Berliner Landesarbeitsgericht verbietet Kita-Streik
von Matthias Becker
Es ist ein schlechtes Beispiel, das Schule machen könnte. »Ein Schlag ins Gesicht«, »ein Tritt in die Magengrube«, »niederschmetternd« – so kommentierten Berliner Erzieherinnen das Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG). Die Richter untersagten im Oktober einen Streik, mit dem die Gewerkschaft Ver.di den Senat zu Verhandlungen über die Arbeitsbedingungen an den landeseigenen Kitas zwingen wollte.
Die Enttäuschung über das Urteil war groß, Tränen flossen reichlich. Bereits in den Tarifverhandlungen mit den kommunalen Arbeitgebern im Jahr 2022 hatte Ver.di versucht, Entlastungen für die Kita-Beschäftigten auszuhandeln. In Berlin forderte die Gewerkschaft 2024 einen eigenen »Tarifvertrag Pädagogische Qualität und Entlastung«.
Trotz drei Warnstreiks verweigerte der Berliner Senat kategorisch Verhandlungen. Angeblich mache die Tarifgemeinschaft der Länder eigene abweichende Regelungen in Berlin unmöglich. (Allerdings hat diese Tarifgemeinschaft Niedersachsen nicht daran gehindert, im Herbst einen Entlastungstarifvertrag für die Medizinische Hochschule Hannover abzuschließen.)
Im Juli stimmten 92 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in den landeseigenen Kitas für einen unbefristeten Streik. Daraufhin erwirkte das Land im Eilverfahren eine einstweilige Verfügung gegen den Arbeitskampf. Im Oktober bestätigte das Landesarbeitsgericht das Verbot in letzter Instanz: Der angekündigte Streik sei rechtswidrig, weil die Gewerkschaft gegen die Friedenspflicht verstoße.
Das Gerichtsurteil erwischte Ver.di auf dem falschen Fuß. Gewerkschafter nannten es »eigenwillig« und »überraschend«. Tatsächlich legen die Richter die sogenannte Friedenspflicht weiter als üblich aus. Bekanntlich werden in Tarifverträgen Laufzeiten vereinbart, innerhalb derer Arbeitskampfmaßnahmen unterbleiben. Diese Pflicht gilt allerdings nur für Fragen, die tatsächlich in den Tarifverträgen geregelt sind.
Bei den Verhandlungen mit den kommunalen Arbeitgebern hatte Ver.di das Thema Entlastung zwar auf die Tagesordnung gesetzt, aber letztlich wurden keine Regelungen vereinbart. Weil aber Entlastungsmaßnahmen wie Regenerationstage und Ausgleichszahlungen damals »Gegenstand der Verhandlungen« waren, argumentierten die Berliner Arbeitsrichter, sei »dieses Paket abschließend geregelt«.
Bis das Urteil aus dem Eilverfahren schriftlich vorliegt, kann es noch Monate dauern.Ver.di hat angekündigt, die Angelegenheit eventuell vor das Bundesarbeitsgericht zu bringen. »Es ist wahrscheinlich, dass die Entscheidung vom Bundesarbeitsgericht aufgehoben wird«, glaubt Benedikt Hopmann, Berliner Anwalt und Arbeitsrechtler. Das Urteil widerspreche der gängigen Rechtsprechung.
Dennoch war das Manöver des Berliner Senats erfolgreich, der angestrebte Entlastungstarifvertrag ist erst einmal vom Tisch. Die GEW Neukölln sprach von einem »Skandal«: »Dies ist ein massiver Angriff auf die demokratischen Rechte von uns Beschäftigten.«
Eine ›Kita-Strophe‹
Mit der Kampagne »SOS Kita« versucht Ver.di, die harten Arbeitsbedingungen in der frühkindlichen Bildung anzugehen. Sowohl der Förderbedarf der Kinder als auch die pädagogischen Anforderungen steigen. Viele offene Stellen können nicht besetzt werden, weil Fachkräfte fehlen. Laut einer Umfrage des Paritätischen Gesamtverbands fehlen bundesweit 125.000 Erzieherinnen und Erzieher. Viele Erzieherinnen klagen über zusätzliche Aufgaben und Überlastung. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung ermittelte einen Durchschnitt von 36 Krankheitstagen im Jahr 2023, fast doppelt soviel wie im Durchschnitt aller Berufsgruppen (20 Tage).
Ver.di setzt seit einiger Zeit im sozialen Bereich auf Kampagnen, die über klassische Tarifauseinandersetzungen hinausgehen, oder besser gesagt: die in gewissem Umfang die Öffentlichkeit mit ins Boot holen. Die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern ist populär, das Argument »Mehr von uns ist besser für euch!« leuchtet vielen Menschen ein. Eine gute Versorgung muss schließlich alle interessieren, die öffentliche Dienste in Anspruch nehmen.
Allerdings war der Versuch, die Eltern der Kita-Kinder zur solidarischen Unterstützung des Arbeitskampfs zu bewegen, deutlich weniger erfolgreich als in der Krankenversorgung. Die öffentliche und besonders die veröffentlichte Meinung unterstützte die Erzieherinnen nicht. Die Lokalzeitungen stellten den Arbeitskampf als überzogen dar und rückten die Schwierigkeiten der Eltern in den Mittelpunkt, eine Betreuung für ihre Kinder zu organisieren. Der Berliner Finanzsenator Stefan Evers (CDU) sprach von einem »Sinnlosstreik auf dem Rücken der Kinder und Eltern«.
Auch der Landeselternausschuss Kita (LEAK) wandte sich gegen den Streik. Der Ausschuss startete sogar eine Internetpetition gegen den Streik, die allerdings nur 6000 Menschen unterzeichneten, obwohl die betroffenen Kitas ungefähr 35.000 Kinder betreuen.
Solidarischer verhielt sich die Elterninitiative »Einhorn sucht Bildung«. In einem Flugblatt warnte sie davor, dass immer häufiger Arbeitskämpfe mit juristischen Mitteln unterbunden werden, und forderte die Eltern zur Solidarität auf. »Wenn wir den Erzieherinnen absprechen, sich in Warnstreiks für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen zu dürfen – ein Recht, das jeder Arbeitnehmer in Deutschland hat –, dann schneiden wir uns ins eigene Fleisch.«
Überlastung teuer machen!
Laut dem Berliner Kindertagesförderungsgesetz soll das Verhältnis von Fachkräften zu Kindern bei 1:5 liegen. Diese gesetzliche Vorgabe hat mit dem Alltag allerdings wenig zu tun. Beschäftigte fehlen wegen Mutterschutz, Krankheit, Urlaub, Fortbildungen u.a. Nach dem geplatzten Streik organisiert Ver.di nun eine Umfrage an den Kitas, um die wirkliche Personalsituation zu ermitteln. Der Senat brauche einen »Realitäts-Check«, sagt die Gewerkschaftssekretärin Tina Böhmer.
In Entlastungstarifverträgen werden verbindliche Betreuungsschlüssel festgelegt, z.B. das Verhältnis von Pflegekräften zu Patienten. Unterschreitet der Arbeitgeber diese Vorgaben, bekommen die Beschäftigten einen Belastungsausgleich durch Freizeit oder Prämien. Damit entfällt der Anreiz, zu wenig Personal einzustellen und die Beschäftigten zu überlasten (wenigstens wenn der finanzielle Ausgleich die Einrichtung genug kostet). Beschäftigte und Gewerkschaften in sozialen Einrichtungen bekommen damit einen Hebel in die Hand, um sich gegen die Verdichtung ihrer Arbeit zu wehren.
Dieses Prinzip von den Unikliniken auf andere Krankenhäuser und andere öffentliche Dienste auszuweiten, trifft allerdings auf Widerstand. Im Sommer forderte die FDP-Bundestagsfraktion, die Möglichkeiten zum Streik in kritischen Bereichen weiter einzuschränken. Genannt wurden Bahn, Flugverkehr, Gesundheit und Pflege, Feuerwehr, Müllabfuhr und Kitas.
Unterdessen greifen soziale Einrichtungen und Unternehmen vermehrt zu juristischen Mitteln wie einstweiligen Verfügungen, um Arbeitskämpfe ausbremsen. Dass Gerichte wie das Berliner Landesarbeitsgericht die Friedenspflicht immer weiter auslegen, ist eine besorgniserregende Entwicklung, so wird das Grundrecht auf Streik ausgehöhlt. »Tarifverhandlungen ohne Streikrecht sind kollektives Betteln«, betont der Anwalt Benedikt Hopmann.
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