Klima der Unsicherheit führt zu politischen Brandherden
von Angela Klein
Eine Woche, zwei politische Abstürze: Nach 54 Jahren bricht das Regime Assad in Syrien zusammen. Nach dreimonatiger Regierungszeit wird der französische Premier Michel Barnier aus dem Amt gejagt.
Der Sturz von Assad birgt das Potenzial einer Aufteilung Syriens in einen von Israel kontrollierten und einen von der Türkei beherrschten Teil. In der Region findet eine imperialistische Neuaufteilung statt, die auf Kosten von Palästinensern und der Kurden geht. Eine militärische Auseinandersetzung mit dem Iran kann in Anbetracht der kommenden Präsidentschaft Trumps nicht mehr ausgeschlossen werden.
In Frankreich wiederum werden die Institutionen der von De Gaulle gegründeten Fünften Republik mit der Krise des Parteiensystems nicht mehr fertig.
Seit Corona und im Zusammenhang mit dem Aufstieg Chinas zu einer Weltmacht ist von einer Krise der kapitalistischen Globalisierung die Rede. Diese Krise hat drei Aspekte:
– die Unterbrechung von Lieferketten;
– eine protektionistische Wende mit der Errichtung von Zollmauern und sogar direkt politischen Handelshemmnissen (etwa Betätigungsverbote für chinesische HighTech-Firmen in den USA und in Deutschland), um sich vor der Konkurrenz Chinas zu schützen;
– und die kriegsbedingte Sanktionspolitik gegenüber Russland.
Damit baut sich eine neue Blockkonfrontation auf, die mit erheblichen Umlenkungen von Produktionsketten und Handelswegen sowie einer Neuordnung von imperialen Einflusszonen verbunden ist; sie sorgen für starke wirtschaftliche Verwerfungen und tragen »wie die Wolke den Regen« weitere Kriege in sich.
Die Krise der Globalisierung hat aber auch einen institutionellen Aspekt, es ist die Krise der übernationalen, multilateralen Institutionen:
Ob es der (in den 90er Jahren geschaffene) Internationale Strafgerichtshof ist, dem Länder wie Deutschland und Frankreich ins Gesicht sagen, dass sie seinen Haftbefehl gegen Netanyahu ignorieren;
ob es Institutionen der UNO sind wie der Internationale Gerichtshof oder das UN-Flüchtlingswerk für Palästina;
ob es die Regeln der WTO sind, die eine Schutzzollpolitik verbieten;
ob es die EU ist, die gerade massiv aufgerüstet wird, was ihre Gründungsdokumente aber ausschließen – mit der Folge, dass eine wachsende Rüstungskonzentration in den Händen weniger Mitgliedstaaten das Machtgefälle zwischen den Staaten und die Machtkonzentration bei der EU-Kommission vergrößert und der deutsch-französische Motor darüber ins Stottern gerät:
Die sog. regelbasierte Ordnung bricht ihre eigenen Regeln immer häufiger, wenn es in ihrem Interesse liegt, während von Dritten deren strikte Einhaltung, sogar Unterwerfung verlangt wird, bei Strafe des Einsatzes militärischer Gewalt.
Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg bilden sich jedoch nicht zwei in sich geschlossene Blöcke heraus, die einander gegenüberstehen würden. Vielmehr zeigt der eine Block Auflösungserscheinungen, während der andere noch gar nicht die Kompaktheit eines Blocks erreicht hat. Anders gesagt: Der Zustand der Welt ist zunehmend fragil und chaotisch.
Die Auswege, die die politisch Verantwortlichen in westlichen Ländern suchen, bestehen darin, noch mehr staatliche Funktionen zu privatisieren, und die Angriffe auf die arbeitende Klasse noch weiter zu verschärfen. Sie tun dies in vollem Bewusstsein dessen, dass die wachsende soziale Ungleichheit die demokratische Fassade ihrer politischen Herrschaft weiter aushöhlt und die Bildung stabiler Regierungen noch schwieriger macht.
So unterschiedlich die Krise der politischen Institutionen in Deutschland und Frankreich ist, eins hat die sogenannte bürgerliche Mitte hüben und drüben gemeinsam: Sie antwortet mit noch unverschämteren Eingriffen in die sozialen Haushalte, noch stärkerer Vernachlässigung der Infrastruktur und mit forcierter Militarisierung: Kanonen statt Butter.
Barnier wollte an die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ran und Tausende Stellen im öffentlichen Dienst abbauen; Lindner wollte die Arbeitszeiten verlängern und die Renten kürzen.
Der Vorsitzende der deutschen Liberalen ist mittlerweile Aushängeschild eines radikalisierten Teils der bürgerlichen Mitte, er sympathisiert mit dem argentinischen Antidemokraten Milei und will offenbar dessen Politik nacheifern. Die Vorstellung ist nicht mehr abwegig, dass seine Partei bei den nächsten Wahlen so tief sinkt, dass sie als gewendete AfD wieder hervorkommt.
Dreh- und Angelpunkt des politischen Streits, der den Bruch der Ampel bewirkte, aber auch den Haushalt Barniers bestimmte, ist die Schuldenbremse, also die Frage, ob zur Bewältigung der multiplen Krisen mehr Kredite aufgenommen oder die Sozialhaushalte kannibalisiert werden.
Inzwischen dämmert es auch bürgerlichen Kreisen, dass nicht alle Kosten einer kapitalistischen Modernisierung auf die Werktätigen abgewälzt werden können, zumal dann nicht, wenn Unternehmen gleichzeitig märchenhafte Profite einstreichen und die Nachbarländer mit der Schuldenbremse lockerer umgehen.
Sie wird also »reformiert« werden, wie es heißt. Allerdings ist damit der Streit nicht beendet, denn Friedrich Merz hat klipp und klar erklärt, dass die Schuldenbremse für die Unterstützung der Unternehmer, aber nicht für Soziales und die Bekämpfung der Klimakatastrophe ausgesetzt werden darf.
Bei dieser Konstellation fällt es der Sozialdemokratie nicht schwer, sich trotz eines unternehmerfreundlichen und militaristischen Programms dennoch als »soziale Kraft« von Konservativen und Liberalen abzugrenzen und als Stimme der Vernunft zu geben. Sie zieht mit dem Versprechen in den Wahlkampf, das Rentenniveau stabil bei 48 Prozent zu halten.
Die Wirtschaftskrise ist der dritte Brandherd. Sie trifft Deutschland härter als andere Länder: Das zweite Jahr in Folge ist das Wirtschaftswachstum leicht negativ; im EU-Vergleich liegt Deutschland an zweitletzter Stelle (?0,1 Prozent), während Frankreich auf +0,7, andere EU-Länder auf über 2, vereinzelt sogar über 3 Prozent kommen (die USA auf 2,8 Prozent).
Doch es geht um weit mehr als um eine leichte Rezession. Das deutsche Wirtschaftsmodell, das auf billiger Produktion in China, niedrigen Preisen für Energie aus Russland und gehobenen Exportpreisen beruhte, ist angesichts der geopolitischen Verwerfungen am Ende.
Die chinesische Konkurrenz trifft vor allem die Automobilindustrie und den Maschinenbau. Autokonzerne drohen jetzt mit dem Abbau Tausender Stellen und der Schließung ganzer Werke; VW hat zu diesem Zweck den Beschäftigungssicherungsvertrag gekündigt. Aber auch in Frankreich stehen eine halbe Million Arbeitsplätze auf dem Spiel, auch dort ist der Automobilsektor betroffen.
Wenn die Autokonzerne husten, hat die ganze Branche Lungenentzündung. Da geht es um hunderttausende Arbeitsplätze vorwiegend in den Klein- und Mittelbetrieben der Zulieferindustrie. Ganzen Regionen, die von der Autoindustrie abhängen wie das Emsland oder die Schwäbische Alb, droht der Kahlschlag.
Die politische Brisanz der Entwicklung ist nicht zu verkennen. IG Metall und Betriebsräte versuchen, den Kelch abzuwenden, indem sie anbieten, Kapazitäten zu reduzieren, Personal gezielt abzubauen, die Löhne zu senken und die Arbeitszeit weiter zu flexibilisieren. Doch das Management signalisiert, dass ihm das nicht reicht. Die Rendite der Aktionäre soll steigen: von derzeit 3,5 auf 6,5 Prozent. Die Zeiten, wo der Vorstand mit dem Betriebsrat eine Viertagewoche aushandelte, sind vorbei.
Heute wollen Konzerne und bürgerliche Parteien das Klima der Unsicherheit nutzen, um das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit deutlich zu verschieben – ähnlich wie 2003 mit der Agenda 2010. Nur dass es diesmal das Herz der Industrieproduktion trifft und der Widerstand der Belegschaften noch auf sich warten lässt.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.
Kommentare als RSS Feed abonnieren