Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2024

Das Arbeitsunrecht der Nazis wirkt im geltenden Arbeitsrecht ungehindert fort
von Heinrich Neuhaus

»Nie wieder ist jetzt!« ? unter diesem Motto haben sich seit dem 12.Januar 2024 im ganzen Land weit über vier Millionen Menschen an mehr als 2200 Protestaktionen gegen den Faschismus beteiligt. Das hatte niemand erwartet. Aber es reicht nicht gegen den bedrohlichen Rechtsruck. Für die Arbeitswelt etwa hat die Parole »Nie wieder ist jetzt!« eine ganz besondere Bedeutung. Dafür müssen wir einen Blick zurückwerfen.

1933 konnten die Faschisten die stärkste und am besten organisierte (teilweise sogar bewaffnete) Arbeiterbewegung der damaligen Welt zerschlagen. Aktive wurden verhaftet, in die schnell errichten KZs geschleppt, gefoltert und oft ermordet. Das konnte deshalb geschehen, weil sich die Führungen von KPD und SPD in ihrer politischen Blindheit geweigert hatten, eine Einheitsfront gegen die tödliche braune Gefahr zu bilden.
Die Gewerkschaftsspitzen ihrerseits duckten sich nicht nur weg. Sie biederten sich den neuen Machthabern bis zum 1.Mai 1933 in der irrsinnigen Hoffnung an, vom Naziterror verschont zu bleiben. Am 2.Mai 1933 stürmten die Faschisten die Gewerkschaftshäuser. Die Gewerkschaften wurden verboten.

Und heute?
Heute werden Betriebsräte und gewerkschaftliche Organisierung bekämpft. Frei nach dem Motto: Legal, illegal, ganz egal. Vom Kleinbetrieb des Autohändlers Kohlhoff in Mannheim bis zur Grünheider Tesla-»Gigafactory« des ultrarechten Milliardärs Musk wird das, was die AfD anstrebt, schon heute umgesetzt.
Die besondere Spitze des Eisbergs stellt in diesem Zusammenhang die Zerschlagung des demokratisch gewählten und in der IG Metall organisierten Betriebsrats bei ProMinent Heidelberg dar.
ProMinent ist nicht irgendeine Firma. Miteigentümer ist Rainer Dulger. Er ist Präsident der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und damit der oberste »Sozialpartner« im Land. Dort wie anderswo fand und findet brutales Betriebsratsmobbing statt. Mit Hilfe einer wachsenden Branche von sehr teuren »Anwaltskanzleien« wurden und werden Vorwände zur Kündigung tausender in Betriebsräten aktiver Kolleg:innen konstruiert. Völlig hemmungslos werben diese furchtbaren und geldgierigen Juristen mit ihren Dienstleistungen für die »Kündigung von Unkündbaren«.
Ein gezielter Blick ins Netz genügt, und schon sind die entsprechenden Kontaktadressen zu finden. Um nur ein zufällig ausgewähltes Beispiel zu nennen: »So gelingt die Kündigung eines Betriebsrats«, schreibt eine Kanzlei Hasselbach und bezieht sich dabei nicht zuletzt auf »Verdachtskündigungen«.
Mit Verdachtskündigungen können völlig legal die Existenzen von Betriebsratsmitgliedern vernichtet werden. Unter dem Vorwand eines angeblichen und in der Regel frei erfundenen oder provozierten Fehlverhaltens ist es damit möglich, Betriebsräte aus dem Betrieb zu werfen.
Die Opfer werden zu Tätern gemacht. Sie müssen vor dem Arbeitsgericht ihre »Unschuld« beweisen. Das ist eine zynische Umkehr der ansonsten im Rechtswesen geltenden Unschuldsvermutung.

Der lange Schatten der Vergangenheit
Warum ist dieses kriminelle Vorgehen rechtlich möglich? Das liegt am skandalösen Fortwirken des faschistischen Arbeitsunrechts bis heute.
Das Reichsarbeitsgericht der Weimarer Republik hatte »Verdachtskündigungen« 1931 und 1932 noch für unwirksam erklärt. Nach 1933 nahmen die faschistischen Herrscher jedoch eine radikale Änderung des Arbeitsrechts vor. Ihr Ziel war die »völlige Atomisierung der deutschen Arbeiterklasse«, wie Franz L. Neumann in Behemoth, seiner berühmten Analyse des Naziregimes, schrieb.
Bereits im »Aufruf der Reichsregierung an das deutsche Volk« vom 1.Februar 1933 ist das ideologische Ziel der faschistischen Führung formuliert: »die endgültige Überwindung des Klassenwahnsinns und Klassenkampfes … durch Bildung einer alles umfassenden Volksgemeinschaft«.
Mit dem »Gesetz über Betriebsvertretungen und wirtschaftliche Vereinigungen« vom 4.April 1933 konnten dann Betriebsratswahlen ausgesetzt und die Entlassungen »staats- und wirtschaftsfeindlicher« Betriebsratsmitglieder angeordnet werden. Das grundlegende »Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit« (AOG) wurde am 20.Januar 1934 von der Naziführung erlassen.
Die Kapitalseite begrüßte das AOG begeistert. Das ist kein Wunder, denn im §1 AOG heißt es: »Im Betriebe arbeiten die Unternehmer als Führer des Betriebes, die Angestellten und Arbeiter als Gemeinschaft gemeinsam zur Förderung der Betriebszwecke und zum gemeinsamen Nutzen von Volk und Staat.«
Und §2 AOG legt fest: »(1) Der Führer des Betriebes entscheidet der Gefolgschaft gegenüber in allen betrieblichen Angelegenheiten, soweit sie durch dieses Gesetz geregelt werden. (2) Er hat für das Wohl der Gefolgschaft zu sorgen. Diese hat ihm die in der Betriebsgemeinschaft begründete Treue zu halten.« Die Juristen Hans Carl Nipperdey und Alfred Hueck waren sowohl Verfasser als auch Hauptkommentatoren dieses Machwerks.
Die im AOG festgeschriebene Verpflichtung der »Betriebsgefolgschaft« zur »Treue« dem »Betriebsführer« gegenüber hatte massive Folgen. Angebliche Verstöße gegen die Treuepflicht konnten seitdem »legal« mit den mittlerweile zulässigen Verdachtskündigungen geahndet werden.

Nazi-»Arbeitsrechtler« in der Bundesrepublik
In der Bundesrepublik Deutschland wurde diese »arbeitsrechtliche« Linie vom Bundesarbeitsgericht (BAG) unter maßgeblicher Beteiligung seines 1.Präsidenten, Hans Carl Nipperdey (im Amt 1954–1963), fortgesetzt. Als Präsident des BAG gelang es ihm, seine im Faschismus voll verwirklichte Umdeutung der kapitalistischen Arbeits- und Ausbeutungsbeziehungen zu einem »personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis« weiterwirken zu lassen. Zudem setzte er diese »Erbschaft« des blutigen Terrorregimes des »Dritten Reichs« sogar als »herrschende Meinung« im Arbeitsrecht der Bundesrepublik durch.
Nipperdey und Konsorten aus der Nazizeit wie Hueck haben durch ihre »Rechtsprechung« und ihr juristisches Wirken in der BRD entscheidend zum Erhalt der Verdachtskündigungen sowie anderer Elemente des faschistischen Arbeitsunrechts beigetragen ? und damit zu massiven, gegen das Grundgesetz und das internationale Recht verstoßenden Einschränkungen des Streikrechts und anderer demokratischer Rechte von Gewerkschaften und abhängig Beschäftigten.
Wie unter anderem der 2023 leider viel zu früh verstorbene Rechtsanwalt Rolf Geffken nachgewiesen hat, finden sich deshalb einige unübersehbare weitere Spuren des Faschismus im deutschen Arbeitsrecht: die »Treuepflicht«, das Verbot politischer Betätigung im Betrieb, die »Betriebsgemeinschaft«, die »vertrauensvolle Zusammenarbeit«, die »Friedenspflicht« und eben die »Verdachtskündigungen«.

Aufarbeitung?
Auf der 10.Bundeskonferenz »Betriebsräte im Visier« am 14.10.2023 in Mannheim erregte Rechtsanwalt Klaus-Dieter Freund großes Aufsehen, als er über die Geschichte und das Wirken von »Verdachtskündigungen« bis heute referierte. Freund erläuterte, dass das Bundesarbeitsgericht (BAG) bis heute nicht nur an dieser faschistischen »Tradition« festhält. Es hat seine Rechtsprechung sogar verschärft durch die Möglichkeit einer grundlosen fristlosen Verdachtskündigung.
Im Frühjahr 2024 wurde in einem Interview die Präsidentin des BAG, Inken Gallner, nach der Rolle »des Arbeitsrecht[s] … für die Demokratie« gefragt. Ihre Antwort: »Ich bin überzeugt davon, dass es wichtig für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt ist. Nehmen Sie das Arbeitskampfrecht, das gewährleistet, Vereinigungen zu bilden, um die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren [!] und zu fördern. Es geht dabei um Sozialpartnerschaft [!].«
Auf die anschließende Frage, wie sich der Einfluss von Nazijuristen auf die Arbeitsgerichtsbarkeit in der BRD »bemerkbar« macht, sagte sie: »Das kann ich noch nicht beantworten. Das Bundesarbeitsgericht ist derzeit Gegenstand eines NS-Aufarbeitungsprojekts … Für das Projekt stellt sich neben der historischen Aufarbeitung der Biografien die Frage, ob die NS-Ideologie in die Rechtsprechung des BAG Eingang gefunden hat.«
Diese »Antwort« ist ein starkes Stück. Sie lässt in tiefe Abgründe blicken und dort eine große Leere erkennen. Immerhin ist auch der BAG-Präsidentin bekannt, dass bei fünfzehn Bundesarbeitsrichtern eine frühere NSDAP-Mitgliedschaft nachgewiesen werden konnte. Und zumindest sollte sie den Namen des führenden Nazijuristen Hans Carl Nipperdey schon einmal gehört haben.

Widerstand ist Pflicht
Das Fortwirken wichtiger Elemente des faschistischen Arbeitsunrechts muss beendet werden. Insbesondere sind im Zusammenhang mit dem Mobbing von Betriebsräten die bis heute hemmungslos durchgeführten Verdachtskündigungen abzuschaffen, die von der deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit in der Regel umstandslos hingenommen werden. Sie stellen einen Verstoß gegen das Grundgesetz dar, konkret gegen Art.1 Abs.1 (»Die Würde des Menschen ist unantastbar«), gegen Art.12 Abs.1 (Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes) und Art.20 Abs.3 (Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht).
Der DGB und Einzelgewerkschaften wie die IG Metall müssen endlich den Kampf für das gesetzliche Verbot der Verdachtskündigung aufnehmen und ihrer eigenen Beschlusslage gerecht werden.
Sie sind dazu aus drei weiteren Gründen verpflichtet. Erstens, weil das skandalöse Fortwirken des faschistischen Arbeitsunrechts nicht akzeptabel ist. Zweitens, weil die Verdachtskündigung ausschließlich durch den »Arbeitgeber« ohne eine tatsächliche Rechtsgrundlage ausgesprochen werden kann.
Und drittens, weil der Grundsatz »Im Zweifel für den Angeklagten« unter Bezugnahme auf Art.6 Abs.2 (Recht auf ein faires Verfahren) der Europäischen Menschenrechtskonvention auf das Arbeitsrecht übertragen werden muss. Dort heißt es: »Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.«
Die Zeiten werden rauer, vor allem wegen der anhaltenden Offensive des Kapitals und des damit einhergehenden politischen Rechtsrucks. Dem kann nur durch eine aktive gewerkschaftliche Gegenmacht begegnet werden.
»Nie wieder ist jetzt!« gilt besonders für die Arbeitswelt. Denn gerade dort, wo faschistisches Unrecht nach wie vor »Recht« ist, wird Widerstand zur Pflicht!

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