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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2024

Das israelische Gefängnissystem – ein Netzwerk von Folterlagern
von btselem.org, August 2024

Im folgenden veröffentlichen wir, stark gekürzt, eine Zusammenfassung des Berichts der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem (Israeli Information Center for Human Rights in the Occupied Territories) über die Lage der palästinensischen Gefangenen im israelischen Gefängnissystem.

Welcome to Hell ist ein Bericht über die Misshandlung und unmenschliche Behandlung von Palästinenser:innen, die seit dem 7.Oktober 2023 in israelischem Gewahrsam sind. B’tselem hat Aussagen von 55 Palästinenser:innen gesammelt, die in dieser Zeit inhaftiert und wieder freigelassen wurden, fast alle ohne Anklage. Ihre Aussagen offenbaren die Folgen der überstürzten Umwandlung von mehr als einem Dutzend israelischer militärischer und ziviler Haftanstalten in ein Netzwerk von Lagern, in denen die Misshandlung von Häftlingen zur Regel geworden ist. Einrichtungen, in denen jeder Insasse absichtlich harten, unerbittlichen Schmerzen und Leiden ausgesetzt wird, sind de facto Folterlager.

Ein Projekt des Apartheidregimes
Die Geschichte des israelischen Gefängnisprojekts beginnt weder am 7.Oktober noch mit der Ernennung von Itamar Ben Gvir zum Minister. Seine Wurzeln reichen viel tiefer. Die aktuelle Situation, so entsetzlich sie auch ist, kann nicht vollständig verstanden werden, ohne die Schlüsselrolle zu untersuchen, die dieses Projekt bei der sozialen und politischen Unterdrückung des palästinensischen Kollektivs über die Jahre hinweg spielt.
Das Gefängnissystem ist einer der gewalttätigsten und repressivsten staatlichen Mechanismen, die das israelische Regime einsetzt, um die jüdische Vorherrschaft zwischen Jordan und Mittelmeer aufrechtzuerhalten. Israel hat über Jahrzehnte hinweg Hunderttausende von Palästinenser:innen aus allen Gesellschaftsschichten eingekerkert, um das soziale und politische Gefüge der palästinensischen Bevölkerung zu untergraben und zu zersetzen. Das Ausmaß des Systems spricht für sich: Nach verschiedenen Schätzungen hat Israel seit 1967 über 800000 palästinensische Männer und Frauen aus der Westbank (einschließlich Ost-Jerusalem) und dem Gazastreifen inhaftiert, was etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung und etwa 40 Prozent aller palästinensischen Männer ausmacht.
Der Leidensweg und die psychischen Auswirkungen einer Inhaftierung beschränken sich nicht auf die Gefangenen selbst. Sie werden auch von Verwandten, Freunden, Bekannten und der gesamten Gemeinschaft miterlebt. Es ist kein Zufall, dass israelische Gefängnisse zu einem zentralen Bestandteil der palästinensischen Erfahrung und des nationalen Ethos geworden sind.
Es gibt kaum eine palästinensische Familie, in der nicht mindestens ein Familienmitglied das israelische Gefängnissystem durchlaufen hat: Kinder, deren Eltern ins Gefängnis kamen; Frauen und Männer, die ihre Kinder allein großziehen mussten; Eltern, denen ihre Kinder manchmal jahrelang entzogen wurden; Familien, die viel Geld ausgeben und sich sogar verschulden mussten, um die Anwaltskosten zu bezahlen; Schüler, deren Klassenkameraden plötzlich und ohne Erklärung verschwanden. Eine Vielzahl von familiären und sozialen Beziehungen wird gewaltsam zerstört, wenn eine Person hinter Gittern landet.

Entmenschlichung
Das Projekt der Masseninhaftierung spielt eine Schlüsselrolle im System der Kontrolle und Unterdrückung, das das israelische Apartheidregime seinen palästinensischen Untertanen auferlegt. Das schiere Ausmaß zeigt, dass das Ziel, wie bei vielen anderen israelischen Maßnahmen gegenüber Palästinenser:innen darin besteht, »eine Botschaft in das Bewusstsein der Palästinenser einzubrennen« und das Gefüge ihrer Gemeinschaft zu zerstören.
Die Entmenschlichung palästinensischer Gefangener beginnt in dem Moment, in dem sie verhaftet werden, da ihre individuelle Identität ausgelöscht wird und sie als homogene, gesichtslose Masse behandelt werden – ganz gleich, ob es sich bei dem Gefangenen um einen altgedienten Arzt aus dem Gazastreifen, einen Teenager aus Ost-Jerusalem, einen Studenten aus Haifa oder einen militärischen Akteur einer bewaffneten Gruppe handelt. Alle werden als »menschliche Tiere« und »Terroristen« betrachtet, nur weil sie hinter Gittern sitzen, unabhängig davon, ob ihre Inhaftierung gerechtfertigt war oder willkürlich, rechtmäßig oder nicht.
Auf diese Weise werden Missbrauch, Entwürdigung und die Missachtung von Rechten zulässig. Willkürliche und extreme Gewalt, Verweigerung der medizinischen Versorgung von Verletzten oder Kranken, Verweigerung von Nahrung und Wasser in überfüllten Zellen – all das wäre nicht möglich, wenn die Wärter Palästinenser:innen als Menschen ansehen würden.
Die [im Bericht] vorgestellten Zeugenaussagen erzählen die Geschichte der Verwandlung des israelischen Gefängnissystems in ein Netzwerk von Folterlagern.

Strafvollzugsprotokoll – neue Politik – neue Realität
Vom 7.Oktober 2023 bis Anfang Juli 2024 verhaftete Israel Tausende von Palästinenser:innen im Gazastreifen, in der Westbank und innerhalb Israels. Kurz vor dem Krieg betrug die Gesamtzahl der Palästinenser:innen in israelischen Gefängnissen 5192, im Juli 2024 war sie auf 9623 gestiegen. Schon vor dem 7.Oktober waren die israelischen Gefängnisse überfüllt, und die palästinensischen Gefangenen wurden unter sehr beengten Bedingungen festgehalten.
Der Anstieg der Häftlingszahlen verschlimmerte die Situation und führte zu unmenschlichen Verhältnissen in den überfüllten Gefängniszellen. Viele Häftlinge waren gezwungen, auf dem Boden zu schlafen, die Mindestbedingungen, die den Gefangenen bis dahin geboten worden waren, wurden so weit zurückgeschraubt, dass sie praktisch nicht mehr gegeben waren.
Die von B’tselem gesammelten Zeugenaussagen von 55 entlassenen männlichen und weiblichen Häftlingen erzählen von anhaltender Folter, Misshandlung und der Verweigerung von Grundbedürfnissen wie Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung. Die Informationen, die sich in diesen Zeugenaussagen ständig wiederholen, offenbaren einen institutionalisierten, effizienten, systematischen Mechanismus, der Gewalt, Erniedrigung und Entwürdigung zu einem festen Bestandteil der Routine machte, denen alle Palästinenser:innen, die als »Sicherheitsgefangene« eingestuft werden, in 17 verschiedenen zivilen und militärischen Gefängnissen seit Beginn des Krieges unterworfen sind.
Mit der Ausrufung des »Gefängnisnotstands« und dem damit verbundenen Erlass einer Vorläufigen Anordnung wird die erklärte Agenda des Ministers für Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, umgesetzt. Diese Agenda, die eine Verletzung der grundlegendsten Menschenrechte darstellt, ist auf Angehörige einer bestimmten ethnisch-nationalen Gruppe – der Palästinenser:innen – gemünzt. Im Rahmen dieser neuen Politik werden Palästinenser:innen, die in israelischen Gefängnissen festgehalten werden, grundlegender Rechte beraubt, auf die sie nach israelischem und internationalem Recht sowie nach anderen universellen Rechten Anspruch haben.
Die Konvention gegen Folter definiert Folter als »eine Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, sie für eine von ihr oder einem Dritten begangene oder vermutete Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu zwingen, oder aus einem anderen Grund, beruhend auf einer wie auch immer gearteten Diskriminierung, und wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Amtsträger oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person oder auf deren Veranlassung oder mit deren Zustimmung oder Duldung zugefügt werden«.
Der Staat Israel hat die Anti-Folter-Konvention unterzeichnet und ratifiziert, aber das Folterverbot wurde nie in das israelische Recht aufgenommen. Es wurde 1999 in der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs im Folterfall bestätigt, aber in einer späteren Entscheidung zurückgenommen, indem die Anwendung von Folter in Ausnahmefällen im Rahmen des Protokolls des [Geheimdiensts] Shin Bet für »notwendige Verhöre« erlaubt wurde.
In Anbetracht der Schwere der Handlungen, des Ausmaßes, in dem gegen das Völkerrecht verstoßen wird, und der Tatsache, dass sich diese Verstöße täglich und über einen längeren Zeitraum hinweg gegen alle palästinensischen Gefangenen richten, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass Israel mit diesen Folterungen ein Kriegsverbrechen und sogar ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt.
Da absolutes Folterverbot herrscht, ist Israel nach internationalem Recht verpflichtet, gegen alle Personen zu ermitteln und strafrechtlich zu verfolgen, die direkt an der Anwendung dieser verletzenden, gewalttätigen Praktiken gegen palästinensische Gefangene beteiligt sind.
Da jedoch alle staatlichen Systeme, einschließlich der Justiz, zur Unterstützung dieser Folterlager mobilisiert wurden – sei es durch Wegsehen, durch Unterstützung oder durch Zurschaustellung dieser Taten –, kann von den israelischen Ermittlungsbehörden nicht erwartet werden, dass sie diese Pflichten erfüllen und die Beteiligten zur Rechenschaft ziehen, zumindest nicht aktiv oder effektiv. Daher müssen der IStGH und die internationale Gemeinschaft gemäß dem im Römischen Statut verankerten Grundsatz der Komplementarität gegen Personen, die der Planung, Leitung und Begehung dieser Verbrechen verdächtigt werden, ermitteln und Strafverfahren vorantreiben.
Wir appellieren an alle Nationen und an alle internationalen Institutionen und Gremien, einschließlich des Internationalen Strafgerichtshofs, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den Grausamkeiten des israelischen Gefängnissystems gegenüber den palästinensischen Menschen ein sofortiges Ende zu setzen und das israelische Regime, das dieses System betreibt, als Apartheidregime anzuerkennen, das sein Ende finden muss.

Quelle: www.btselem.org/publications/202408_welcome_to_hell; gekürzt nach der Übersetzung des Palästinakomitees Stuttgart e.V. (senderfreiespalaestina.de/pdfs/betselem-welcome-to-hell.pdf).

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