Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer wächst – auch in Deutschland
von Klaus Pfisterer (DFG-VK)
Klaus Pfisterer ist Landesvorsitzender der DFG-VK Baden-Württemberg und KDV-Experte; er berät seit 45 Jahren Kriegsdienstverweigerer. Mit ihm sprach Angela Klein
Laut Ihrer Pressemitteilung hat die Zahl der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung (KDV) in Deutschland deutlich zugenommen. Worauf stützen Sie diese Aussage? Und über welche Größenordnungen reden wir?
Die Aussage stützt sich auf eine Anfrage, die wir über die Gruppe der Linken im Bundestag initiiert haben. Das Familienministerium hat darauf am 16.Oktober geantwortet. Demzufolge haben in den Jahren 2022, 2023 bis zum 31.8.2024 insgesamt 4785 Personen einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt. Das wird sich im Laufe des Jahres noch auf deutlich über 5000 erhöhen.
Überraschenderweise bilden die Ungedienten mit rund 2600 Verweigerungen die größte Gruppe, gefolgt von rund 1700 Reservisten und 500 Soldatinnen und Soldaten. Auf Grund der zahlreichen Anfragen, die wir in der Zwischenzeit bekommen haben, gehen wir davon aus, dass diese Zahlen noch deutlich steigen werden.
Im Jahr 2022 wurden insgesamt 1123 Anträge auf KDV gestellt, im Jahr 2023 1609 Anträge und bis zum 31.8.2024 waren es schon 2053. Wir gehen bis Jahresende von rund 200 pro Monat aus, sodass man für 2024 auf 2600–2800 Anträge kommt.
Im Vergleich zu den Vorjahren ist das eine signifikante Erhöhung. Als die Wehrpflicht am 1.Juli 2011 ausgesetzt wurde, haben sich in den Jahren danach maximal 100, 150 Leute für eine Kriegsdienstverweigerung entschieden. Das waren alles Soldatinnen und Soldaten, denn da die Ungedienten keinerlei Dienst machen mussten, hatten sie auch keine Notwendigkeit, einen Antrag zu stellen. Und die Reservisten hatten auch keine Notwendigkeit – bis zum Ausbruch des Ukrainekriegs, weil sie nicht befürchten mussten, zu Kriegseinsätzen herangezogen zu werden. Mit dem Angriffskrieg der Russen auf die Ukraine und die weltpolitischen Veränderungen hat sich das spürbar geändert.
Wir haben seitdem einen deutlichen Anstieg, seltsamerweise gerade von Ungedienten. Die müssen auch heute noch keinen Dienst leisten, sie wollen vorsorglich verweigern, damit sie im Falle eines Falles nicht herangezogen werden können. Bei den Reservist:innen hängen die steigenden Zahlen vor allem mit dem Ukrainekrieg zusammen.
Wie viele neue Rekruten zieht die Bundeswehr denn jährlich?
Laut Bericht der Wehrbeauftragten Eva Högl aus dem Jahr 2023 gab es im Jahr 2021 49.200 Bewerbungen, im Jahr 2022 43.900 Bewerbungen. Davon wurden nur 18.770 eingestellt, 25.130 wurden nicht genommen. 2023 gab es 43.200 Bewerbungen, 18.810 wurden eingestellt, 24.390 nicht genommen.
Es sind alles tauglich Gemusterte, über die wir reden. Fünf Prozent waren gesundheitlich nicht geeignet, bei den anderen reichte die Qualifikation nicht.
Ich habe immer gedacht, seit die allgemeine Wehrpflicht ausgesetzt wurde, braucht es keinen Antrag auf KDV mehr. Jetzt sagen Sie aber, die Leute stellen ihn vorsorglich.
Nur die Ungedienten stellen ihn vorsorglich. Denn sie können einen KDV-Antrag nur stellen, wenn sie tauglich gemustert sind. Ein Ungedienter, der von der Wehrpflicht noch gar nicht betroffen ist, muss, um als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden, erst seine Musterung beim jeweiligen Karrierecenter der Bundeswehr beantragen. Erst, wenn er tauglich gemustert ist, kann er einen KDV-Antrag stellen.
Aus den Anfragen, die wir gestellt haben, haben wir erfahren, dass im Jahr 2023 rund 87 Prozent der KDV-Anträge anerkannt wurden. 13 Prozent wurden abgelehnt. Bis zum 30.September 2024 wurden 81 Prozent der gestellten Anträge anerkannt und 19 Prozent abgelehnt.
Das heißt, mit steigenden KDV-Zahlen erhöhen sich auch die Ablehnungen. Und das ist ein Skandal. Zum Teil werden formale Gründe genannt, ungefähr 250 Anträge wurden aber wegen Unzulässigkeit abgelehnt. Was dahinter steckt, ist völlig fraglich, manchmal ist auch Willkür dabei.
Das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung muss jedem gewährt werden. Dennoch ist es das einzige Grundrecht, das nur auf Antrag, Prüfung und Genehmigung erteilt wird. Und das ist unser Hauptkritikpunkt: Diese Verfahren müssen grundsätzlich abgeschafft werden, jeder muss sein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung in Anspruch nehmen können, ohne diese Prüfung, Genehmigung und Erlaubnis.
Wir fordern ungediente junge Männer und Frauen auf, solange die Wehrpflicht ausgesetzt ist der Datenweitergabe der Meldebehörden an die Bundeswehr zu widersprechen. Damit ihre Daten erst gar nicht an die Bundeswehr weitergeleitet werden. Ändert sich die Gesetzeslage, dass die Wehrpflicht in irgendeiner Form wieder eingeführt wird, dann raten wir allen Ungedienten, sofort einen KDV-Antrag zu stellen. Denn dann sind sie von einer möglichen Wehrpflicht betroffen.
Das Verfahren ist also kompliziert. Deshalb raten wir dringend allen, die verweigern wollen, sich vorher beraten zu lassen.
Sie bezeichnen den Wehrdienst als Zwangsdienst. Der einzige Zwang für junge Männer besteht doch darin, dass sie den Fragebogen ausfüllen.
Zwangsdienst ist es allein deshalb, weil Verteidigungsminister Pistorius jetzt alle jungen Männer erfassen will, das ist schon ein Zwang. Allerdings ist die Gesetzesvorlage momentan vom Tisch. Die FDP weigert sich, das Modell umzusetzen, weil sie die Zwangserfassung nicht mitträgt. Und die CDU trägt es nicht mit, weil es ihr nicht weit genug geht.
Pistorius sagt, die Werbeaktion ist ein großer Erfolg. Es kämen vermehrt junge Männer zur Bundeswehr. Es ist ja auch vorstellbar, dass die Bundeswehr attraktiver wird in dem Maße, wie die Arbeitslosigkeit wieder zunimmt und die Verhältnisse sehr unsicher werden. Wie erklären Sie sich den Widerspruch zu den Zahlen?
Pistorius will auf 203.000 aktive Soldat:innen erhöhen. Aktuell hat er rund 180.000 verfügbar, Tendenz eher fallend. Er sagt, es gibt 15 Prozent mehr Bewerbungen. Es ist aber völlig unklar, auf welchen Zeitraum er sich dabei bezieht. 15 Prozent sind im Vergleich zum Vorjahr ungefähr 3200 Personen. Aus den Zahlen der Wehrbeauftragten geht aber hervor, dass rund 25 Prozent derer, die zur Bundeswehr gehen, in den ersten sechs Monaten ihren Dienst schon wieder quittieren. Diese Abbrecherquote war in den letzten Jahren konstant.
Pistorius will mit seiner Aussage die jungen Leute locken. Viele gehen mit falschen Erwartungen zum Bund. Und dort merken sie, dass das, was in der Werbung steht, mit der Realität nichts zu tun hat.
Die Bundeswehr gibt jährlich über 30 Millionen Euro für Werbung aus. Da ist der Erfolg eigentlich bescheiden, wenn letztlich nur um die 13.000–14.000 mehr wirklich Dienst leisten wollen. Und jetzt verweigern auch noch Soldaten und Reservisten.
Die Bundeswehr wirbt auch an Schulen. Haben Sie eine Rückmeldung, wie das ankommt?
Die Bundeswehr hat 94 Jugendoffizier:innen und 350 Karriereberater:innen, die in Schulen auftreten können. Sie erreichen damit rund 110.000 Schüler:innen pro Jahr. Wir kriegen mit, dass zumindest bei den Minderjährigen – mit Zustimmung der Eltern können auch 17jährige schon zur Bundeswehr gehen – die Werbung ein wenig verfängt, im letzten Jahr sind knapp 2000 gegangen. Aber auch von diesen 2000 haben ungefähr 30 Prozent in den ersten sechs Monaten wieder abgebrochen.
Wir kritisieren diese Auftritte heftig. Wenn die ab der Klasse 9 in die Schulen gehen, sind die Schüler noch gar nicht in der Lage, richtige Entscheidungen zu treffen oder Aussagen nachzuprüfen. Karriereberaterinnen der Bundeswehr haben an Schulen nichts zu suchen. Jugendoffiziere schon gar nicht.
Sie führen eine Kampagne gegen die angekündigte Wehrpflicht. Wie ist die Resonanz?
Die Kampagne will Jugendliche auffordern, vorsorglich zu erklären, dass sie nicht zur Bundeswehr gehen. Tatsächlich hat sie aber den Effekt, dass die Jugendlichen über die vorsorgliche Erklärung hinaus direkt den Kriegsdienst verweigern.
Wir sammeln möglichst viele Unterschriften gegen ein neues Wehrpflichtmodell. Dafür haben wir die Unterstützung mancher Jugendverbände. Die Kampagne ist aber noch ein bisschen schwach auf der Brust, da fehlt die Dynamik.
Ganz wichtig ist uns, dass jede und jeder, die oder der sich mit dem Thema Kriegsdienstverweigerung auseinandersetzt, sich vorher intensiv beraten lässt, um Fehler zu vermeiden und eine gute Begründung zu schreiben.
Unsere Hauptforderung ist, dass jegliches Verfahren für Kriegsdienstverweigerer abgeschafft wird und das Grundrecht nach GG Art.4 Abs.3 jedem gewährt wird, ohne Antrag, Prüfung und Genehmigung.
Auf der Homepage www.dfg-vk.de haben wir unter der Rubrik Informieren/Kriegsdienstverweigerung für die drei Personengruppen Ungediente, Soldat:innen und Reservist:innen die Informationen zusammengestellt, auf die zu achten ist.
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