Furcht, Terror, Wut, Widerstand
Gespräch mit Nyein Chan May
Nyein Chan May ist studentische Aktivistin, Mitbegründerin und Geschäftsführerin des Vereins German Solidarity Myanmar (GSM). Vor dem Putsch im Februar 2021 kam sie nach Deutschland, um Politikwissenschaft zu studieren. Von 2012 bis 2015 war sie Mitbegründerin der Studentengewerkschaft an der Fremdsprachenuniversität in Yangon. Als intersektionale Feministin engagiert sie sich zudem als Podcasterin. Mit ihr sprach Wolfgang Kremer über die Möglichkeiten internationaler Solidarität.
Chan, es ist jetzt vier Jahre her, dass das Militär in Myanmar geputscht hat. Wie schaust du heute aus dem Exil auf die Lage in deiner Heimat?
Furcht, Terror, Wut und Resilienz sind vier Wörter, mit denen man die Lage beschreiben kann. Aktuelle Zahlen sprechen von 19.847 Todesopfern durch politische Gewalt und mehr als 28.000 aus politischen Gründen Verhafteten. 127 Menschen wurden zum Tode verurteilt. Trotz zunehmender militärischer Erfolge der Widerstandskräfte steigt die Zahl der Luftangriffe der Militärjunta gegen zivile Ziele.
Laut der UN-Behörde für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, OCHA, lebt fast die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Diese grausame Situation ist für Menschen in Myanmar Alltag. Und diesen Alltag teile ich von Deutschland aus mit ihnen, weil all meine Freundinnen und Freunde und meine Familie noch vor Ort sind. Deshalb ist es auch nicht ein Blick aus der Ferne, sondern als ob ich diese Grausamkeiten selbst erlebte.
Trotzdem leisten die Menschen in Myanmar seit vier Jahren Widerstand – und das ohne nennenswerte, wirksame Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Diese bemerkenswerte Resilienz macht mir Hoffnung und motiviert mich.
Von wenigen Spezialist:innen und Aktivist:innen abgesehen, verbinden die Menschen in Deutschland und Europa Myanmar am ehesten mit der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi und ihrer Partei NLD sowie mit dem Völkermord an der muslimischen Minderheit der Rohingya 2017. Welche Rolle spielen ASSK und die NLD aktuell und gibt es Hoffnung für die Rohingya auf ein Ende der Verfolgung?
Der Konflikt in Myanmar reicht zurück bis in die Kolonialzeit. Es ist kein bloßer Machtkampf zwischen einer politischen Partei, wie bspw. der NLD, und der Militärjunta. Es handelt sich vielmehr um den Widerstand einer multiethnischen Bevölkerung, die nicht unter autoritärer Herrschaft leben will.
Aung San Suu Kyi genießt weiterhin großen Respekt in weiten Teilen der Bevölkerung, vor allem aufgrund ihres persönlichen Images. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie Einfluss auf den gesamten Widerstand hat. Der wird seit dem Putsch hauptsächlich von der jungen Generation geführt, die immer häufiger gemeinsam oder in punktuellen Absprachen mit ethnischen bewaffneten Gruppen agieren.
Die Lage der Rohingya verschlechtert sich weiter. Uns erreichen Berichte, dass junge Rohingya-Männer vom Militär zwangsrekrutiert und in tödliche Kämpfe geschickt werden. Leider gibt es auch Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen durch die Arakan Army (AA), Teil der Three-Brotherhoods-Allianz ethnischer bewaffneter Gruppen, die im Oktober 2023 die »Operation 1027« durchgeführt und seitdem viele Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht hat.
Etwa 600.000 Rohingya leben in Myanmar unter Bedingungen, die das UNHCR als »apartheidähnlich« beschreibt. Über 140.000 Menschen sind in Lagern im Rakhine-Staat eingeschlossen. Auch die Lebensbedingungen in Flüchtlingsunterkünften, wie im Lager Cox’s Bazar, sind äußerst prekär.
Die Versöhnung zwischen den Communities im Rakhine-Staat, Vereinbarungen für ein friedliches Miteinander sowie die strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen sind wesentliche Voraussetzungen für eine sichere Zukunft der Rohingya. Diese Ziele können jedoch nur erreicht werden, wenn die unterdrückende und spalterische Herrschaft des Militärs beendet wird.
Die humanitäre und wirtschaftliche Lage in Myanmar ist katastrophal. Was sind die drängendsten Aufgaben für ein effektive humanitäre Unterstützung?
Um die humanitäre Krise in Myanmar zu bewältigen und langfristig zur Lösung des Konflikts beizutragen, müsste die internationale Gemeinschaft gemeinsam mit regionalen Akteuren eine Strategie verfolgen, die grenzüberschreitende Hilfe mit der Zusammenarbeit lokaler zivilgesellschaftlicher Organisationen verbindet. Solche Ansätze haben sich als effektiv erwiesen, um die Zivilbevölkerung besser zu versorgen und die Widerstandskräfte zu stärken.
Da die Junta humanitäre Hilfe systematisch blockiert oder zweckentfremdet, wird grenzüberschreitende Unterstützung aus Nachbarländern wie Thailand, Indien und Bangladesh immer wichtiger. Diese Art der Hilfe könnte gezielt auf besonders betroffene Regionen wie Chin, Kachin und Rakhine ausgerichtet werden, in denen ethnische Organisationen aktiv sind und oft engeren Zugang zur Bevölkerung haben.
Eine solche grenzüberschreitende Hilfe sollte auf mehreren Ebenen ansetzen:
– Erstens durch die Bereitstellung von Lebensmitteln, Medikamenten und Bildungsressourcen über vertrauenswürdige Kanäle.
– Zweitens durch die Förderung der Mobilität in den Grenzregionen, damit schnell auf akute Notlagen, wie Massenvertreibungen durch militärische Angriffe, reagiert werden kann.
– Drittens durch internationalen Druck und Sanktionen gegen Staaten, die die Junta unterstützen. Absprachen mit Nachbarländern sollten darauf zielen, grenzüberschreitende humanitäre Korridore einzurichten und internationalen NGOs den Zugang zu den Grenzgebieten zu erleichtern.
Anfang 2024 gab es die Hoffnung, dass ein Sturz der Junta bald gelingen könnte. Inzwischen befürchten viele eine Art militärisches Patt und einen Zerfall in Territorien, die von unterschiedlichen Kräften kontrolliert werden. Ist eine föderale Zukunft Myanmars noch eine realistische Zukunftsoption?
Föderalismus ist ein gemeinsames Ziel der meisten Widerstandskräfte, einschließlich der ethnischen bewaffneten Gruppen. Seit der Unabhängigkeit 1948 hatten wir noch nie die Chance, dieses Ziel wirklich systematisch zu verfolgen. Der aktuelle Widerstand bietet jedoch die Gelegenheit, über Föderalismus nachzudenken, Konzepte zu entwickeln und diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen.
Myanmar ist ein Land mit mehr als sieben Jahrzehnten bewaffneter Konflikte und einer enormen Vielfalt an Akteur:innen. Es ist unrealistisch zu erwarten, dass innerhalb von vier Jahren eine Einheit zwischen den unterschiedlichen Gruppen hergestellt werden kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir uns nicht darum bemühen. Wir versuchen, den politischen Dialog innerhalb der Widerstandskräfte zu stärken und zu unterstützen. Der Kampf gegen die Junta und Anstrengungen für eine föderale Demokratie müssen parallel stattfinden.
Du hast den Verein German Solidarity Myanmar (GSM) mitbegründet und bist aktuell dessen Geschäftsführerin. Was sind eure aktuellen Projekte und Planungen?
GSM ist eine junge aktivistische Organisation, die sich durch Interessenvertretung, Öffentlichkeitsarbeit und politische Bildung für die myanmarische Demokratiebewegung einsetzt. Wir fordern eine entschlossenere Haltung und eine proaktive Myanmar-Politik seitens der Bundesrepublik Deutschland sowie der Europäischen Union.
Vor kurzem haben wir das Papier »Asyl und Resettlement für myanmarische Geflüchtete in Deutschland« veröffentlicht. Dieses schildert nicht nur die Herausforderungen, mit denen myanmarische Geflüchtete in Deutschland konfrontiert sind, sondern formuliert auch konkrete Forderungen und Handlungsempfehlungen in der Asylpolitik.
In diesem Kontext veranstalten wir demnächst Online-Treffen mit der myanmarischen Diaspora in Deutschland, wo offen und sicher über Themen wie Asyl, Resettlement und das Leben in Deutschland gesprochen werden kann. Darüber hinaus planen wir weitere Gespräche mit dem Auswärtigen Amt, Bundestagsabgeordneten (auch nach den Neuwahlen) und Vertreter:innen der Europäischen Union.
Und natürlich gibt es anlässlich des Jahrestags des Putsches (am 31.1.) eine laute und bunte Demo vor der Botschaft in Berlin!
Die geostrategischen Implikationen des Konflikts sind kompliziert und der zivile und bewaffnete Widerstand im Land ist politisch sehr heterogen. Dazu liefert ihr als Verein GSM wichtige Hintergrundinformationen im Rahmen eurer wöchentlichen »Updates«.
Myanmar ist nicht nur ein Land voller Konflikte und humanitärer Katastrophen, es ist auch ein geopolitisch strategischer »Treffpunkt«. Wir verstehen den Kampf für Demokratie in Myanmar als Teil eines globalen Kampfes gegen die Front der Autokratien, die sich gegenseitig unterstützen, wie aktuell China und Russland die Junta.
Neben den »Updates« organisieren wir regelmäßig Indo-Pacific Briefings, um Myanmar in den größeren Kontext der Geopolitik der Region zu setzen. Diese Briefings finden sowohl online als auch in Präsenz statt.
Und die geostrategische Bedeutung Myanmars ist immer auch Thema in Advocacy-Gesprächen und Austauschtreffen mit deutschen und europäischen Akteurinnen und Akteuren.
Du verstehst dich als intersektionelle Feministin. Haben du und deine Mitstreiter:innen in der aktuellen Situation und in einer zutiefst patriarchalen und militarisierten Gesellschaft überhaupt eine Chance, gehört zu werden und Einfluss zu nehmen?
Genau das – gehört zu werden und Einfluss zu nehmen – ist unser feministischer Beitrag zum Widerstand. Wenn wir von einer Revolution sprechen, die das gesamte unterdrückende System verändern soll, müssen wir auch den Kampf gegen das Patriarchat thematisieren. Das bedeutet, dass Frauen in Myanmar nicht nur gegen die Militärjunta kämpfen, sondern auch gegen das Patriarchat in der Gesellschaft und innerhalb des Widerstands.
Meine Mitstreiter:innen und ich werden für diese Bemühungen oft kritisiert – auch von Widerstandskräften und manchmal sogar von Frauen, als würden wir den Widerstand schwächen. Nein, ganz im Gegenteil! Wir sprechen das Problem patriarchaler Strukturen laut und deutlich an, weil wir diese Revolution auf ein höheres Niveau heben wollen. Denn eine Demokratie, die nicht intersektional über Geschlechtergleichheit sowie die Rechte von Frauen und marginalisierten Gruppen nachdenkt und diese mitdenkt, ist eine Demokratie mit inakzeptablen Defiziten. Davon sind wir fest überzeugt.
GSM ist gemeinnützig und dankbar für jede Spende und aktive Mitarbeit!
Spendenkonto:
German Solidarity with Myanmar Democracy e.V., GLS Bank
IBAN: DE18 4306 0967 1277 0150 00
BIC: GENODEM1GLS
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.
Kommentare als RSS Feed abonnieren