Das neue Europäische Parlament bestätigt seine militaristische Gesinnung
Von Herman Michiel und Klaus Dräger
Im Juni 2024 wurde ein neues 720-köpfiges Europäisches Parlament gewählt, das vom 16. bis 19. Juli in Straßburg seine erste Plenarsitzung abhielt. Diese erste Sitzung gibt sofort den Ton an, den wir von diesem Parlament in den nächsten fünf Jahren erwarten können: den Ton militärischer Marschmusik.
Von der Leyen II
Das Europäische Parlament (EP) stimmte mit großer Mehrheit einer zweiten Amtszeit von Ursula von der Leyen als Chefin der Europäischen Kommission zu - diesmal vor allem wegen der ‘geopolitischen Linie’ (Ukraine). Ihre Präsidentschaft begann 2019 unter dem Banner des europäischen Green Deals. Doch während dieser zu einem Mantra verblasste, entpuppte sich die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin als leidenschaftliche Verfechterin der Militarisierung der Europäischen Union. Nicht mit ritualisierten Formeln, sondern mit milliardenschwerer Unterstützung für die europäische Rüstungsindustrie, mit Zusagen von Waffenlieferungen bis zum vollständigen militärischen Sieg der Ukraine. Ihr "Außenminister" Josep Borrell, der so genannte "Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik", befürwortete sogar die Förderung einer echten Kriegsmentalität in Europa.
Von der Leyen wurde so für eine zweite Amtszeit vom Parlament bestätigt: von ihrer eigenen Europäischen Volkspartei (EVP), von ihren Verbündeten aus der ‘extremen Mitte’ (Sozialdemokraten, Liberale und Grüne), und auch von Teilen der rechtsextremen EKR-Fraktion im EP. Sogar Manon Aubry, Ko-Vorsitzende der linken Fraktion im EP ('The Left') und Mitglied von Mélenchons La France Insoumise, hielt es für nötig, von der Leyen mit einer innigen Umarmung zu der 'guten Nachricht’ zu gratulieren. Und dies unter dem anerkennenden Blick des anderen linken Präsidenten Martin Schirdewan (Die Linke). [1]
Die Abwahl der designierten Kommissionspräsidentin war eine der wenigen Möglichkeiten für das Parlament, den Militarisierungskurs der EU zu kritisieren oder abzulehnen. Die Wiederwahl von der Leyens ist hingegen eine parlamentarische Legitimation dieses Kurses – nicht nur von der ‘extremen Mitte’, sondern auch von rechts bis hin zu Teilen der angeblichen ‘radikalen Linken’ in der EU. Gleichzeitig haben die sonst so eifrigen Verteidiger der Rechtsstaatlichkeit im Parlament ein Auge zugedrückt, als von der Leyen bei der Ausarbeitung der Covid-Impfstoff-Verträge geheime Geschäfte mit Big Pharma gemacht hat (per SMS, Pfizer-Skandal). Ihre hochmütige Weigerung, sich an die öffentlichen Transparenzregeln zu halten, wurde sogar vom Gericht der Europäischen Union verurteilt. Die meisten Abgeordneten ließen sich davon allerdings nicht beeindrucken.
Auch die Wahl der estnischen Premierministerin Kaja Kallas zur neuen "Hohen Vertreterin" als Nachfolgerin von Josep Borrell bestätigt das Bestreben der EU, nicht nur ein Handelsblock, sondern ein bewaffneter Machtblock zu werden, um die westliche Dominanz in der Welt zu stärken. Die israelische Regierung begrüßte ihre Ernennung, da Borrell wegen einiger Äußerungen über Menschenrechtsverletzungen in Gaza als Feind Israels galt. Von Kallas ist so etwas nicht zu befürchten.
Ukraine-Entschließung
Zurück zur ersten Sitzung des neuen Europäischen Parlaments. Wie bereits erwähnt, hat dieses Parlament kaum ein Mitspracherecht in der Außenpolitik der Union. Was es aber nicht daran hindert, Entschließungen über alles Mögliche zu verabschieden. Diese haben zwar keine bindende Wirkung, erwecken aber nach außen hin den Eindruck, dass ‘das Parlament daran arbeitet’. Dies war der Fall bei der "Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Juli 2024 zu der Notwendigkeit der anhaltenden Unterstützung der EU für die Ukraine".
Darin werden natürlich die Invasion und die Besetzung von Teilen des Landes, die großflächigen Zerstörungen und das Grauen, das der Krieg für die Zivilbevölkerung bedeutet, scharf verurteilt. Aber wenn es um die Interpretation und mögliche Lösungen dieses Krieges geht, unterstützt die große Mehrheit des Parlaments die Idee, dass es sich um einen Kampf auf höherer Ebene handelt: zwischen westlichen Werten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf der einen Seite und autokratischen Regimen auf der anderen.
Zitat: "Das Parlament weist erneut darauf hin, dass der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine Teil eines breiten Bündels von Maßnahmen ist, die sich gegen den Westen sowie gegen die Demokratie in der EU und die Werte der EU richten". Sobald der Rahmen als 'der Westen gegen den Rest' umrissen ist, ist es logisch, dass es dann um den starken Arm des Westens, die NATO, geht: "Das Parlament begrüßt das Ergebnis des NATO-Gipfels und bekräftigt seine Überzeugung, dass die Ukraine unumkehrbar auf dem Weg zur NATO-Mitgliedschaft ist." Außerdem “begrüßt das Parlament die Entscheidung der NATO, mit der garantiert wird, dass der Ukraine in naher Zukunft militärische Güter im Wert von mindestens 40 Mrd. EUR geliefert werden.”
Und dann kommen die eher praktischen Aspekte. Über diese kann das Parlament zwar nicht entscheiden, aber es kann Empfehlungen aussprechen: "Das Parlament fordert die EU und ihre Mitgliedstaaten auf, ihre militärische Unterstützung für die Ukraine so lange wie nötig aufrechtzuerhalten und in jeder erforderlichen Form zu intensivieren; bekräftigt seinen früheren Standpunkt, dass alle EU-Mitgliedstaaten und NATO-Verbündeten gemeinsam und individuell ihre Zusage geben sollten, jährlich mindestens 0,25 % ihres BIP für die militärische Unterstützung der Ukraine aufzuwenden". Und während mehrere Regierungen zögern, die rote Linie ukrainischer Operationen auf russischem Territorium zu überschreiten, spricht sich das Parlament "nachdrücklich dafür aus, die Beschränkungen aufzuheben, die für den Einsatz von der Ukraine zur Verfügung gestellten westlichen Waffensysteme gegen militärische Ziele im Hoheitsgebiet Russlands gelten." In der Entschließung sucht man vergeblich nach einer Aufforderung an die Staats- und Regierungschefs der EU, eine Friedensinitiative zu ergreifen. Statt eines Plädoyers für Deeskalation und Diplomatie findet sich nur diese Forderung nach Aufhebung aller Beschränkungen...
Wie sie abgestimmt haben
Die Entschließung wurde von 137 (von 720) EP-Mitgliedern abgelehnt, 47 enthielten sich, und 495 stimmten zu. Das Lager der Befürworter bestand vor allem aus den fast vollständigen Reihen der Christdemokraten (EVP), der Sozialdemokraten (S&D), der Liberalen (Renew) und der Grünen – also der gleichen "extremen Mitte", die von der Leyen für eine zweite Amtszeit unterstützte. Die Entschließung wurde jedoch von fast 100 Abgeordneten mehr angenommen, als von der Leyen (VdL) Stimmen erhielt – interessant … Bemerkenswert dabei ist [2], dass einige der gewählten Mitglieder ihrer eigenen Europäischen Volkspartei, die selbst einen verwässerten Green Deal noch zu weitreichend finden, gegen ihre Wiederwahl stimmten –obwohl sie entschiedene Befürworter einer Konfrontation mit Russland sind.
Der Beitrag der Rechtsextremen dazu ist schwierig einzuschätzen. Die Gleichsetzung "rechtsextrem = pro-Putin = contra Ukraine" ist zu einfach und falsch. Ein Teil der extremen Rechten scheint im Putin-Regime eine Fortsetzung des Sowjetkommunismus zu sehen und ist daher vehement gegen den Kreml und für die NATO: z.B. die polnische PiS, Melonis neofaschistische Fratelli d'Italia, die spanische Vox. [3] Die Wahlerfolge der Rechtsextremen bei den jüngsten Europawahlen haben sich bislang nicht in der Vergabe wichtiger Posten in den EU-Institutionen niedergeschlagen, wie diese hofften und forderten. Was aber an der antirussischen, pro-NATO-Haltung einer Reihe von mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten weiterhin nichts ändert.
Was uns aus linker Sicht am meisten beunruhigt: dass eben ein grosser Teil der so genannten ‘radikalen Linken’ in der EU dieser militärischen Blaskapelle eifrig hinterher marschiert ist – oder einfach abtauchte beim Thema ‘Krieg & Frieden’. Weniger als ein Drittel (15) der 46 Europaabgeordneten, die der Linksfraktion im EP angehören, stimmten gegen diese Entschließung. Von diesen 15 waren 8 von der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung, die erst im Juli dieser Fraktion beigetreten waren. Im Gegensatz dazu stimmten 18 Mitglieder der Linksfraktion der Entschließung zu und 13 (!) enthielten sich der Stimme.
Die bereits erwähnte Manon Aubry (LFI, Ko-Vorsitzende dieser Fraktion), stimmte dafür – ebenso wie die anderen acht gewählten MEP der LFI. Die beiden gewählten MEPs der belgischen PVDA/PTB, Rudi Kennes und Marc Botenga, haben sich der Stimme enthalten [4]. Der amtierende Ko-Vorsitzende dieser Fraktion, Martin Schirdewan, enthielt sich der Stimme, ebenso wie Carola Rackete. Diese beiden führten die Europaliste der LINKEN an, aber es reichte nur für drei Sitze für DIE LINKE im EP. Özlem Demirel (Platz 3) stimmte als einzige Europaabgeordnete der LINKEN gegen diese Resolution. Dagegen stimmten auch die Europabgeordneten von AKEL (Zypern) und der portugiesichen KP, die der Linksfraktion angehören. Hingegen haben die fraktionlosen sechs gewählten MEPs des BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht) alle gegen diese Ukraine-Entschließung gestimmt, wie auch die fraktionslosen deutschen MdEPs von DIE PARTEI (Berg, Sonneborn), der griechischen KP (KKE) sowie die mittlerweile fraktionslose Kate?ina Kone?ná aus Tschechien (KP Böhmens & Mährens KSCM; früher bei der Linksfraktion im EP).
Für die Friedensbewegung in Europa wird es darauf ankommen, auf welche politischen Kräfte sie noch zählen kann. Jedenfalls nicht auf die harte Rechte – der Kampf geht um das linke/progressive Spektrum. So wie Clare Daly und Mick Wallace das vormachten – unabhängige Linke aus Irland, vormals MEPs in der EP-Linksfraktion, die leider nicht wiedergewählt wurden und in der EP-Linksfraktion von deren Führung angegriffen und isoliert worden waren.
Wie auch immer – ein genauerer Blick auf die Verhältnisse in der EU und auch der Entwicklungen im Spektrum der ‘radikalen Linken’ im EP erscheint uns sinnvoll. Nötig ist eine ungeschminkte ‘konkrete Analyse einer konkreten Situation’ – wie Lenin das früher mal formulierte …
August 2024
[1] Siehe https://www.youtube.com/watch?v=2dL4LOxzk7c ab ca. 35 min 50sec.
[2] Die Abstimmung über eine zweite Amtszeit für VdL war geheim, was genaue Aussagen über das Abstimmungsverhalten unmöglich macht. Im Gegensatz dazu war die Abstimmung über die Ukraine-Entschließung öffentlich, man weiß genau, wer dafür oder dagegen war oder sich enthalten hat
[3] Siehe z.B. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Jan Rettig, The Far Right in the European Parliament.
[4] Zur Ukraine-Entschließung veröffentlichte die Partei einen Artikel, in dem sie die Haltung der EU als inakzeptabel bezeichnet und sogar die Frage stellt, ob wir schlafwandelnd auf einen dritten Weltkrieg zusteuern. Doch ohne jede Erklärung sagt dann die PTB/PVDA: "Wir haben uns dann der Stimme enthalten."
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