von Herman Michiel / Klaus Dräger
Militarisierung, Festung Europa, ‚Wettbewerbsfähigkeit‘
Nach sechsmonatigem politischen Gerangel mit dem Europäischen Parlament hat die neue von-der-Leyen-Kommission am 1. Dezember 2024 ihre Arbeit aufgenommen. Ist die Europäische Kommission, die „Regierung“, die Exekutive der Union? Oder ist sie auch die ‚Legislative‘? Wie ist die EU in dieser Hinsicht aufgestellt?
Erstens: Die europäische Gesetzgebung entsteht dadurch, dass die Kommission (KOM) einen Legislativvorschlag einbringt. Allein die Kommission, nicht das Europäische Parlament (EP) hat das Recht auf Gesetzesinitiativen. ‚Exekutive‘ ist die Kommission als ‚Hüterin der EU-Verträge‘, des EU-Rechts und deren Umsetzung, auch als Kontrolle gegenüber den Mitgliedstaaten.
Zweitens: Wenn entsprechende legislative Initiativen (EU-Richtlinien, Verordnungen) der KOM von einer Mehrheit im Parlament sowie vom Rat (bestehend aus den Fachministern der Mitgliedstaaten) gebilligt und eventuell abgeändert werden, wird dies zu europäischem Recht. Allerdings: Die Kommission kann jederzeit ihren Vorschlag zurückziehen, z.B. wenn die Änderungswünsche vom EP oder dem Rat aus ihrer Sicht in die „falsche“ Richtung gehen. Es besteht also keine Chance, dass ein europäisches Gesetz verabschiedet wird, wenn es von einer nicht gewählten Kommission als nicht akzeptabel eingestuft wird.
Eine weitere fragwürdige Praxis sind die „Triloge“. Wenn das Parlament und der Rat in ihrer Beurteilung eines Kommissionsvorschlags nicht übereinstimmen, trifft sich eine kleine Gruppe, bestehend aus führenden Vertretern des Parlaments und einer Vertretung der Kommission und des Rates. Dies geschieht hinter verschlossenen Türen und erzielt meist einen Kompromiss. Dieser leitet dann die Plenarabstimmung im Parlament. Die hinter verschlossenen Türen vereinbarten Deals bleiben geheim, da es keine Protokolle der Trilogsitzungen gibt.
Ein noch undurchsichtigeres, der Öffentlichkeit völlig unbekanntes Gremium ist der „Regulatory Scrutiny Board“. Er besteht aus neun Personen, die die „Qualitätskontrolle“ von Kommissionsvorschlägen durchführen, bevor diese veröffentlicht werden. Fällt deren Stellungnahme negativ aus, überarbeitet die Kommission ihren Vorschlag. Dieser Ausschuss für Regulierungskontrolle ist „völlig unabhängig“ und „agiert unabhängig von den politischen Abteilungen“ der EU. Seltsamerweise sind fünf der neun Mitglieder hochrangige Beamte aus diesen Abteilungen. Und die vier „Außenstehenden“ haben Verbindungen zu nationalen Regierungen, Unternehmen, Beratungsfirmen, der OECD usw..
„Demokratisch legitimierte“ EU-Kommission – oder eher Basar-Prinzip …
Ursula von der Leyen wurde Ende Juni 2024 nach geheimen politischen Verhandlungen zwischen den Regierungschefs, die den drei sogenannten „pro-europäischen“ politischen Familien angehören, für eine weitere fünfjährige Amtszeit als Kommissionspräsidentin vorgeschlagen und vom EP bestätigt. Diese ‚pro-europäischen politischen Familien‘ werden oft als „die Plattform“ bezeichnet, weil sie stets eine Mehrheit im Parlament stellten. Es handelt sich um die konservative Europäische Volkspartei (EVP), der von der Leyen angehört; sowie um die „Sozialisten und Demokraten“ (S&D) und die liberale Gruppe „Renew“. Der andere Spitzenposten – der des „Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik“ – wurde an Estlands Premierministerin Kaja Kallas vergeben. Sie ist bekannt für ihre scharfe Abneigung gegen Russland, China, Iran und Venezuela.
Die anderen 25 designierten Kommissar:innen wurden wie immer von den Mitgliedstaaten vorgeschlagen – wobei jede Regierung auf nicht näher bezeichnete Weise „ihren Kandidaten/ihre Kandidatin für Brüssel“ bestimmt. Das Ergebnis hängt von den jeweiligen nationalen politischen Kräfteverhältnissen ab, hat aber nichts mit den Europawahlen zu tun. Die Zusammensetzung der EU-Kommission, die das Monopol auf die Gesetzgebungsinitiative in der EU hat, ist also in Wirklichkeit das Ergebnis von Zufällen und nationalen parteipolitischen Erwägungen – so viel zur demokratischen Legitimität dieses Gremiums.
So ist es beispielsweise solchen Zufällen zu verdanken, dass in der neuen Kommission 15 der 27 Kommissar:innen (55 Prozent) der EVP angehören, die 26 Prozent der Sitze im Parlament hält. Auch die Liberale ‚Renew‘ kann sich nicht beklagen: fünf davon (18 Prozent) für 11 Prozent der Parlamentssitze. Pech für die Grünen, denn keine Regierung hat einen grünen Kandidaten nach Brüssel geschickt, obwohl sie 7 Prozent des Parlaments stellen und von der Leyen als Präsidentin unterstützten.
Die Kommissionspräsidentin diktiert das Programm
Wenn man die Kommission als „europäische Regierung“ ansieht – wie mensch es von der nationalstaatlichen Ebene kennt –, dann würde man erwarten, dass Koalitionsgespräche geführt werden, um zu einem Regierungsprogramm zu kommen. Aber auch das ist in der EU anders. Das „Programm“ wurde am 18.Juli vor dem Parlament verkündet: Politische Leitlinien für die nächste Europäische Kommission, unterzeichnet: Ursula von der Leyen. Zwei Monate später, nachdem alle Mitgliedstaaten ihre Vorschläge für künftige Kommissionsposten bekannt gegeben hatten, konnte sie ihr Team vorstellen: einen Namen für jedes Ressort, begleitet von einer Aufgabenbeschreibung (‚mission letter‘), was sie von diesen jeweils erwartet.
Auch hier gab es einige Überraschungen: Einen „Verteidigungskommissar“ hat es noch nie gegeben, da die Verteidigung nicht zu den Zuständigkeiten der EU gehört. Der traditionelle Kommissionsposten für Beschäftigung und Soziales war verschwunden.
In von der Leyens Vorgehen eine Art Ein-Frau-Regime zu sehen, ist fehl am Platze. Es ist undenkbar, dass „Brüssel“ gegen den Willen der (großen) Mitgliedstaaten eine eigene Politik betreiben könnte. Ein Satz aus den von der Leyen'schen Leitlinien gibt dies sogar zu: „Die hier dargelegten Prioritäten stützen sich auf meine Konsultationen und auf die mit den demokratischen Kräften im Europäischen Parlament diskutierten gemeinsamen Vorstellungen sowie auf die Strategische Agenda des Europäischen Rates für 2024-2029“. Die Legitimität des „Programms“ besteht also darin, dass es einfach aus dem destilliert wurde, was nach Ansicht der Präsidentin die ‚demokratischen Kräfte‘ fordern.
Eine ‚wettbewerbsfähige‘Wirtschaft, die auf den Krieg vorbereitet ist
Das erste Kapitel der Leitlinien für 2024 ist der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit gewidmet, und nicht, wie 2019, dem Europäischen Green Deal. Wenn wir nicht hoffnungslos hinter den Amerikanern und Chinesen zurückfallen wollen, muss es den Unternehmen leichter gemacht werden, Geschäfte zu machen, so die neue oberste Priorität.
Wie durch ein Wunder tagte bereits am Tag nach von der Leyens erneuter Amtsantritt der Ministerrat. Welche EU-Rechtsvorschriften sollten beschnitten werden, um „unseren Unternehmen Luft zum Atmen“ zu verschaffen? Vor allem zwei Richtlinien sind den Unternehmern ein Dorn im Auge, wie kürzlich eine Wunschliste französischer, deutscher und italienischer Wirtschaftsverbände ergab: die sogenannten CSDD- und CSRD-Richtlinien zu globalen Lieferketten. Diese verlangen von (großen) Unternehmen ein Mindestmaß an Berichterstattung über ihre ‚Nachhaltigkeit‘ und die Achtung der Menschenrechte. Dies ist inzwischen offenbar ein unerwünschter Ballast für eine ‚wettbewerbsfähige Wirtschaft‘.
Ebenso ist unklar, wie die Union 800 Milliarden Euro mobilisieren könnte, um die europäische Wirtschaft anzukurbeln. Der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, schlug dies in seinem sehr beachteten Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit der EU vor. Die Mitgliedstaaten sind hingegen eher daran gewöhnt, nach dem ‚Beggar thy neighbour-Prinzip‘ zu handeln (Exporte fördern, Handelsüberschüsse erzielen, Arbeitslosigkeit in andere Länder ‚exportieren‘). Wg. Klimaschutz, ökologisch-sozialen Umbau/Transformation und anderen Zukunftsaufgaben in gemeinsame europäische Maßnahmen zu investieren und international verbindlich zusammenzuarbeiten – dazu gibt es warme Worte von der EU zuhauf und auch im Draghi-Bericht. Bei beiden geht es aber darum, dass die EU bezüglich der ‚internationalen Wettbewerbsfähigkeit‘ der europäischen Unternehmen (ein neoliberales Konzept) vorankommen müsse. Eben Konkurrenz statt Kooperation als Devise …
Aufrüstung über alles – Rüstungsindustrie wird ‚grün‘?
Das zweite Kapitel der Leitlinien läutet eine „neue Ära für die europäische Verteidigung und Sicherheit“ ein. Jetzt, da „die Ukraine für unsere Freiheit, Demokratie und unsere Werte kämpft“, soll die angestrebte Europäische Verteidigungsunion beschleunigt werden. Dafür wurde erstmals ein Verteidigungskommissar (Andrius Kubilius) ernannt. Er fordert mindestens 500 Milliarden Euro über zehn Jahre für Investitionen in die ‚Verteidigung‘, um die Ukraine zu unterstützen und die EU gegen Russland zu schützen.
Woher soll das Geld kommen? Einige wollen gemeinsame europäische Schuldverschreibungen („Eurobonds“) ausgeben – aber das steht im Widerspruch zu den „sparsamen“ Mitgliedstaaten, die eine europäische „Schuldenunion“ ablehnen. Andere Lösungen werden diskutiert. Es gibt Milliarden von Euro, die für die Unterstützung wirtschaftlich schwacher Regionen in der EU bestimmt sind („Kohäsionsfonds“), aber bisher nicht ausreichend abgerufen wurden. Eine Änderung der Regeln soll diese für militärische Zwecke zugänglich machen.
Noch „witziger“ ist die jüngste Idee der Kommission, dass die Rüstungsindustrie als nachhaltig und grün eingestuft werden soll – weil sie „erhebliche Anstrengungen unternommen habe, um zu weniger energieintensiven und CO2-emittierenden Herstellungsverfahren überzugehen. Folglich soll sie Zugang zu grünen Fonds, günstigen Krediten der Europäischen Investitionsbank usw. bekommen.
Ausbau der Festung Europa
Die Sicherheit der Europäer sei nicht nur durch einen kriegerischen Putin bedroht, sondern auch durch den „Druck an unseren Grenzen“, wie es in von der Leyens politischen Leitlinien heißt. Die berühmt-berüchtigte Grenz- und Küstenwache FRONTEX, die in mehrere Fälle von illegalen Pushbacks verwickelt war, soll von 10.000 auf 30.000 Wachen aufgestockt werden, die mit modernster Technik ausgestattet sind. Neue Pläne sehen vor, mehr „strategische Beziehungen“ zu afrikanischen Regierungen aufzubauen, um Migranten an der Einreise in die EU zu hindern, und als illegal eingestufte Staatsangehörige zurückzunehmen. Die bereits bestehenden Abkommen mit Libyen, Ägypten und Tunesien zeigen deren oft kriminellen Charakter. Es ist auch klar, dass die viel gepriesene Rechtsstaatlichkeit gebrochen werden kann, wenn es darum geht, die Festung Europa gegen Eindringlinge zu schützen. Polens Regierung unter dem Liberalen Donald Tusk hat vor kurzem beschlossen, das Recht auf Asyl auszusetzen – eine Entscheidung, die anschließend von der Kommission gebilligt wurde.
Eine Prise „soziales Europa“, ein Teelöffel Bauernromantik
Der dritte Teil der Leitlinien widmet sich dem ‚Sozialen‘. An wohlklingenden Begriffen mangelt es nicht (Fahrplan für hochwertige Arbeitsplätze, Strategie zur Bekämpfung der Armut, Plan für erschwinglichen Wohnraum, Strategie zur Gleichstellung der Geschlechter usw.). Als die Aufgaben der künftigen Kommissar:innen bekannt gegeben wurden, hatte der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) gegen die Streichung des traditionellen Kommissionspostens für Beschäftigung und Soziales protestiert. Zunächst war vorgesehen, dass die designierte Kommissarin Roxana Mînzatu für einen Mischmasch mit dem Titel „Menschen, Kompetenzen und Vorsorge“ zuständig werden sollte. Doch am 27. November sagte von der Leyen in ihrer Rede vor dem Parlament: „Ich habe Ihren Ruf gehört. Und ich freue mich, ankündigen zu können, dass soziale Rechte und hochwertige Arbeitsplätze Teil von Roxanas Titel sein werden.“ Der EGB war hoch erfreut über diese ‚Kehrtwende‘ und veröffentlichte eine Pressemitteilung mit dem Titel „Unions win u-turn on quality jobs commissioner“.
Der vierte Teil der Leitlinien beginnt mit einer wohlwollenden Erklärung gegenüber den Landwirten. Lautstarke Proteste und Blockaden gegen zu viele einschränkende europäische Nitrat- und andere Richtlinien gab es zuhauf – sowohl von der konventionellen Agroindustrie wie von den Kleinbauern. Die Bauern sollten aber beruhigt sein: „Die Landwirtschaft ist ein wesentlicher Bestandteil unserer europäischen Lebensweise.“ Aber auch die Landwirtschaft könne sich dem Gebot der Wettbewerbsfähigkeit nicht entziehen – das sei oberste Maxime. Diese Transformation wolle die EU durch Investitionen in landwirtschaftliche Betriebe, in „unsere“ Agrar- und Lebensmittelunternehmen und in kleine Unternehmen unterstützen.
Während es beim EU-Green Deal vor allem um die Reduzierung des Kohlenstoffausstoßes ging, geht es jetzt mehr um Anpassung an den ‚Klimawandel‘ (Resilienz) und um die Vorbereitung auf das Schlimmste. Vielleicht Pech für die Kleinbauern – denn wie würden diese zum Umstieg auf ökologisch nachhaltige Landwirtschaft künftig unterstützt?
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Geopolitik
Es gibt auch ein Kapitel über den „Schutz unserer Demokratie“ und die „Wahrung unserer Werte“. Aber hier ist die alte Warnung angebracht: Wenn der Fuchs predigt, pass auf deine Gänse auf! Gegen die Informationsmanipulation durch ausländische Mächte ist ein „europäischer Demokratieschutzschild“ vorgesehen. Es wird auf die Beispiele Viginum in Frankreich und die schwedische Agentur für psychologische Verteidigung verwiesen. Letztere rät zum Beispiel, die Informationsquelle zu prüfen und … offizielle Quellen zu konsultieren. Die Zusammenarbeit der Agentur mit der schwedischen Armee, den Sicherheitsdiensten und der Polizei ist natürlich eine schlüssige Garantie für solide Informationen…
Was die „europäischen Werte“ betrifft, so ist die „Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit“ die zentrale Aufgabe. Es ist zweifelhaft, ob die angekündigte Absicht, Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit durch Nichtauszahlung europäischer Subventionen zu ahnden, daran etwas ändert. Noch zweifelhafter ist es, ob die Bindung von Zahlungen aus dem europäischen Haushalt an die Durchführung von 'Reformen' etwas mit Rechtsstaatlichkeit zu tun hat. Wir sehen darin eher den Machtmissbrauch einer Bürokratie, die permanent versucht, neoliberale Politik voranzutreiben.
Von der Leyens Leitlinien sprechen dann von dem heiß gehegten Wunsch, dass die EU ein geostrategischer Akteur von Format werden soll. Zu diesem Zweck müssten alle vorhandenen Mittel eingesetzt werden. Die Erweiterung der Union sei ein „geopolitischer Imperativ“, denn sie verleihe der EU mehr Gewicht und Einfluss auf der globalen Bühne. Die Beziehungen zu unseren Nachbarn müssten strategisch betrachtet werden, weshalb auch ein Kommissar für den Mittelmeerraum ernannt wurde.
Dass sich die EU „weiterhin an allen diplomatischen Initiativen“ beteiligen sollte, um eine Lösung des „Konflikts“ in Gaza zu erreichen, ist allerdings eine unangebrachte Formulierung. Die EU hat sich an keiner diplomatischen Initiative in diesem Sinne beteiligt.
Die Wirtschafts- und Handelspolitik sei auch als geostrategisches Instrument zu sehen. Partnerschaften sollen sicherstellen, dass uns kritische Erze und Rohstoffe zur Verfügung stünden, und „wir werden ehrgeiziger bei der Durchsetzung unserer Handelsabkommen sein“. Bislang ist von der Leyen stolz darauf, dass nach jahrzehntelangen Verhandlungen das Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur mit Ländern aus Lateinamerika ein politisches „Ja“ erhielt (aber noch nicht von den Mitgliedstaaten und möglicherweise dem EU-Parlament ratifiziert wurde.)
Reform des EU-Haushalts
Die Leitlinien schließen mit vagen Beschreibungen der gewünschten Reformen, zum einen der europäischen Verträge im Hinblick auf die Erweiterung der Union, zum anderen der Verwendung des europäischen Haushalts. Zur angestrebten Reform des EU-Haushalts gibt es bislang nur Diskussionspapiere, aber noch keine konkreten Vorschläge.
Bisher erfolgten Zahlungen aus dem EU-Haushalt an die Mitgliedstaaten nach festgelegten Kriterien für verschiedene Zwecke: Agrarsubventionen abhängig von der Anzahl, Größe und Art der landwirtschaftlichen Betriebe in einem Mitgliedstaat; „Kohäsionsfonds“ abhängig vom wirtschaftlichen Entwicklungsstand bestimmter Regionen; Gelder für Forschung und Entwicklung abhängig von der Teilnahme an bestimmten Programmen; Unterstützung für den Grenzschutz abhängig von der Situation und so weiter.
Die Kommission wünscht sich allerdings ein über bisherige Maßnahmen hinausgehendes Druckmittel, um den Mitgliedstaaten ‚Reformen‘ für den Bezug von EU-Fördergeldern abzuringen. Die Grundidee: Wenn die Mittel aus den verschiedenen Programmen, die in einem Mitgliedstaat laufen, als eine einzige Summe an die nationale Regierung ausgezahlt würden, spart das ‚Bürokratie‘. Sofern dann die ‚Reformen‘, die die Kommission für notwendig hält, durchgeführt würden – alles gut. Wenn nicht, würden die Gelder eingefroren. Von der Leyen kündigte an, 2025 Vorschläge dazu vorzulegen. Sie lässt sich aber im Moment nicht in die Karten schauen.
Rechtes Parlament, rechte Kommission – von der Leyen fest im Sattel?
In der ersten Novemberhälfte fanden die Anhörungen der Kandidat:innen für die Kommission statt. Delegationen des Parlaments sollten deren fachliche Eignung, ihre Kenntnisse über die übertragene Verantwortung usw. prüfen. Die Medien sprachen von einem „Grillen“ der vorgeschlagenen Personen durch das EP. Bei genauerem Hinsehen beschränkten sich die Abgeordneten mit ihren Fragen jedoch auf den in den Politischen Leitlinien skizzierten Rahmen und den „Auftragsbrief“ an die jeweiligen Kandidat:innen. Und den großen Parteien im Parlament ging es um die Zustimmung zu „ihren“ nationalen Kommissionsmitgliedern in spe und nicht um die Zusammenstellung eines kompetenten Teams.
Nach dem „Grillen“ musste das Europäische Parlament am 27. November die Kommission entweder in ihrer Gesamtheit billigen – oder nicht. Wie erwartet fand sich eine Mehrheit – das Gegenteil wäre historisch beispiellos gewesen. Doch es war die schwächste Kommission seit Jahrzehnten: 370 Pro-, 282 Contra-Stimmen, 36 Enthaltungen. Nur 54 Prozent der Parlamentarier stimmten der vorgeschlagenen Kommission zu. Alle Kommissionen zwischen 1995 und 2019 erreichten zwischen 60 und 86 Prozent an Zustimmung – selbst die Kommission von der Leyen I im Jahr 2019 65 Prozent.
Den Unterschied zwischen 2019 und 2024 macht die stärkere Präsenz der extremen Rechten im Parlament (und in der Gesellschaft insgesamt). Die Patrioten für Europa (PfE), das Europa der Souveränen Nationen (ESN) und die Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) verfügen zusammen über 26 Prozent der Sitze, 8 Prozent mehr als 2019 und genauso viel wie die größte Fraktion der „Mitte“, die EVP.
Sie sind keine Friedensparteien, ganz im Gegenteil. Einige von ihnen vertreten extreme israelfreundliche Positionen, aber sie sind bei der Verteilung der wichtigeren Positionen in den Institutionen weitgehend aus dem Rennen gefallen. Und wenn sie allgemein als „Euroskeptiker“ gelten, dann nicht aus Opposition zum neoliberalen Europa – sondern aus einem rückständigen Nationalismus, gepaart mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Ihre Opposition gegen die „Plattform“, die politische Mitte, wie stark sie auch nach rechts gerückt ist, ist ein Protest gegen ihre Nicht-Einbeziehung in die Machtstrukturen und auch eine Taktik für den innenpolitischen Einsatz. Denn selbst ein Schattenkampf gegen die unpopuläre EU kann wählerwirksam sein.
Von der Leyen war sich dieser Risiken bewusst und hat sich mit verschiedenen Manövern dagegen gestemmt. Im vergangenen Jahr schien sich sogar eine Freundschaft zwischen ihr und Giorgia Meloni anzubahnen – der italienischen Ministerpräsidentin und Führerin der neofaschistischen Fratelli d'Italia, die mit den Europäischen Konservativen und Reformisten verbunden ist. Von der Leyen wurde zusammen mit Meloni in Kairo und Tunis gesehen, um mit autokratischen Herrschern Abkommen über die Begrenzung der Migration zu treffen. Von der Leyen übertrug Melonis Kandidaten für die Europäische Kommission, Raffaele Fitto, nicht nur ein wichtiges (milliardenschweres) Kohäsions- und Reformressort, sondern auch den Rang eines Vizepräsidenten der Kommission.
Die sozialdemokratische S&D-Opposition nahm den anderen rechtsextremen Kandidaten, Olivér Várhelyi (PfE) aufs Korn. Dieser wurde vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán für eine zweite Amtszeit in Brüssel vorgeschlagen. Die EVP verteidigte die Zusammensetzung der Kommission, wie von der Leyen sie vorgeschlagen hat – einschließlich Várhelyi und Fitto.
Dem Widerstand der S&D begegnete die EVP mit der Drohung, die sozialdemokratische spanische Kandidatin Teresa Ribera abzulehnen. Für sie war ein Schlüsselressort und der Rang einer Vizepräsidentin vorgesehen. So kam es, dass die „Plattform“ dem ‚Gezänk‘ in der extremen Mitte ein Ende setzte – mit dem Ergebnis einer deutlich nach rechts verschobenen EU Kommission. Die S&D wurde damit besänftigt, dass einige Befugnisse von Várhelyi auf die belgische Kandidatin, die Liberale Lahbib, übertragen wurden.
Die Grünen bekamen einen kleinen Leckerbissen: Ihr ehemaliger grüner EP-Fraktionsvorsitzender Philippe Lamberts aus Belgien wurde Berater der Präsidentin. Die Mehrheit der „Plattform“-Fraktionen des EP und der EKR stimmte schließlich der vorgeschlagenen neuen Kommission zu.
Ausblick
Müssen wir mit einer noch selbstbewussteren Kommissionspräsidentschaft als die vorherige rechnen? Von der Leyen ist trotz all ihrer Skandale nochmal durch gekommen. Sie hat eine steile Karriere in der BRD hinter sich (erst als Arbeitsministerin unter Merkel, dann als deutsche Verteidigungsministerin). 2019 wurde sie für viele überraschend auf Vorschlag von Emmanuel Macron zur Präsidentin der EU-Kommission gekürt. Auch für ihre zweite Amtszeit als KOM-Präsidentin zeigte sie ein gehöriges Maß an Chuzpe. Sie wurde erneut Kommissionspräsidentin, obwohl der Europäische Gerichtshof ihre Geheimniskrämerei um Impfstoffgeschäfte mit Pfizer untersuchte, was die EP-Mehrheit nicht weiter interessierte.
Sie hat erneut ausprobiert, wie weit sie gehen kann, und festgestellt, dass sie damit nochmal durchkommen kann. Auch wenn es diesmal sehr knapp war.
Sie übernahm im Alleingang die Rolle der außenpolitischen Vertreterin der EU, indem sie nach dem Hamas-Anschlag sofort ihre Unterstützung für Netanjahu erklärte. Sie öffnete sich der extremen Rechten, obwohl sie gesagt hatte, sie wolle dies nicht tun. Sie machte Deals mit autokratischen Regimen, um Flüchtlinge aus der EU herauszuhalten, und drückte dabei ein Auge zu, wenn es um kriminelle Mittel ging.
All das war möglich, eine Mehrheit des EP hat sie für eine zweite Amtszeit bestätigt. Aber die wirklichen Probleme anzugehen, ist etwas ganz anderes als kleinkariertes politisches Manövrieren. Nach der Amtseinführung von Trump droht ein Handelskrieg, die Union entfernt sich immer weiter von ihren Klimazielen. Von der Leyen versucht eine Schaukelpolitik in wirtschaftspolitischer Hinsicht: Das Gesicht beim Thema Klimaschutz wahren, indem jetzt ein aus ökologischer und sozialer Sicht ohnehin fragwürdiger ‚EU-Green Deal‘ auf einen ‚Clean Industrial Deal‘ eingedampft wurde.
Dieser spricht vage von ‚Dekarbonisierung, industrieller Wettbewerbsfähigkeit und Produktionskapazitäten.‘ Dies vor dem Hintergrund einer von Wirtschaftskrise geplagten deutschen und französischen Ökonomie, die die gesamte Eurozone in die Flaute zieht. Also geht es am Ende eher um ‚Wettbewerbsfähigkeit‘ auf Teufel komm raus (‚Rettung‘ der Unternehmen und Banken) – wie immer, wenn es hart wird.
Ihre Ukrainepolitik erweist sich als unhaltbar und mit ihrer Migrationspolitik und der anhaltenden Unterstützung Israels hat sie jede moralische Glaubwürdigkeit verloren. Innenpolitisch entfernt sich das traditionelle „Tandem“ Deutschland-Frankreich immer weiter voneinander. Auch die von ihr und dem scheidenden deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz avisierte weitere Osterweiterung der EU (siehe Moldau, Georgien, Konflikte in Rumänien) scheint nicht so einfach zu sein, wie beide dachten. Geopolitisch spielt die EU ansonsten eigentlich keine Rolle mehr.
Mit viel heißer Luft wird sich das auf Dauer kaum übertünchen lassen. Was die ‚Plattform‘ der extremen Mitte im EP (einschließlich der Grünen) angeht – mal sehen. So oder so haben wir bereits jetzt eine deutlich sichtbare Rechtsverschiebung innerhalb der EU-Mitgliedstaaten, bei der Kommission auch im EP.
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