Woher das Patriarchat kommt
von Angela Klein
Generationen von Anthropologen, Archäologen, Ethnologinnen und Feministinnen haben versucht herauszufinden, ob es in der Vorgeschichte der Menschheit Beweise für die Existenz nichtpatriarchalischer und egalitärer Gesellschaften gegeben hat. Ein solcher Nachweis ist für die Glaubwürdigkeit der marxistischen Gesellschaftskritik von herausragender Bedeutung. Würde er doch bekräftigen, dass Klassengesellschaft und Patriarchat – beides hängt eng zusammen – etwas geschichtlich Gewordenes und nicht etwas dem Menschen wesenhaft Anheftendes sind; und da sie menschengemacht sind, können sie auch wieder abgeschafft werden.
Lange Zeit wurde gerätselt und die verschiedensten Theorien wurden aufgestellt. Seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kann das Rätsel als gelöst gelten. Kurz zusammengefasst: Ein Matriarchat hat es nicht gegeben, wenn man darunter eine Gesellschaft versteht, in der Frauen die Vorherrschaft hatten wie die Männer im Patriarchat. Aber es hat im Neolithikum in Europa Gesellschaften gegeben, in denen Frauen eine herausragende Rolle gespielt und die religiöse Vorstellungswelt geprägt haben. Diese Gesellschaften waren deutlich egalitärer als was danach kam; und sie waren hoch entwickelt.
Die Erkenntnis verdanken wir hauptsächlich einer Forscherin, die vor 30 Jahren gestorben ist: Marija Gimbutas, eine litauische Archäologin, Prähistorikerin und Anthropologin. Sie hat vorwiegend Ausgrabungen in Griechenland, auf dem Balkan und in Italien geleitet und durch ihre ungeheuer systematische Arbeit ein Bild von den gesellschaftlichen Zuständen in Europa vor den indoeuropäischen Wanderungen zeichnen können. Sie verfolgte einen interdisziplinären Ansatz, in den sie Sprachwissenschaft, Ethnologie und Religionsgeschichte einbezog (sie konnte Texte in 13 Sprachen zumindest lesen).
Kurz zusammengefasst lauten die Ergebnisse ihrer Forschung wie folgt:
Bevor die Indoeuropäer nach Mitteleuropa eingewandert sind, hat sich vom Donautal bis nach Anatolien seit etwa 6500 v.u.Z. eine vorindoeuropäische Hochkultur entwickelt, die von Frauen geprägt und egalitär war. Diese Kultur hielt sich noch bis ins 2.Jahrtausend v.u.Z.; sie wurde ab etwa 3500 v.u.Z. in mehreren Wanderungswellen über mehrere tausend Jahre von patriarchalisch organisierten, indoeuropäischen Stämmen zunichte gemacht, obwohl sie viel höher entwickelt war.
Der Ursprung
Gimbutas hatte sich zunächst mit der Frage beschäftigt, woher die Indoeuropäer kamen. Zwei Hypothesen standen schon im 19.Jahrhundert im Raum: die südrussische Steppe und Anatolien. Sie lokalisierte die Urheimat der Indoeuropäer in der Steppenzone zwischen Wolga und Don. Eine typische Hinterlassenschaft dieser frühen Steppennomaden waren nämlich Kammergräber, über die monumentale Erdhügel aufgeschüttet wurden – sog. Kurgane, ein aus dem Tatarischen stammendes Wort. An Hand der Verbreitung dieser Kurgane ins Kaukasusvorland, über Persien, Zentralasien bis nach Indien und China und rings um das Schwarze Meer bis nach Südosteuropa konnte sie die Wanderungen dieser Völker nachzeichnen. Sie bezeichnete sie als Protoindoeuropäer und ihre Kultur als Kurgankultur.
Natürlich hat ihre Hypothese unter ihren vorwiegend männlichen Kollegen heftigen Widerspruch hervorgerufen, die die Heimat der Indoeuropäer in Anatolien lokalisieren wollten. Dieser Streit, schreibt Harald Haarmann in seinem Buch Auf den Spuren der Indoeuropäer, ist inzwischen entschieden – zugunsten von Gimbutas; heute spricht man nicht mehr von einer Kurganhypothese, sondern von einer Kurgantheorie.
Die Macht der Geschwindigkeit
Die Völker der Kurgankultur waren Halbnomaden; sie trieben jahreszeitlich auch Ackerbau, aber der Mittelpunkt ihrer Tätigkeit war die Bewachung und Vermehrung von Herden, zunächst Schaf-, später auch Rinderherden. Sie kannten das Rad, das Pferd und den Wagen; auch die Metallverarbeitung. Ihr anfänglich kleinen Herden wurden zunächst von Hunden bewacht; später, als die Herden größer wurden, reichte das nicht mehr und sie setzten Pferde ein, die in der Steppe in großer Zahl wild vorkamen und die sie lernten zu domestizieren. Mit diesen und den Wagen entwickelten sie eine hohe Mobilität, die ihnen das Expandieren in neue Territorien erleichterte, wenn der Weideplatz zu klein wurde. Mit Pferd und Wagen hatten sie gegenüber allen anderen Kulturen einen hohen militärischen Vorteil.
Sie waren Reitervölker und Krieger. Sie hatten eine klare soziale Hierarchie, erkennbar an der sehr unterschiedlichen Ausstattung der Gräber – manche Gräber sind groß und enthalten wertvolle Beigaben, andere sind einfach. Ihre Götterwelt war männlich und der oberste Gott in der Regel ein Wettergott. Sie waren patriarchalisch organisiert, patrilokal und patrilinear.
Eine Gesellschaft mit ausgedehnter beweglicher Habe fördert die Bildung von Privateigentum, auch wenn dieses zunächst Stammes- oder Claneigentum ist, und Konkurrenz.
Die Große Göttin
Die alteuropäischen Gesellschaften, in die sie nach und nach einfielen, waren vollständig anders strukturiert. Sie besiedelten vorzugsweise das mittlere Donautal und die Region um das Schwarze Meer. Sie waren Ackerbaugesellschaften und matrilokal und matrilinear organisiert, wodurch die Frauen eine starke Rolle hatten.
Sie trieben Landwirtschaft, verarbeiteten Kupfer und Gold (einige Exemplare lassen sich im Naturhistorischen Museum in Wien bestaunen), trieben regen Handel im östlichen Mittelmeer und hatten eine Schrift, weshalb Gimbutas sie als Hochkultur bezeichnet, die deutlich höher entwickelt war als die der sie später unterwerfenden indoeuropäischen Völker.
Die Gräber waren gleichförmiger, die Grabbeigaben wenige, meist Figurinen, die auf die eine oder andere Weise die Göttin darstellten. Anstelle einer Göttervielfalt gab es nur eine Göttin: das war die Natur selbst und das Leben. Sie nahm, je nach Jahreszeiten und Lebensabschnitt, unterschiedliche Gestalt an, aber es war immer dieselbe.
Gimbutas hat mit großer Akribie die verschiedenen Darstellungsformen der »Großen Göttin« zusammengetragen: Sie verweisen alle entweder auf den Lebenszyklus (Geburt, Wachstum, Vermehrung, Tod) oder auf die Fruchtbarkeit. Süßwasserquellen waren heilig, weil aus dem Wasser das Leben kommt, auch im Mutterleib; Höhlen wurden verehrt als Orte des Abschieds von der Welt und der Erneuerung.
Gimbutas hat auch die Siedlungsstrukturen untersucht und herausgefunden, dass im Zentrum der Siedlungen oft eine Art Gemeinschaftshaus stand, das nicht nur religiösen Zwecken und rituellen Feierlichkeiten diente, sondern auch als gemeinsame Werkstätten, in denen mit Produktionsmitteln, die offenkundig Gemeineigentum waren, Textilien, Hausgeräte und Werkzeuge hergestellt und das Brot gebacken wurde. In der Nähe der Backöfen wurden Figurinen gefunden, die etwa den Frosch darstellten, ein Symbol für Tod und Wiedergeburt, das mit dem Uterus der lebenspendenden, erneuernden Göttin gleichgesetzt wurde. Diese Häuser dienten auch als Geburtsstädte.
»Die Vielzahl der Darstellungsformen der Göttin ist Ausdruck einer lunaren und chthonischen Symbolik, die von der Erkenntnis getragen ist, dass das Leben auf der Erde einem fortwährenden Wandel zwischen Schöpfung und Zerstörung, Geburt und Tod unterworfen ist. Fruchtbarkeit und Mutterschaft ist nur eine und nicht die primäre Funktion der Göttin; in der Hauptsache ist sie Lebensschöpferin«, schreibt Gimbuts.
Auch diese Gesellschaften haben sich natürlich mit zunehmendem Bevölkerungswachstum und Wohlstand ausdifferenziert – davon zeugen Tempelanlagen aus späterer Zeit, wie etwa der Palast von Knossos auf Kreta, der aber kein Palast war, sondern Tempel- und Verwaltungsbezirk. Ähnliche Bauten gibt es auch auf Malta.
Der Prozess dauerte allerdings entschieden länger. Wohin er letztlich geführt hätte, wenn die indoeuropäischen Reiterhorden nicht dazwischen gekommen wären, bleibt ein spannendes Rätsel.
Die Arbeiten von Gimbutas haben eine schlüssige Erklärung der Übergänge von den Jäger- und Sammlergesellschaften der mittleren Steinzeit zu den neolithischen Gesellschaften geliefert. Demnach sind Ackerbau und Viehzucht unabhängig voneinander aus diesen hervorgegangen. Damit hat sie auch erklärt, woher das Patriarchat kommt und warum es sich durchsetzen konnte. An Hand der Veränderung der religiösen Vorstellungen hat sie nachgewiesen, wie die patriarchalische Götterwelt schließlich die Große Göttin in sich assimiliert hat. Und sie hat die Vorstellung erschüttert, unsere Hochkultur komme von den Sumerern und Babyloniern.
Literatur
Marija Gimbutas: Göttinnen und Götter. Im Alten Europa. Mythen und Kultbilder, 6500–3500 v.Chr. Uhlstädt-Kirchhasel 2010
Harald Haarmann: Auf den Spuren der Indoeuropäer. Von den neolithischen
Steppennomaden bis zu den frühen Hochkulturen. München 2016
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