Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2024

Die neue EU-Kommission steht ganz im Zeichen der Militarisierung
von Herman Michiel und Klaus Dräger

Auf ihrem Gipfeltreffen Ende Juni 2024 haben die EU-Staats- und
-Regierungschefs beschlossen, dass Portugals ehemaliger Premierminister António Costa die Nachfolge von Charles Michel als Präsident des Europäischen Rats antreten wird. Ursula von der Leyen wurde für eine zweite fünfjährige Amtszeit als Kommissionspräsidentin bestätigt. Außerdem ernannten sie die estnische Premierministerin Kaja Kallas zur neuen »Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik«, die dieses Amt vom spanischen Sozialdemokraten Josep Borrell übernimmt.

Nach dem Gipfel twitterte der polnische Premierminister Donald Tusk: »Kaja, Ursula und António akzeptiert. Verteidigungsvorschläge angenommen. Wir können zufrieden sein. Für Polen und für Europa.« Das ist eine klare Botschaft eines der hartnäckigsten Befürworter weiterer Waffenlieferungen an die Ukraine »bis zum endgültigen Sieg«. Theoretisch ist Tusks Begeisterung verfrüht, da die Ernennung der gesamten Kommission, einschließlich der Hohen Vertreterin, noch vom Europäischen Parlament (EP) bestätigt werden muss. Dies wird wahrscheinlich im November 2024 geschehen, nachdem die designierten Kommissare von den Ausschüssen des Europäischen Parlaments befragt worden sind.
Wenn es eine starke Opposition gegen bestimmte, vorgeschlagene Kommissionsmitglieder gibt, wird sie oder er durch eine andere Person ersetzt. Wie früher schon will der EU-Rat vermeiden, dass das EP schließlich die einzige »nukleare« Option nutzt, die es hat: nämlich die gesamte Kommission abzulehnen.
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass das Parlament dies tun wird, und schon gar nicht wegen einer allzu militaristischen Kommission. Im Gegenteil, die Mehrheit des neuen Parlaments hat in der kurzen Zeit ihrer neuen Legislaturperiode einen noch rabiateren Militarismus an den Tag gelegt als einige Mitgliedstaaten.
In diesen Spalten (SoZ 10/2024, »Ja zum Krieg: querbeet durch die Fraktionen«) haben wir bereits erwähnt, dass das neue Parlament in seiner ersten Sitzung (Juli 2024) eine Entschließung verabschiedet hat, in der mehr und schwerere Waffen für die Ukraine gefordert wird und alle Beschränkungen für deren Einsatz auch für Ziele in Russland aufgehoben werden sollen.
In seiner zweiten Sitzung (16.–19.9.2024) verabschiedete das EP eine weitere Entschließung mit demselben Ziel und verlangte darüber hinaus von der deutschen Regierung, Taurus Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern. Weiterhin forderte es die EU-Kommission auf, eine Kampagne zu starten, um die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass ein militärischer Sieg der Ukraine für »den Frieden und die Sicherheit der gesamten EU« unerlässlich ist.
Die traditionelle Mehrheit des Parlaments (Konservative, Sozialdemokraten und Liberale), unterstützt von den Grünen, stimmte dem Vorschlag des Europäischen Rates zu, von der Leyen (VDL) am 18.Juli 2024 als Kommissionspräsidentin wiederzuernennen.
Die von ihr angekündigten politischen Absichten (»Europe’s Choice«) stehen im Einklang mit ihrer ersten Mandatsperiode in der Außen- und Militärpolitik. »Die Ukraine kämpft für die Freiheit Europas, unsere Demokratie und unsere Werte. Eine Investition in unsere Sicherheit ist eine Investition in die Sicherheit der Ukraine.«
Der Krieg Israels in Gaza und jetzt auch im Libanon wird mit keinem Wort erwähnt.
Auch von Friedensdiplomatie ist nirgends die Rede. Nein, es geht um die Verwirklichung einer »Europäischen Verteidigungsunion«, weshalb zum erstenmal ein für »Verteidigung« zuständiger Kommissionsposten geschaffen wird. Die »strategische Autonomie der EU«, von der von der Leyen eine Zeit lang sprach, ist allerdings kein Thema mehr. Im Gegenteil: »Die Partnerschaft zwischen EU und NATO muss gestärkt werden.«

Strukturveränderungen geplant
Die anderen 26 Kommissionskandidaten wurden wie üblich von den Regierungen der Mitgliedstaaten vorgeschlagen. Ihre Befugnisse werden jedoch von der Kommissionspräsidentin und ihrem inneren Kreis bestimmt. Sie kündigte ihren Vorschlag am 17.September 2024 an.
Eine wichtige Neuigkeit: Zum Entsetzen des Europäischen Gewerkschaftsbundes soll es laut von der Leyen keinen Kommissar für Beschäftigung und soziale Fragen mehr geben. Dafür aber, wie bereits erwähnt, ein neues Ressort für »Verteidigung und Raumfahrt«. VDL vergab es an Andrius Kubilius, den ehemaligen Premierminister Litauens, der der gleichen Europäischen Volkspartei (EVP) angehört wie sie.
Kubilius wird in seinem »Missionsbrief« beauftragt, an der«Europäischen Verteidigungsunion« zu arbeiten. Die Mitgliedstaaten müssten auf »die extremsten militärischen Eventualitäten« (sic!) vorbereitet sein. Der Kommissar muss also an der militärischen Mobilität arbeiten, an der schnellen Verlegung von Truppen auf europäischen Straßen und Schienen, die für eine doppelte Nutzung (zivil-militärisch) geeignet sein müssen. Dieser »dual use« ist ein Trick, der schon früher angewandt wurde, um den europäischen Haushalt doch noch für militärische Zwecke nutzen zu können, obwohl der Vertrag von Lissabon dies verbietet.
Von der Leyen fordert ausdrücklich, dass die »rechtlichen und regulatorischen Grenzen« einer solchen Doppelnutzung ausgelotet werden sollen. Praktischerweise fällt auch die Raumfahrt in den Zuständigkeitsbereich dieses Kommissars. Dies bietet hervorragende Möglichkeiten für solcherart »doppelte« Anwendungen. Das Galileo-Satellitenprojekt ist ein gutes Beispiel dafür, da es sowohl für Navigationssysteme im privat genutzten Auto als auch für die Beobachtung und Kommunikation durch das Militär genutzt werden kann. Kubilius soll einen einheitlichen Markt für Militärgüter mit erhöhten Fähigkeiten schaffen und in Zusammenarbeit mit der NATO die Standardisierung der Ausrüstung verbessern. Das ist dann die nächste höhere Stufe, um den »EU-Binnenmarkt zu vollenden« und »innovative europäische Industriepolitik« zu stärken.
Verteidigungskommissar Kubilius soll mit der bereits benannten Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Kaja Kallas, zusammenarbeiten. Diese steht jedoch als eine der sechs Exekutiv-Vizepräsidenten der Kommission in der Hierarchie eine Stufe höher als er. In dieser Kommission überschneiden sich die Befugnisse, und das ist nach Ansicht einiger Kommentatoren kein Zufall. Denn wenn sich die Kommissar:innen nicht einig sind, kann das Wort der Kommissionspräsidentin das Letztentscheidende sein. Die Machtkonzentration bei von der Leyen und einem kleinen Kreis um sie herum war bereits während ihrer ersten Amtszeit zu beobachten.

EU-Geopolitik über die Ukraine hinaus
Aus Sicht von VDL ist Kallas die geeignete Wahl für eine »Kommission im Tarnanzug«. Die Stärkung der EU-NATO-Partnerschaft ist garantiert, da Kallas im November 2023 Interesse an der Nachfolge Stoltenbergs als NATO-Generalsekretärin bekundet hatte. Der Posten ging an den ehemaligen niederländischen Premierminister Mark Rutte – Kallas wird Chefin der europäischen Diplomatie. Ein hochrangiger EU-Beamter bezweifelte, dass es eine gute Wahl sei, »jemanden mit diesem Posten zu betrauen, der gerne Russen zum Frühstück isst«.
Kallas’ Vorstellung von Diplomatie ist offenbar, »dass man nicht mit Kriegsverbrechern spricht«. Dies war eine Anspielung auf Frankreichs Präsidenten Macron, der in den ersten Wochen nach dem russischen Angriff noch Versuche unternommen hatte, diplomatische Gespräche mit Moskau zu führen.
Sie schlug auch vor, dass es nicht schlecht wäre, wenn Russland in mehrere kleinere Staaten aufgeteilt würde. Dies empfahlen auch stets viele Sicherheitsberater diverser US-Präsidenten und neokonservative Thinktanks in den USA, um einen »eurasischen Block von China, Russland bis Deutschland« zu verhindern (so etwa Zbigniew Brzezinski in seinem Buch Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, 1997).
Kallas behauptete sogar, ein Sieg über die Russen sei unerlässlich, um einen dritten Weltkrieg zu vermeiden. Als entschiedene Verfechterin von Wirtschaftssanktionen gegen Russland war sie allerdings beunruhigt, weil bekannt wurde, dass ihr Ehemann Miteigentümer eines Unternehmens ist, das auch nach der russischen Invasion weiterhin Geschäfte in Russland tätigte.
Im übrigen ist von der künftigen Hohen Vertreterin für Außenpolitik nicht viel über ihre Ansichten zu weiteren Weltregionen und Konfliktherden bekannt. Ihre Kandidatur als Borrell-Nachfolgerin wurde in Israel positiv aufgenommen, da Borrell nach einigen Äußerungen über Menschenrechtsverletzungen in Gaza als Feind Israels galt. Solche Äußerungen sind von ihr nicht zu erwarten.
Bei der parlamentarischen Anhörung werden wir vielleicht etwas mehr über ihre Ansichten zu den Beziehungen zwischen der EU und China und zur europäischen Nachsicht gegenüber marokkanischen Ansprüchen auf die Westsahara erfahren. Ebenso zur »Zweistaatenlösung« Israel/Palästina, für die die EU immer noch eintritt; über das Verhältnis zum Iran und Jemen und vieles mehr. Kann man allein deshalb Hohe Vertreterin der Europäischen Union werden, nur weil man die Ukraine im Krieg gegen Russland und Israel im Krieg gegen Gaza unterstützt? Offenbar schon…
Von der Leyen trat ihr erstes Mandat im Zeichen des europäischen Green Deals an. Die Ambitionen schrumpften allmählich, und ein gewisser Druck von verärgerten Landwirten, deutschen Autoherstellern und kurzsichtigen Politikern schien ihr den Todesstoß zu versetzen. Inzwischen ist ein European War Deal im Entstehen, hinter dem die gesamte »extreme Mitte« zu stehen scheint. Wird es gelingen, genügend Kräfte zu mobilisieren, um diese Entwicklung zu stoppen?

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