Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2025

Die Institutionen der Fünften Republik haben ausgedient
Gespräch mit Christine Poupin

Frankreich steht inmitten einer starken sozialen und zugleich politischen und institutionellen Krise.

Christine Poupin ist Sprecherin der französischen NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste). Mit ihr sprach Angela Klein

Ex-Premier Barnier ist über seinen Haushalt gestolpert. Was wurde ihm vorgeworfen?

Barnier hat einen extrem brutalen Sparhaushalt präsentiert, zweifellos den härtesten der letzten Jahrzehnte, 60 Milliarden Euro sollten eingespart werden. Von diesen gingen 40 Milliarden direkt zulasten der öffentlichen Haushalte. Vor allem die Gebietskörperschaften sollten stark in Anspruch genommen, da der Staat eine Reihe von Sozialausgaben auf diese abgewälzt hat. Hier sollten 5 Milliarden Euro eingespart werden.
Da er für diese Kürzungen keine Mehrheit gefunden hat, hat er auf Art.49.3 der Verfassung zurückgegriffen. Dieser besagt, dass das Parlament dem Haushalt nicht zustimmen muss, solange der Premierminister das Vertrauen des Parlaments hat. Alle Haushalte der letzten Zeit sind auf diesem Weg verabschiedet worden. Das Parlament kann ihn nur durch ein Misstrauensvotum verhindern.
Bis dahin hatte dieser Weg, das Parlament zu erpressen, immer funktioniert. Die Abgeordneten dachten: »Die Regierung zu stürzen, das können wir uns nicht leisten, das gibt Streit.« Aber hat Macron sich ins eigene Fleisch geschnitten.
Er hatte im Juni die Nationalversammlung aufgelöst, weil er hoffte, damit die Scharte seines schlechten Abschneiden bei den Europawahlen auswetzen zu können. Das ist nach hinten losgegangen: Die neue Nationalversammlung hat eine Zusammensetzung, die zum erstenmal seit 1962 auf die Alternative: »Akzeptiert meinen Haushalt oder bringt mich zu Fall«, geantwortet hat: Naja, dann fällst du.
Der Sturz der Regierung hängt also eng mit den Institutionen der Fünften Republik zusammen. Sie waren zugeschnitten auf ein stabiles Zweiparteiensystem, zwei große dominierende Parteien, die sich im Regierungsamt abwechselten. Das funktioniert nicht mehr, weil es keine stabilen Mehrheiten mehr gibt.

Welche Kürzungen hat Barnier denn im einzelnen vorgeschlagen? Und welche Kritik hatte der Rassemblement National an dem Haushalt vorgebracht, der ja ebenfalls das Misstrauen ausgesprochen hat?

Zwei Dinge haben uns richtig, richtig geärgert: Der Stellenabbau im öffentlichen Dienst und die Verlängerung der sog. Karenzzeit für Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Wenn du krankgeschrieben wirst, bekommst du bislang am ersten Tag kein Entgelt, sondern ein Tagegeld als Ausgleich für den Gehaltsausfall.
Barnier wollte die Karenztage auf drei erhöhen, angeblich, um mit der Privatwirtschaft gleichzuziehen. Dabei gibt es viele große Unternehmen in der Privatwirtschaft, in denen es durch Arbeitskampf gelungen ist durchzusetzen, dass es keinen Karenztag gibt, das Gehalt also vom ersten Krankheitstag an weitergezahlt wird.
Barnier hat das damit begründet, Angestellte im öffentlichen Dienst seien Faulenzer, die nicht arbeiten wollten und sich deshalb krankschreiben lassen. Dabei ist der Grad der Erschöpfung und des Leidens am Arbeitsplatz so hoch, dass Krankschreibung in gewisser Weise das einzige noch bleibende Ventil ist, um ein bisschen runterzukommen, bevor man völlig zusammenbricht.
Außerdem wollte er die Erstattungskosten bei medizinischen Leistungen (Medikamente, Arztbesuche usw.) senken, aber auch die Tagessätze und die Anzahl der Betten in den Krankenhäusern. Im Bildungswesen sollten 4000 Stellen abgebaut werden. Die Beamtengehälter sollten trotz Inflation eingefroren werden.
Die rechtsextreme RN hat einen Gesetzentwurf in der Nationalversammlung eingebracht, das Renteneintrittsalter wieder auf 62 Jahre zu senken – gegen seine Erhöhung auf 64 Jahre hatte es eine massive Mobilisierung im ganzen Land gegeben. Der Entwurf der RN ist aber im Parlamentsausschuss bis zur Unkenntlichkeit zerpflückt worden.
Was die Finanzierung betrifft, ist zu sagen, dass die RN sich gern den Anschein gibt, als würde sie die Armen verteidigen, aber die Reichen will sie nicht angreifen.
Auch La France Insoumise (LFI) hat einen Antrag zur Aufhebung der Rentenreform eingebracht, der übrigens perfekt finanziert war. Da hat die Regierungspartei dann fast tausend Änderungsanträge eingebracht, um dafür zu sorgen, dass das Gesetz aus Zeitmangel nicht mehr verabschiedet werden konnte. Das zeigt deutlich die Grenze für Kämpfe auf parlamentarischer Ebene.

Jetzt ist die Zeit der großen Manöver, da keine Partei oder Allianz allein auf eine absolute Mehrheit kommt. Macron hat sechs Wochen gebraucht, um einen Premier für eine Regierung zu finden, die dann keine drei Monate gehalten hat. Die ganze Zeit stand Barnier unter dem Druck der RN, die in der Haushaltsdiskussion um alles und jedes gefeilscht hat: »Vielleicht, wenn man die medizinische Hilfe für Ausländer abschaffen würde, könnten wir zustimmen« – in dem Stil.
Jetzt steht Macron wieder da, wo er Anfang Juli auch schon stand…
Die Frage ist letztlich, wer sich bereit findet, eine antisoziale Politik durchzusetzen, die für die extreme Rechte akzeptabel wäre. Die Mitte, die die heftigste neoliberale Politik betrieben hat, bricht derzeit zusammen und das kommt der extremen Rechten und der Linken zugute, leider der extremen Rechten mehr als der Linken.
Macron bleibt nichts anderes übrig als rechts und links Leute abzuwerben. Er braucht 139 Abgeordnete mehr, um eine stabile Regierung zu bilden. Woher nehmen? Er wird versuchen, das linke Bündnis, die Neue Volksfront (NFP), zu sprengen.
Ein Teil der sozialdemokratischen PS, der nicht sehr für die Neue Volksfront war, könnte dem zustimmen. Das hängt stark davon ab, wie massiv die sozialen Mobilisierungen werden, die jetzt begonnen haben. Daran kann die Parteiführung den Preis abschätzen, den sie dafür zu zahlen hätte.
Immerhin hat die PS sich durch die Bildung der NFP retten können, das wird also nicht einfach. Und Macron hat nicht wirklich etwas anzubieten. In der Rentenfrage etwa wird er niemals nachgeben.
Auf der Seite der RN wird er auch nicht viel holen können, der kann abwarten und kassieren.
Macron kann aber auch keine Neuwahlen ausrufen, denn er kann die Nationalversammlung erst im Abstand von einem Jahr wieder auflösen. Also verlagert sich die Diskussion auf die Frage der Präsidentschaft. Jean-Luc Mélenchon fordert den Rücktritt von Macron und die Neuwahl des Präsidenten. Er möchte selber Präsident werden. Er trifft damit aber auf große Ablehnung, auch auf der Linken. Und die extreme Rechte steht bereit.

Im Prinzip ist die Forderung aber doch richtig, dass der Präsident gehen muss?

Ja. Die NPA-L’Anticapitaliste besteht allerdings eher auf der Infragestellung der Fünften Republik. Deren Institutionen sind zutiefst undemokratisch, weil sie dem Präsidenten der Republik und dem Senat viel zuviel Macht einräumen. Wir meinen, dass ein verfassungsgebender Prozess eingeleitet werden sollte, um diese Institutionen zu beseitigen. Das Streben nach Demokratie ist sehr, sehr stark.

Könnte die Forderung nach einer Sechsten Republik eine breite Opposition einen?

Ja, sie kommt eigentlich von Mélenchon, seltsamerweise hängt er sie jetzt aber ganz tief.

Gibt es viele Spannungen in der NFP?

Das ist kompliziert, weil sie etwas ziemlich Außergewöhnliches und Unerwartetes ist, eine Einheit aller linken Parteien, aber auch mit den Gewerkschaften und den sozialen Bewegungen, einschließlich ihres ­radikalen Flügels – sie alle haben sich für die Neue Volksfront eingesetzt, Wahlkampf für sie gemacht.
Bei den Gewerkschaften, die sonst immer sehr auf ihre Unabhängigkeit von politischen Parteien bedacht sind, gibt es zugleich so etwas wie einen antifaschistischen Damm. Die Bewegung gegen große Wasserrückhaltebecken hat sich klar auf das Programm der Neuen Volksfront mit seiner Forderung nach einem Moratorium bezogen und dazu aufgerufen, für die NFP zu stimmen.
Es hat um die NFP eine reale gesellschaftliche Mobilisierung gegeben, aber diese Bewegung wurde nicht organisiert, die Parteien haben sich nicht um sie bemüht. Es hat sich an der Basis keine gemeinsame Grundstruktur der Neuen Volksfront herausgebildet. Also lebt sie auch nicht richtig weiter, obwohl es eine Reihe von Orten gibt, an denen Basisaktivist:innen sie am Leben halten wollen.
Es geht aber auch um soziale Fragen. Denn zusätzlich zum Kahlschlag im öffentlichen Dienst gibt es eine Welle von Entlassungen in der Privatwirtschaft. Während der Pandemie wurde sehr, sehr viel Geld an private Unternehmen gegeben, 260 Milliarden zwischen 2020 und 2022, entweder in Form direkter Subventionen, der Befreiung von Sozialversicherungsbeiträgen, Steuerschlupflöchern, Steuersenkungen oder anderem.
All diese Hilfen haben unmittelbar die Profite der Unternehmen aufgebläht, es hat eine Entkoppelung gegeben zwischen ihrer realen Produktivität und ihren Profiten, weil sie mit öffentlichen Geldern gedopt wurden.
Jetzt sind die Entlassungspläne enorm. Wir schätzen, dass in den nächsten Monaten zwischen 350.000 und 500.000 Arbeitsplätze verloren gehen werden.

In welchen Sektoren?

Viele in der Automobilindustrie, aber auch in der Chemie, im Handel, bei großen Ketten wie Auchan, Le Royer, Decathlon – sie haben zum Teil eine Milliarde Euro Dividende an ihre Aktionäre gezahlt und stellen jetzt Entlassungspläne auf.
Am 12.Dezember gab es einen Mobilisierungstag, der dazu dienen sollte, die Belegschaften der von Entlassungen betroffenen Firmen zusammenzuführen. Am 11.Dezember riefen die Arbeitenden bei der SNCF zum Streik auf. Wir werden sehen, was daraus wird. Es gibt viel Wut, aber auch viel Desillusionierung.

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