roosevelt, dessen New Deal erst infolge der Kriegswirtschaft zu einer Überwindung der Großen Depression führte, verband Biden seine Green-New-Deal-Pläne mit einer aggressiven Außenpolitik gegen Russland und China. Trumps America First ersetzte er durch America is Back – der Behauptung, unter seiner Präsidentschaft würde die amerikanische Weltherrschaft effektiver durchgesetzt als unter dem Maulhelden Trump.
Damit hat er den imperialen Nationalismus gestärkt, der einer für die Lösung der ökologischen Krise notwendigen internationalen Zusammenarbeit zuwiderläuft. Green New Deal und (Imperial) America is Back passen nicht zusammen. Innenpolitisch haben seine Ausgabenprogramme die Neoliberalen auf den Plan gerufen, denen im Zuge der Weltwirtschaftskrise der Massenanhang verloren gegangen ist, die in Parlamenten, Behörden und Zentralbank aber immer noch gut verankert sind. Die Inflation nach der Coronarezession war ihnen eine willkommene Gelegenheit, auf Schuldenabbau zu drängen. Das Zurechtstutzen von BBB zum IRA war ein erster Erfolg für sie.
Die politischen Projekte Green New Deal, imperialer Nationalismus und Neoliberalismus blockieren sich gegenseitig, keines findet genug Unterstützung, um die anderen an den Rand zu drängen. Solange das so ist, bleibt die US-Ökonomie in der Stagnation gefangen.

Ingo Schmidt ist marxistischer ­Ökonom und lebt in Kanada und Deutschland.

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