Eine Reise durch drei Jahrhunderte
von Rolf Euler
Kleine Leute in Westfalen. Hrsg. Ulrike Gilhaus, Kirsten Bernhardt. Münster: Ardey, 2024. 230 S., 29,90 Euro
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), der mehrere Industriemuseen betreibt, bringt ein bemerkenswertes Buch heraus: »Kleine Leute in Westfalen«, ein Forschungs- und Sammlungsband mit Beiträgen vieler Autor:innen.
Auf den Spuren von Sammlungsstücken in den Museen des Landes sind die Autor:innen auf die Suche nach den dazugehörigen Personen gegangen: Handwerker, Arbeiter:innen, Landleute, Arme, Landstreicher, Näherinnen, Glasmacher und viele andere – es entstanden 72 Biografien sog. »kleiner Leute«, angefangen im 18.Jahrhundert bis heute.
Die Herausgeberinnen gewannen viele Autorinnen und Autoren dafür, sie lenken das Augenmerk damit auf eine soziale Schicht, die kaum etwas hinterließ – arme Leute hatten nichts zu »vererben«. Museen sammeln das, was von der Oberschicht als erhaltungswürdig und ausstellenswert angesehen wurde. Aber gerade die Industriemuseen in Westfalen – Bergbau, Stahl, Glas, Ziegelei, Textil – erschließen eine Arbeitswelt, die umrahmt war von vielfältigen Tätigkeiten, die auf dem Lande oder in den aufstrebenden Städten zu Tausenden verrichtet wurden.
Das gewachsene Bewusstsein für das Fehlen der Geschichte der Unterschichten in Museen und Geschichtskreisen hat damit zu tun, dass es schon seit den 70er und 80er Jahren die Forschung über eine »Geschichte von unten« gibt, die in viele Zeitzeugenberichte und Bücher aus der neueren Zeit mündete, jedoch hauptsächlich die Zeit der Industrie in Westfalen betrifft.
Die Herausgeberinnen haben es mit vielen Autorinnen und Autoren erreicht, die Lebensgeschichten und Tätigkeiten, Wanderungen und persönlichen Verhältnisse von 72 Personen aufzufinden und zu beschreiben. So entsteht ein lebendiges Bild einer Zeit, die in den Schulen in der Regel nur selten gelehrt wird als Sozialgeschichte der unteren Schichten, die vor allem ländliche Regionen entscheidend geprägt haben.
Die Herausgeberinnen schreiben, dass die früheren sozialgeschichtlichen Forschungen es nicht vermocht hätten, »ihren Blick nachhaltig auf die unteren Bevölkerungsgruppen zu lenken und damit ein ausgewogeneres Bild von der Pluralität der Lebenswirklichkeiten vergangener Epochen zu entfalten«.
In den Vorbemerkungen wird auch diskutiert, warum der Begriff »kleine Leute« für eine Sammlung der verschiedensten Tätigkeiten aus den unteren Schichten verwendet wurde. Es wird deutlich, dass es den Herausgeberinnen nicht um eine Sicht »von oben« geht, sondern um den Versuch, die vielfältigen Biografien so aufzugreifen, wie die Betroffenen sich selber gesehen haben. Sicher wird man an Friedrich Engels’ Lage der arbeitenden Klassen in England erinnert, der offensiv den Klassenbegriff verwendet, der im vorliegenden Buch nur als englischer Begriff genannt wird.
Eine ausführliche historische Einordnung der Biografien in die Geschichte der letzten 300 Jahre in Westfalen leitet das Buch ein. Es beginnt mit einem Organisten und Kirchspielführer aus Roxel, der vor 1697 geboren und 1758 gestorben ist. Es folgen ein Kuhhirte und Tagelöhner, bald eine Dienstmagd und Armenhausbewohnerin, die 109 Jahre alt wurde, Landarbeiter aus dem 19.Jahrhundert, eine Heuerlingsfrau, Bettler und Landarme bis zu verschiedenen Berufen des 20.Jahrhunderts, endend mit dem türkischen Hüttenarbeiter und Betriebsrat aus Hattingen, Nuri Derviso?lu, und dem Straßenmusiker Klaus Reinhardt aus Münster. Auch Zwangsarbeiter aus der Ukraine und Polen kommen zu Wort, sie wurden vor einiger Zeit interviewt und vervollständigen so das Echo ihrer Zeit.
Allein die vielen Lebensberichte aus drei Jahrhunderten sind eine spannende Lektüre über unsere Vorfahren, gebunden mit einer historischen Gesamtschau auf die Zeit, in denen diese Menschen ihre meist schwere und, wenn überhaupt, gering entlohnte Arbeit verrichteten. Wer wissen will, woher »wir kommen«, auf wie vielen armen Schultern unsere Gesellschaft steht, wird hier hervorragend fündig.
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