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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2024

Revolutionärer Durchbruch oder Alptraum ohne Ende?
von Wolfgang Kremer

Überschattet von den Kriegen in der Ukraine und dem Nahen Osten eskaliert in Südostasien ein Konflikt von beispielloser Brutalität: Seit dem Militärputsch vom 1.Februar 2021 hat der Widerstand gegen die Junta und der Kampf für ein freies, demokratisches und selbstbestimmtes Myanmar eine neue, bislang unbekannte Dynamik entwickelt.

Was im Februar 2021 als spontane Bewegung friedlicher, ziviler Massenproteste begann, hat sich zu einer heterogenen, revolutionären Widerstandsbewegung entwickelt. Die langjährige politische Führungsrolle der National League of Democracy (NLD) der – seit dem Putsch unter Hausarrest stehenden – ambivalenten Symbolfigur Aung San Su Kyi, ist weitgehend Geschichte. Sie wurde abgelöst durch ein loses, pluralistisches Netzwerk aus politischen Parteien, bewaffneten Gruppen und zivilgesellschaftlichen Strukturen wie Gewerkschaften und Streikkomitees.
»Alte« Ethnic Revolutionary Organizations (EROs) und die als Reaktion auf den Putsch entstandenen, lokal agierenden People’s Defence Forces (PDFs) kämpfen gegen die Junta, die zunehmend in die Defensive gedrängt ist – und darauf mit immer brutalerer Gewalt reagiert.
Auf der institutionellen Ebene sind diese Akteure im National Unity Government of Myanmar (NUG) organisiert. Das NUG arbeitet eng mit mehreren EROs und lokalen PDFs zusammen. Zumindest auf regionaler Ebene haben sich daraus Interimsstrukturen fu?r die Koordination von mili­tärischen Aktionen und lokaler Verwaltung gebildet.

Humanitäre Katastrophe
Im März 2024 bezeichnete der UN-Menschenrechtsbeauftragte Volker Türk die Lage in Myanmar als »nicht endenden Albtraum«. Die Junta missachtet die Menschenrechte systematisch und will jeglichen Widerstand mit psychologischem Terror und einer Strategie der Gewalt unterdrücken.
Für die Hinrichtung politischer Gefangener wurde nach über 30 Jahren die Todesstrafe wieder eingefü?hrt. Der aktuelle Humanitarian Response Plan der Vereinten Nationen (3/2024) geht davon aus, dass im Jahr 2024 18,6 Millionen Menschen humanitäre Hilfe benötigen, darunter allein über sechs Millionen Kinder. Die desaströse Situation wurde im Mai 2023 durch den Zyklon Mocha und im September 2024 durch den Taifun Yagi mit verheerenden Überschwemmungen noch verschärft.

Desolate Lage
Myanmar ist – trotz einer Boomphase während der »kontrollierten demokratischen Öffnung« 2012–2021 – eines der ärmsten Länder der Welt. Einer Prognose der Weltbank zufolge liegt die Wirtschaftsleistung im Jahr 2024 rund 10 Prozent niedriger als 2019. Die Inflation betrug 2023 fast 30 Prozent. Dem United Nations Development Programme zufolge leben inzwischen 76 Prozent der Bevölkerung unter oder am Existenzminimum.
Der bewaffnete Konflikt hat Grenzhandelsrouten mit Indien, China und Thailand unterbrochen. Wichtige Verkehrswege sind blockiert, was zu Engpässen bei Grundnahrungsmitteln auf den lokalen Märkten führt.
Frauen und die LGBTIQA+-Gemeinschaft engagieren sich bei zivilen Aktivitäten im Untergrund ebenso wie als Kämpfer:innen in den bewaffneten Gruppen oder bei medizinischer und sozialer Unterstü?tzung und sind dabei oft in einer Führungsrolle. Die Junta reagiert darauf mit systematischem Terror, Verhaftungen, Folter und sexueller Gewalt.
Die International Labour Organization (ILO) berichtete bereits wenige Tage nach dem Putsch ü?ber Hausdurchsuchungen bei Gewerkschafter:innen. Viele flohen ins Exil oder gingen in den Untergrund.
Am 2.März 2021 wurden 16 Gewerkschaften zu »illegalen Organisationen« erklärt. Im April 2021 wurde die führende Repräsentantin der Frauengewerkschaft STUM, Daw Myo Aye, verhaftet. Gegen mehr als 20 Gewerkschaftsvorsitzende wurde ein Haftbefehl ausgestellt, berichtet Khaing Zar Aung, Präsidentin des Dachverbands der Industriegewerkschaften von Myanmar (derzeit im Exil in Deutschland).

UN, USA, Russland…
Die Generalversammlung der UN hat 2021 den Militärputsch in Myanmar verurteilt und dazu aufgerufen, Waffenlieferungen an die Junta zu verhindern. Westliche Länder haben mit gezielten Sanktionen gegen Angehörige des Militärs und seine Organisationen auf den Putsch reagiert.
Die US-Administration spielt eine zunehmend aktive Rolle in der Region – mit dem vorrangigen Ziel, den Einfluss Chinas und Russlands einzudämmen. Die Regierung Biden versucht, bilateral eine Alternative zur chinesischen Belt and Road Initiative anzubieten, die »Freiheit der Schifffahrt im Indo-Pazifik« zu sichern und die Handelsbeziehungen zwischen den Staaten Asiens und den USA »frei, fair und reziprok« zu gestalten. Diese, auf die Eindämmung des chinesischen Einflusses fokussierte Strategie der US-Administration, dürfte eine anhaltende Instabilität in Myanmar in die Karten spielen.
Russland ist aktuell der wichtigste Unterstützer der Militärjunta und schützt sie in internationalen Gremi­en. Myanmar und Russland kooperieren im Bereich der Kernenergie und planen die Errichtung eines Reaktors in Myanmar. Im Gegenzug unterstützt die Junta den Krieg Russlands in der Ukraine – nicht nur diplomatisch, sondern auch mit Waffenlieferungen.

Der Elefant im Raum
China, der »Elefant im Raum«, hat traditionell auf das Militär gesetzt, systematisiert aber zunehmend seine Kontakte zu anderen Akteuren. So wurde die am 23.Oktober 2023 gestartete »Operation 1027« der Three Brotherhood Alliance verschiedenen Berichten zufolge stillschweigend toleriert bzw. sogar unterstützt.
Chinas strategische Interessen in Myanmar sind massiv – von der Ausplünderung der Ressourcen über den Transfer von Öl und Gas bis zum Ausbau des Tiefseehafens in Kyaukpyu als zentralen Baustein der maritimen Neuen Seidenstraße (Zugang zum Indischen Ozean; alternative Handelsroute zur Straße von Malakka im Fall eines Konflikts um Taiwan).
Die Zweifel der Führung in Peking, ob die Junta bei der Sicherung dieser Projekte und der Eindämmung der organisierten Kriminalität im Grenzgebiet ein verlässlicher Partner sein kann und will, wachsen. Ein Strategiewechsel würde die Kräfteverhältnisse in Myanmar radikal und womöglich entscheidend verändern.

Rohingya im Fadenkreuz
Das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1982 nennt 135 »einheimische Bevölkerungsgruppen« Myanmars.
Die muslimischen Rohingya (rassistisch als »Bengali« bezeichnet) sind offiziell staatenlos. Die UN stufen sie als die am stärksten verfolgte Minderheit der Welt ein. Im Sommer 2017 wurden mehr als eine Million Rohingya aus Myanmar vertrieben. Sie flohen vor Pogromen, Massenvergewaltigungen, Folter und Mord, nicht selten initiiert oder assistiert durch buddhistische Fanatiker (siehe SoZ 10/2017, »Myanmar: Die Rohingya im Visier«).
Ihre Flucht führte sie überwiegend nach Cox Bazar in Bangladesh, das mit etwa 1,35 Millionen Menschen als größtes Flüchtlingslager der Welt gilt. Human Rights Watch schätzt, dass 600.000 weitere Rohingya in Myanmar geblieben sind und von der Junta in einem »Apartheidsystem festgehalten werden«.
Eine Überwindung des tief sitzenden Rassismus, v.a. der (buddhistischen) Mehrheitsbevölkerung (etwa 70 Prozent einer Gesamtbevölkerung von 55 Millionen) gegenüber dieser Volksgruppe ist eine der dringendsten und schwierigsten Aufgaben der Demokratiebewegung. Hoffnung macht das Eintreten des amtierenden Präsidenten des NUG, Duwa Lashi La, der sich kürzlich für die Anerkennung der Rohingya als Staatsbür­ger:innen aussprach.

Organisierte Kriminalität
Die Ökosysteme Myanmars gehören zu den intaktesten der Welt. Umso dramatischer ist die Gefahr, die die COP28-Konferenz der UN so beschreibt: »Die Militärjunta, die zunehmend von der Weltwirtschaft isoliert und knapp bei Kasse ist, hat die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen Myanmars, einschließlich Holz, Jade und seltene Erden beschleunigt, um ihre Menschenrechtsverletzungen zu finanzieren. Der zunehmende Abbau von Ressourcen, der oft unreguliert ist und vom Militär oder anderen bewaffneten Gruppen unter­stützt wird, schadet der Umwelt, verschmutzt die Wasserquellen, ver­wüs­tet die Wälder und verschlimmert die Risiken des Klimawandels.«
Auf dem Global Organized Crime Index belegt Myanmar aktuell Platz 1 weltweit. Ein wichtiger Treiber der Kriminalität ist der Drogenhandel. 2023 hat Myanmar Afghanistan als größten Produzenten von Opium abgelöst. Hinzu kommt eine weitläufige Industrie für Menschenhandel und Onlinebetrug, betrieben von Syndikaten und (chinesischen) Triaden. »Was als regionale kriminelle Bedrohung begann, hat sich zu einer globalen Krise des Menschenhandels entwickelt«, so Jürgen Stock, Generalsekretär von Interpol.

Ausblick und Solidarität
Das Gipfeltreffen der ASEAN-Staaten Anfang Oktober forderte die verschiedenen Konfliktparteien auf, Friedensverhandlungen unter Einbeziehung der Militärjunta aufzunehmen.
German Solidarity Myanmar (GSM) betrachtet diese Forderung als hilflosen Appell unter völliger Verkennung der Situation in Myanmar: »Die Völker Myanmars leiden seit sieben Jahrzehnten unter der Herrschaft des Militärs. Man kann nicht verlangen, dass sie sich mit Mördern und Kriegsverbrechern zu Verhandlungen an einen Tisch setzen, während diese noch die Waffen in den Händen halten. Eine föderale und demokratische Zukunft Myanmars ist nur ohne die Junta möglich«, sagt Nyein Chan May, Geschäftsführerin von GSM.
Diese Einschätzung teilt auch Dr.Sasa, Minister für Internationale Zusammenarbeit des NUG. Die aktuelle Lage in Myanmar zeige zunehmend Merkmale einer Doppelherrschaft.
Der zivile und bewaffnete Kampf gegen die Junta wurde in den Jahren seit dem Putsch – insbesondere von der jungen Generation – mit einer bewundernswerten Resilienz, Phantasie und Entschlossenheit geführt. Er verdient unsere uneingeschränkte Solidarität und Unterstützung!

Wöchentliche »Status Quo Updates« gibt es unter www.solidarity-myanmar.de.

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