Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Europa 1. Februar 2025

Haushalt und Personal der neuen EU-Kommission
von Klaus Dräger und Herman Michiel

Nach geheimen politischen Verhandlungen zwischen den Regierungschefs, die den drei sogenannten »proeuropäischen« politischen Familien angehören, wurde Ursula von der Leyen Ende Juni 2024 für eine weitere fünfjährige Amtszeit als Kommissionspräsidentin vorgeschlagen und vom Europäischen Parlament (EP) bestätigt.

Der andere Spitzenposten – der des »Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik« – wurde an Estlands Premierministerin Kaja Kallas vergeben. Sie ist bekannt für ihre scharfe Abneigung gegen Russland, China, Iran und Venezuela.
Die anderen 25 designierten Kommissar:innen wurden wie immer von den Mitgliedstaaten vorgeschlagen, wobei jede Regierung auf nicht näher bezeichnete Weise »ihren Kandidaten/ihre Kandidatin für Brüssel« bestimmt. Das Ergebnis hängt von den jeweiligen nationalen politischen Kräfteverhältnissen ab und hat nichts mit den Europawahlen zu tun. Die Zusammensetzung der EU-Kommission, die das Monopol auf die Gesetzgebungsinitiative in der EU hat und deshalb auch als »Regierung« der EU bezeichnet wird, ist also in Wirklichkeit das Ergebnis von Zufällen und nationalen parteipolitischen Erwägungen – so viel zur demokratischen Legitimität dieses Gremiums.
In der neuen Kommission gehören 15 der 27 Kommissar:innen (55 Prozent) der EVP an, die aber nur 26 Prozent der Sitze im Parlament hält. Auch die Liberale »Renew« kann sich nicht beklagen: Sie hat fünf Kommissare (18 Prozent) für 11 Prozent der Parlamentssitze. Pech für die Grünen, denn keine Regierung hat einen grünen Kandidaten nach Brüssel geschickt, obwohl sie 7 Prozent des Parlaments stellen und Leyen als Präsidentin unterstützen.

Die Präsidentin diktiert das Programm
Anders als in den Mitgliedstaaten werden auf EU-Ebene auch keine Koalitionsgespräche geführt, um zu einem Regierungsprogramm der Kommission zu kommen. Dieses Programm, die »Politischen Leitlinien«, wurde am 18.Juli vor dem EU-Parlament verkündet, unterzeichnet: Ursula von der Leyen. Zwei Monate später stellte sie ihr Team vor: einen Namen für jedes Ressort, begleitet von einer Aufgabenbeschreibung (‚mission letter‘), was sie von den Kommissaren jeweils erwartet. Hier gab es einige Überraschungen: z.B. einen Verteidigungskommissar, den hat es noch nie gegeben, weil Verteidigung nicht zu den Zuständigkeiten der EU gehört. Dafür ist der Kommissionsposten für Beschäftigung und Soziales verschwunden.
In Leyens Vorgehen eine Art Ein-Frau-Regime zu sehen, wäre jedoch fehl am Platze. Es ist undenkbar, dass »Brüssel« gegen den Willen der (großen) Mitgliedstaaten eine eigene Politik betreiben könnte. Ein Satz aus den Leyenschen Leitlinien gibt dies sogar zu: »Die hier dargelegten Prioritäten stützen sich auf meine Konsultationen und auf die mit den demokratischen Kräften im Europäischen Parlament diskutierten gemeinsamen Vorstellungen sowie auf die Strategische Agenda des Europäischen Rates für 2024–2029.« Die Legitimität des Programms besteht also darin, dass es einfach aus dem destilliert wurde, was nach Ansicht der Präsidentin die »demokratischen Kräfte« fordern.

Eine ›wettbewerbsfähige Wirtschaft‹
Das erste Kapitel der Leitlinien für 2024 ist der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit gewidmet, und nicht wie 2019 dem Europäischen Green Deal. Wenn wir nicht hoffnungslos hinter den Amerikanern und Chinesen zurückfallen wollen, lautet die neue oberste Priorität, muss es den Unternehmen leichter gemacht werden, Geschäfte zu machen.
Dazu müssen EU-Rechtsvorschriften beschnitten werden. Vor allem zwei Richtlinien sind den Unternehmern ein Dorn im Auge, wie kürzlich eine Wunschliste französischer, deutscher und italienischer Wirtschaftsverbände ergab: die zu den globalen Lieferketten. Sie verlangen von (großen) Unternehmen ein Mindestmaß an Berichterstattung über ihre »Nachhaltigkeit« und die Achtung der Menschenrechte – offenbar ein Ballast für eine »wettbewerbsfähige Wirtschaft«.
Unklar bleibt, wie die Union die 800 Milliarden Euro mobilisieren könnte, die der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, für notwendig hält, um die europäische Wirtschaft anzukurbeln. Die Mitgliedstaaten sind es gewohnt, auf Kosten der anderen zu handeln: etwa bei der Exportförderung, beim Export von Arbeitslosigkeit in andere Länder, bei der Erzielung von Handelsüberschüssen. Wegen Klimaschutz, ökologisch-sozialen Umbaus/Transformation und anderer Zukunftsaufgaben in gemeinsame europäische Maßnahmen zu investieren und international verbindlich zusammenzuarbeiten – dafür gibt es warme Worte: von der EU und auch im Draghi-Bericht. Bei beiden geht es aber darum, dass die EU bei der »internationalen Wettbewerbsfähigkeit« der europäischen Unternehmen voran kommen müsse. Eben Konkurrenz statt Kooperation als Devise…

Aufrüstung über alles
Das zweite Kapitel der Leitlinien läutet eine »neue Ära für die europäische Verteidigung und Sicherheit« ein. Die angestrebte Europäische Verteidigungsunion soll beschleunigt werden. Dafür wurde erstmals ein Verteidigungskommissar (Andrius Kubilius) ernannt. Er fordert mindestens 500 Milliarden Euro über zehn Jahre für Investitionen in die »Verteidigung«, um die Ukraine zu unterstützen und die EU gegen Russland zu schützen.
Woher soll das Geld kommen? Einige wollen gemeinsame europäische Schuldverschreibungen (»Eurobonds«) ausgeben – doch die angeblich »sparsamen« Mitgliedstaaten lehnen eine europäische »Schuldenunion« ab. Andere fordern, dass die Milliarden Euro, die für die Unterstützung wirtschaftlich schwacher Regionen in der EU bestimmt sind (»Kohäsionsfonds«), bisher aber nicht ausreichend abgerufen wurden, für militärische Zwecke genutzt werden.
Aberwitzig ist die jüngste Idee der Kommission, die Rüstungsindustrie als nachhaltig und grün einzustufen, weil sie »erhebliche Anstrengungen unternommen habe, um zu weniger energieintensiven und CO2-emittierenden Herstellungsverfahren überzugehen«. Deshalb soll sie Zugang zu grünen Fonds und günstigen Krediten der Europäischen Investitionsbank bekommen.
Nicht nur Putin, auch Migrant:innen bedrohen Europas Sicherheit. Die Grenz- und Küstenwache Frontex, in mehrere Fälle von illegalen Pushbacks verwickelt, soll von 10000 auf 30000 Wachen aufgestockt werden, mehr »strategische Beziehungen« zu afrikanischen Regierungen aufgebaut werden, um Migrant:innen an der Einreise in die EU zu hindern und als illegal eingestufte Staatsangehörige zurückzunehmen. Polens Regierung unter dem Liberalen Donald Tusk hat vor kurzem beschlossen, das Recht auf Asyl auszusetzen – die Entscheidung wurde anschließend von der Kommission gebilligt.

Der EU-Haushalt
Die Landwirtschaft soll an den Klimawandel »angepasst« und auf das Schlimmste vorbereitet werden (beim EU Green Deal ging es noch um die Reduzierung des Kohlenstoffausstoßes).
Strategien zur Bekämpfung der Armut oder zur Gleichstellung der Geschlechter o.ä. wurden in ein Allround-Mix-Kommissariat »Menschen, Kompetenzen und Vorsorge« entsorgt.
Was die »europäischen Werte« betrifft, so ist die »Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit« die zentrale Aufgabe. Es ist jedoch zweifelhaft, ob die angekündigte Absicht, Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit durch die Nichtauszahlung europäischer Subventionen zu ahnden, solche aufhält. Noch zweifelhafter ist, ob die Bindung von Zahlungen aus dem europäischen Haushalt an die Durchführung von »Reformen« etwas mit Rechtsstaatlichkeit zu tun hat. Wir sehen darin eher den Machtmissbrauch einer Bürokratie, die permanent versucht, neoliberale Politik voranzutreiben.

Die Leitlinie verfolgt vor allem ein Ziel: Die EU soll ein »geostrategischer Akteur von Format« werden. (Im Lissabon-Vertrag vor einem Vierteljahrhundert hieß es noch, die EU müsse zum »wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt« werden – das ist lang her…). Leyen ist stolz darauf, dass nach jahrzehntelangen Verhandlungen das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Ländern aus Lateinamerika (Mercosur) ein politisches »Ja« erhielt – aber die Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten und möglicherweise das Parlament steht noch aus. Eine zusätzliche Erweiterung der Union sei ein »geopolitischer Imperativ«.

Schließlich soll der EU-Haushalt reformiert werden. Bisher erfolgten Zahlungen aus dem EU-Haushalt an die Mitgliedstaaten nach festgelegten Kriterien für verschiedene Zwecke: Agrarsubventionen abhängig von der Anzahl, Größe und Art der landwirtschaftlichen Betriebe in einem Mitgliedstaat; »Kohäsionsfonds« abhängig vom wirtschaftlichen Entwicklungsstand bestimmter Regionen; Gelder für Forschung und Entwicklung abhängig von der Teilnahme an bestimmten Programmen; Unterstützung für den Grenzschutz abhängig von der Situation und so weiter.
Die Kommission wünscht sich allerdings ein über bisherige Maßnahmen hinausgehendes Druckmittel, um den Mitgliedstaaten »Reformen« für den Bezug von EU-Fördergeldern abzuringen. Eine Idee ist, die Mittel aus den verschiedenen Programmen, die in einem Mitgliedstaat laufen, als eine einzige Summe an die nationale Regierung auszuzahlen. Sollten dann die »Reformen«, die die Kommission für notwendig hält, nicht durchgeführt werden, würden die Gelder eingefroren.

Rechtsruck
Das Europäische Parlament kann den Personalvorschlag für die Kommission nur in seiner Gesamtheit billigen oder ablehnen – es sollen nicht einzelne Personalvorschläge »abgeschossen« werden dürfen. Erwartungsgemäß fand sich auch diesmal eine Mehrheit – das Gegenteil wäre historisch beispiellos gewesen. Doch es war die bisher schwächste: 370 Pro-, 282 Contra-Stimmen, 36 Enthaltungen. Nur 54 Prozent der Parlamentarier stimmten der vorgeschlagenen Kommission zu. (Alle Kommissionen zwischen 1995 und 2019 haben zwischen 60 und 86 Prozent Zustimmung erreicht.)
Den Unterschied zu 2019 macht die stärkere Präsenz der extremen Rechten im EP aus: Die Patrioten für Europa (PfE), das Europa der Souveränen Nationen (ESN) und die Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) verfügen zusammen über 26 Prozent der Sitze, genauso viel wie die EVP. Deren Opposition hat Leyen versucht zu begrenzen, indem rechtsextremen Kandidaten wie dem Italiener Raffaele Fitto und den Ungarn Várhely Kommissionsposten angeboten wurden – was die Kommission deutlich nach rechts verschoben hat.

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