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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2024

Die IV.Internationale will im Februar ein Manifest verabschieden
von Thies Gleiss

Der Weltkongress der IV.Internationale, der seit 1938 in Abständen von vier bis acht Jahren stattfindet und revolutionär-marxistische Parteien und Organisationen aus der ganzen Welt versammelt, will im Februar 2025 ein Ökosozialistisches Manifest verabschieden. Seit einigen Monaten gibt es dazu einen Entwurf.

Er ist auf Deutsch in einer Broschüre von ISO (Deutschland), BfS (Schweiz) und SOAL (Österreich) erschienen. Sein Titel: »Mit dem kapitalistischen Wachstum brechen, für eine ökosozialistische Alternative – Manifest des revolutionären Marxismus im Zeitalter kapitalistischer Zerstörung von Umwelt und Gesellschaft«.

Die IV.Internationale ist historisch vor allem als Ort der Verteidigung bestehender politischer Erkenntnisse und Prinzipien des revolutionären Marxismus entstanden. Sie basiert weniger auf neuen Programmen und Theorien. Insofern stellt dieses Manifest auch eine Herausforderung dar, das aber auf Erfahrungen der Vergangenheit aufbauen kann.
Aus der Mitarbeit in der damals neuen, linken Frauenbewegung entstand 1978 die Resolution »Kein Sozialismus ohne Befreiung der Frau. Keine Befreiung der Frau ohne Sozialismus. Sozialistische Revolution und der Kampf für die Befreiung der Frau«. Darin wurde die aktuelle und in wesentlichen Aspekten neue Positionierung der IV.Internationale in bezug auf eine autonome Frauenbewegung dargestellt. Im Jahr 1985 nahm der XII.Weltkongress die Resolution »Sozialistische Demokratie und Diktatur des Proletariats« an. Darin wurde die Kritik an der Bürokratisierung von Arbeiterparteien und Arbeiterstaaten sowie die inhaltliche Aufhebung und Verbesserung der beschränkten bürgerlichen Demokratie beschrieben.
Schlussendlich widmete sich die IV.Internationale der Arbeit an einer umfassenden Resolution zu allen Fragen der ökologischen Auswirkungen des Kapitalismus auf die Biosphäre und zu unserer Arbeit in den verschiedenen ökologischen Bewegungen. Ende der 70er Jahre begannen sehr viele Sektionen der IV.Internationale eine solidarische Mitarbeit in der Ökologiebewegung. Am Anfang war es vor allem die Anti-AKW-Bewegung, aber sehr bald kamen viele andere Themen und Protestbewegungen gegen die Zerstörung von Klima und Umwelt hinzu.
Früher als die meisten anderen linken Organisationen und Strömungen, von denen viele die Frage z.B. von neuen Technologien auf die Eigentumsfrage reduzierten, erfasste die IV.Internationale, dass die Zerstörung von Klima und Biosphäre ein neues Jahrhundert-, wenn nicht Jahrtausendthema begründet, das die gesamte revolutionär-marxistische Programmatik vor neue Herausforderungen stellt.
Die praktische Arbeit in der Ökologiebewegung führte Anfang der 80er Jahre zur Bildung der ersten Internationalen Ökologischen Kommission. Der Autor des vorliegenden Textes hatte die Ehre, darin mitzuwirken. Sie erarbeitete den Text einer ersten Weltkongressresolution (»Sozialistische Revolution und Ökologie«), die vom XIII.Weltkongress 1991 vorläufig gebilligt wurde. Der XV.Weltkongress 2003 nahm schließlich eine deutlich überarbeitete Resolution an (»Ökologie und Sozialismus«, nachzulesen auf www.inprekorr.de/oeko.htm).
Auf dem XVI.Weltkongress 2010 verlagerte sich der Schwerpunkt schließlich auf die Frage der Klimakatastrophe und der Bewegung für Klimagerechtigkeit. Es wurde die Resolution »Kapitalistische Klimaveränderung und unsere Aufgaben« angenommen. Sie ist als Broschüre bei der ISO erhältlich oder hier zu lesen: https://inprekorr.de/wk10/klima.htm. Schließlich beschloss der XVII.Weltkongress 2018 die Resolution »Die kapitalistische Zerstörung der Umwelt und die ökosozialistische Alternative«. Auch sie ist als Broschüre über die ISO zu beziehen, oder hier zu finden: www.oekosoz.org/2018/06/4_internationale_oekosozialistische_alternative/.

It’s capitalism, stupid
In diesem langen Prozess der Debatte und praktischen Arbeit in den ökologisch-sozialen Bewegungen entstanden wesentliche gemeinsame Erkenntnisse, die von einer sehr breiten Mehrheit in der IV.Internationale überall auf der Welt geteilt werden: Nämlich dass die kapitalistische Produktionsweise die Zerstörung von Klima und Umwelt beschleunigt.
In dem Entwurf für das Ökosozialistische Manifest werden die wichtigsten Daten dieser Zerstörung aufgelistet, sie müssen aber Jahr für Jahr korrigiert und meistens verschärft werden, man sollte das »Manifest« also nicht nach diesen absoluten Zahlen, die alle schon ein paar Jahre alt sind, beurteilen.
Zentral ist die Kritik an den Mechanismen der Marktwirtschaft: Sie sind nicht in der Lage, den ökologisch zerstörerischen Prozess umzudrehen oder auch nur aufzuhalten. Zu diesen Mechanismen zählen die Bepreisung und der Handel mit CO2-Zertifikaten, die Aufrechnung von ökologischen Senken und umweltschützender Maßnahmen gegen die Zerstörung der Biosphäre.
Eine ebensolche Skepsis wird der von Sozialdemokraten, Neokonservativen und marktfixierten Liberalen gern behaupteten These entgegengebracht, der technologische Fortschritt werde für die Bewältigung der Folgen der Ökologiekrise oder zumindest deren Abschwächung sorgen. Denn zu mehr als zu Reparaturarbeiten, sog. »End-of-the-pipe«-Maßnahmen, die in der Regel wieder neue Geschäftsfelder und Profitmöglichkeiten darstellen, ist der Kapitalismus nicht in der Lage. Das betrifft auch das sog. Bio-Engineering, also die Rückholung und Lagerung von CO2, die Züchtung von Pflanzen und Tieren, die mehr Resilienz gegenüber den Umweltbelastungen zeigen, die biochemische Manipulation von Wetterabläufen, die Gentechnik u.a.
Das »Gesetz der ungleichen, aber kombinierten Entwicklung«, einst formuliert u.a. von Trotzki und von der IV.Internationale im Laufe der Jahrzehnte systematisiert, gilt ganz besonders auch in Umwelt- und Klimafragen. Die in der kapitalistischen Entwicklung rückständigsten und ärmsten Länder sind für den geringsten Anteil an der Umwelt- und Klimazerstörung verantwortlich, aber sie stehen in einer fatalen Abhängigkeitskette von den industriell entwickelten und reichsten Ländern und leiden in extremem Maß unter deren umweltzerstörerischen Produktionen und den ungleichen Handelsbeziehungen.
Diese sich real fast kontinuierlich verschlimmernde Umweltbilanz des Kapitalismus lässt nur einen Schluss zu: Die spezifische Art der Produktion und Konsumtion im Kapitalismus muss schrumpfen. Der Ressourcen- und Energieverbrauch müssen verringert werden. An einer Perspektive des ökosozialistischen Degrowth führt kein Weg vorbei.

Das gute Leben
Die gemeinsame Verständigung der IV.Internationale auf diese grundlegenden Erkenntnisse ist ein großer Fortschritt. Denn wichtige Themen waren in früheren Jahren durchaus strittig, z.B. Gentechnik, Degrowth, vor allem reduzierter Energieverbrauch, Autoverkehr usw.
Diese Entwicklung ist auch deshalb bemerkenswert, weil die größten Sektionen der Internationale heute nicht länger in den imperialistischen Zentren Europa, Nordamerika und Japan mit deren gewaltigem Wachstum und industriellem »Fortschritt« sind. Die mitgliederstärksten Sektionen befinden sich, anders als noch Anfang der 80er Jahre, in den Ländern des ärmeren Südens, also in Ländern mit einem auf den ersten Blick großen Nachholbedarf an Ressourcen- und Energieverbrauch, darunter lateinamerikanische und vor allem asiatische Länder.
Aus der globalen und umfassenden Analyse der Umwelt- und Klimazerstörung im Kapitalismus ergeben sich einige unverrückbare Zielsetzungen: Nicht nur die Produktion im weitesten Sinne, auch das von ihr geprägte gesellschaftliche Leben müssen entschleunigt werden.
Der Anteil der Arbeit in der Produktion gegenüber dem von Maschinen wird sich folglich erhöhen – etwa in der Landwirtschaft. Das muss zu größeren Anstrengungen führen, die Arbeit umzuverteilen, damit die Arbeitszeiten für alle Betroffenen verkürzt und die Arbeitsbedingungen verbessert werden können. Nicht ­jede neue Maschine, die Arbeitskräfte ersetzen soll, ist im Interesse der Menschen und Natur fortschrittlich. Qualitative Kritik der Produktivkraftentwicklung ist eine der Aufgaben ökosozialistischer Politik.
Die Umgestaltung der Arbeitswelt, die Senkung des Energie- und Rohstoffverbrauchs (Degrowth) und alle Schritte, die schädliche Auswirkungen der Produktionsweise auf Umwelt und Klima reduzieren wollen, haben eine wichtige Bedingung: Sie können nur funktionieren, wenn sie unter größtmöglicher demokratischer Teilhabe aller Betroffenen erfolgen und dafür die entsprechenden Entscheidungsstrukturen aufgebaut werden. Langfristig erfordert dieser Prozess ein komplett neues, anderes Verhältnis zur Natur, das die vielen vom Kapitalismus deformierten Menschen aufbauen müssen. Dazu gehören auch einige Ausprägungen der Naturverhältnisse in vorkapitalistischen Gemeinschaften, die durch die kapitalistische Produktionsweise erstickt wurden.
Bei all dem ist das »gute Leben« das oberste Ziel – Vorstellungen von einer Lebensqualität jenseits des betriebswirtschaftlichen Wachstums oder des unbegrenzten Konsums. Die gesellschaftlichen Beziehungen werden sich nachhaltig verändern müssen.

Ausgehend von diesen Zielen ergeben sich für die politische Strategie und die Intervention in sozialen Bewegungen ein Bündel von Schlussfolgerungen.
Zuerst sollten unsere Kräfte darauf hinwirken, die im Kapitalismus oppositionellen, sich gegen seine Zwänge auflehnenden sozialen Bewegungen zu »ökologisieren«. Das betrifft vor allem die
Gewerkschaftsbewegung, die sich von ihrem sozialdemokratischen Produktivismus und natürlich von allen Formen des Co-Managements mit dem Kapital lösen muss. Die Frage, was produziert und wie etwas produziert wird, muss in die gewerkschaftliche, auch in die tarifvertragliche Betriebspolitik integriert werden.
Parallel dazu sollten die Umwelt- und Klimabewegungen »proletarisiert« werden. Das heißt, sie müssen ihre Anliegen mit denen der Gewerkschaften verschränken. Alle Versuche und Absichten, die Kosten für die Transformation der Produktion und den Schutz der Umwelt auf die Arbeiter:innenklasse abzuwälzen und deren Einkommen zu reduzieren, müssen konsequent zurückgewiesen werden.
Mehrere Produktionslinien im gegenwärtigen Kapitalismus müssen einer umfassenden Konversion unterzogen werden. Das betrifft natürlich zuerst die Produktion von Trashprodukten, Werbung, Rüstung usw. aber auch zentrale Produktionen im Verkehrssektor und in der Chemieindustrie. Die Transporte und der damit verbundene Verkehr müssen drastisch verringert werden.
Bei der Transformation der Produktion und allen Degrowth-Prozessen gilt es, die Strukturen der demokratischen Arbeiter:innenkontrolle auszubauen. Und um der internationalen Dimension des Vorhabens gerecht zu werden: Das alles geht nur in Kombination mit einer weltweiten Umverteilung, einschließlich Reparations- und Ausgleichszahlungen für die armen Länder.

Ohne Verbote und Regulierung geht es nicht
Das Mittel der sozialistischen Politik war und ist immer die Überzeugung und die Gewinnung von politischen Mehrheiten. Aber es muss völlig klar sein, dass »fortschrittliche« oder ökosozialistische Regierungen auch ordnungspolitische Maßnahmen und Verbote ergreifen müssen, um die Umweltzerstörung zu minimieren.
Alle diese Maßnahmen verdichten sich zu einem aktuellen Übergangsprogramm, das in den verschiedenen Situationen und Ländern konkretisiert werden muss. Im Mittelpunkt werden aber immer einige zentrale Punkte stehen: Erfolgte Privatisierungen, etwa im Wohnungs- und Gesundheitssektor, bei der Mobilität, in der Wasser- und Energieversorgung müssen rückabgewickelt und neue Privatisierungen verhindert werden. Gemeingüter müssen ausgebaut werden.
Grundlage aller Anstrengungen wäre eine verbindliche Definition globaler sozialer Rechte auf Bildung, Gesundheit, Wohnen, Mobilität und Migration.
Auch die landwirtschaftliche Produktion erfordert eine tiefgreifende Umwälzung: weg von der kapitalgesteuerten Agroindustrie mit ihren globalen Verwertungsketten hin zur Ernährungssouveränität, die die Bedürfnisse der Produzent:innen und Konsument:innen nach qualitativ guten und regionalen Produkten in den Vordergrund stellt. Dazu gehören auch andere Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden.
Dasselbe gilt für die großen, die Ökonomie bestimmenden Konzerne, etwa in der Automobilindustrie, den Banken usw. Zudem ist eine radikale Arbeitszeitverkürzung ohne Einkommensverluste nötig, die der Akzeptanz des ökosozialistischen Programms sehr dienlich wäre.
Um der internationalen Dimension gerecht zu werden, ist ein kostenloser Wissenstransfer von den reichen in die ärmeren Länder notwendig, außerdem eine umfassende Gleichberechtigung der Frauen und anderer unterdrückter und ausgegrenzter Personengruppen.
Eine ökosozialistische Perspektive für alle weniger am Weltmarkt etablierten Länder und Sektoren kann sich nicht am Zustand der reichen imperialistischen Metropolen orientieren, sondern muss auf ein globales, alternatives Entwicklungsmodell ausgerichtet sein. In einer solchen globalen Perspektive müssen die verschiedenen sozialen Kämpfe zusammengeführt werden.

Das Ökosozialistische Manifest ist in seinem jetzigen Entwurf noch etwas lang und ungelenk. Eine sprachliche und redaktionelle Überarbeitung täte ihm gut und wird sicherlich auch noch erfolgen. Aber das Manifest drückt einen wichtigen Schritt der programmatischen Weiterentwicklung der IV.Internationale aus und könnte einen Weg in eine lebenswerte Zukunft skizzieren, den die Weltklimakonferenzen schon längst verlassen haben.
Wie schon die früheren ökologischen Resolutionen wird auch dieses Manifest höchstwahrscheinlich mit einer breiten Mehrheit angenommen werden. Mit ihm wird ein lange Zeit noch als kontrovers geltender Begriff zum Allgemeingut der IV.Internationale: Ökosozialismus.

Das Ökosozialistische Manifest ist nachzulesen auf: https://intersoz.org/entwurf-fuer-ein-oekosozialistisches-manifest/

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