Ein Überblick über die Lage in der EU
von Ayse Tekin
Im vergangenen Jahr gab es mehr als 70 Wahlen weltweit. In fast allen kam es zu Stimmengewinnen oder gar absoluten Mehrheiten für rechtsgerichtete Parteien und autokratische Politiker. Alle instrumentalisieren gezielt Themen wie Krieg, Migration, Klimakrise, religiöse Konflikte und Genderidentitäten, um die gesellschaftliche Spaltung voranzutreiben. Europäische Rechtspopulisten und Rechtsextreme wollen die wirtschaftlichen und sozialen Probleme auf Kosten der Migrant:innen lösen. Das ist nichts anderes als Ethnisierung der Verteilungsungerechtigkeit.
In der Bevölkerung finden sie damit Gehör. Das jüngste Beispiel, Österreich und die gescheiterte Bildung einer Regierung ohne die FPÖ, hat für Aufregung gesorgt. Dabei sind rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien mit ähnlichen Forderungen in anderen europäischen Staaten längst an der Regierung oder sie haben bei den Wahlen erhebliche Stimmenanteile erreicht.
Ein Thema der extremen Rechten ist neben Migration und Flucht die Unterdrückung von Minderheiten im eigenen Land, die angeblich nicht zum »Volk« gehören: Sinti und Roma sind überall in Europa bedroht. Feministinnen sind angeblich schuld an geringen Geburtenraten; auch Menschen mit anderer Geschlechtsorientierung – Schwule, Lesben, Transpersonen – sind Angriffen ausgesetzt. Rechtsextreme, ob Mitglieder kleiner Organisationen oder an der Regierung, definieren Frauen als gut für Kinder und Küche selbst dann, wenn ihre Führungsfiguren zumindest medial diesem Bild nicht entsprechen (etwa Frau Weidel).
Wer sich gegen Klimaveränderungen engagiert, wird als Ökofundamentalist und Klimaterrorist beschimpft. Neben dem Antifeminismus ist das Hauptthema der extremen Rechten aber Antisemitismus und Rassismus. Ihre Sprache ähnelt nicht nur der altbekannter Faschisten (etwa wenn sich Kickl in Österreich als »Volkskanzler« bezeichnet), sie übernehmen auch die aggressive Sprache von Trump und wollen das Volk »vor den selbsternannten Eliten« retten. Noch haben sie in Europa nicht die wirtschaftliche Unterstützung von Milliardären wie in den USA. Aber die Interessenlage kann sich bekanntlich schnell ändern. Mit ihren Themen haben die Rechtsradikalen Regierungsmacht erobert und sind dominierende bürgerliche Parteien geworden.
Von Land zu Land
In Ungarn hat Premierminister Orbán es vorgemacht. Der Vorsitzende der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), Herbert Kickl, nennt ihn ein Vorbild. Er ist seit 2010 an der Macht und hat erst die Medien durch Repressionen unter seine Kontrolle gebracht, dann kamen Kultureinrichtungen dran. Obwohl von der EU mehrmals verwarnt, er müsse die Unabhängigkeit der Justiz, Meinungsfreiheit und Menschenrechte schützen, macht Orbán dennoch munter weiter. Unter seiner Führung wurde die zunächst als liberal geltende Partei Fidesz zur dominierenden konservativen Partei Ungarns.
Seit 2022 regierte Orbán zuerst wegen der Covid-Pandemie und danach wegen des Ukrainekriegs per Verordnung, was bei Autokraten eine gängige Methode ist. Das Symbol seiner Migrationspolitik ist der im Osten des Landes gebaute Grenzzaun.
Eine anderes Beispiel ist die seit Oktober 2022 regierende Giorgia Meloni und ihre Fratelli d’Italia, eine als »postfaschistisch« eingestufte, politische Partei in Italien. Sie gilt wahlweise als rechtsextrem oder rechtsnational. Die Parteivorsitzende gehörte zuvor der Jugendorganisation des neofaschistischen MSI an. Das Movimento Sociale Italiano (Italienische Sozialbewegung) war eine Wiedergründung von Mussolinis Partito Nazionale Fascista. Meloni beruft sich heute ganz offen auf die Politik Mussolinis. Sie ist Vorreiterin bei der Auslagerung von Asylverfahren, obwohl sie damit erstmal wegen einer noch unabhängigen Justiz in Italien gescheitert ist. Mittlerweile ist sie – ohne von ihren Positionen Abstand nehmen zu müssen – gern gesehener Gast in Berlin und Brüssel.
Politisch benachbart ist ihr die Slowakei. Seit September 2023 ist dort Robert Fico mit seiner populistischen Partei Smer-SD in einer Dreierkoalition zum vierten Mal Ministerpräsident. Als Sozialdemokrat und Nationalist regiert Fico mit Hlas-Sociálna Demokracia (HSD) und der rechtsextremen Slovenská národná strana (SNS) zusammen.
Fico hat als erstes kritische Medien angegriffen und erklärt, das Land könne »nicht von Medien oder Nichtregierungsorganisationen gelenkt werden«. Letztes Jahr hat er die öffentlich-rechtliche Sendeanstalt RTVS aufgelöst, als STVR neu gegründet und die Führungsebene ausgetauscht. Auf ähnliche Weise hat das der SNS anvertraute Kulturministerium die Führung von kulturellen Einrichtungen wie Nationaltheater, Nationalgalerie und Nationalmuseum entlassen.
Die Slowakei hat zwar kein »Migrationsproblem«, lehnt aber die Aufnahme von Migrant:innen im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) ab.
In Kroatien ist seit den Wahlen im vergangenen Jahr eine ultrarechte Heimatbewegung an der Regierung beteiligt. Domovinski pokret (DP) hat ein neu geschaffenes Ressort für Bevölkerungspolitik übernommen, das Strategien gegen den durch Auswanderung und niedrige Geburtenraten verursachten Bevölkerungsschwund entwickeln soll.
Die FPÖ in Österreich hat die längste Vorgeschichte als Kanzlermacherin. Mitte der 50er Jahre aus dem »Verband der Unabhängigen«, einem Sammelbecken für Deutschnationale und Nazis hervorgegangen, verhalf ihr ehemaliger Vorsitzende, Friedrich Peter, im Zweiten Weltkrieg SS-Obersturmführer, dem Sozialdemokraten und Juden Bruno Kreisky ins Kanzleramt. Seit 1986 war Jörg Haider mit seiner Kritik am »System«, an »den Ausländern«, an der EU die Speerspitze der rechtspopulistischen Bewegung in Europa. Die FPÖ regiert inzwischen in fünf der neun Bundesländer.
In den Niederlanden wurde die extrem islamfeindliche Partij voor de Vrijheid (PVV) von Geert Wilders mit Abstand stärkste Partei. Das ist das Ergebnis einer jahrelangen Normalisierung der extremen Rechten und ihrer Positionen. Nach langen Verhandlungen stellen nun vier Parteien eine Koalition – ohne Wilders auf irgendeinem Regierungsposten. Das Programm umfasst allerdings nach eigener Beschreibung »die strengsten Regeln für die Zulassung von Asylbewerbern und das umfassendste Migrationskontrollpaket aller Zeiten«. Den Kommunen wurden die staatlichen Zuschüsse zur Versorgung abgelehnter Asylsuchender gestrichen. Dazu soll der Familiennachzug begrenzt und Asyl nur noch temporär gewährt werden.
In Dänemark brauchen die Rechtspopulisten nicht mehr die politische Agenda zu bestimmen. Ihre Rolle haben die Sozialdemokraten übernommen. Eine zentrale Forderung der rechtspopulistischen Dansk Folkeparti (Dänische Volkspartei) war ein Asylstopp. Die anderen Parteien haben sie auf der Jagd nach Wählerstimmen kopiert. So die Sozialdemokraten. Deren neue Migrationspolitik sieht den Aufbau von Auffangzentren für Migrant:innen außerhalb Europas und die Abschaffung des Rechts auf Asyl an der Grenze vor. Dänemark bietet den nicht im Land geborenen Rückkehrwilligen finanzielle Hilfe. Verdrängt haben die Sozialdemokraten die Rechtspopulisten damit aber nicht. Inzwischen gibt es in Dänemark mehrere Parteien im rechtspopulistischen Spektrum.
Anders als bei ihren Nachbarn gelten die Rechten in Finnland schon lange als legitimer Koalitionspartner: Ab 2015 regierten sie schon einmal in einer Mitte-Rechts-Regierung mit. Die Partei Perussuomalaiset (PS), »Die Finnen«, die früher »Wahre Finnen« hießen, wird zwar als rechtsextrem bezeichnet, aber die konservativen Koalitionspartner sehen dies nicht als Problem. Auch, dass ein Minister der Partei Kontakte zu Nazis hatte oder die Parteichefin Riikka Purra sich gegenüber Schwarzen diskriminierend geäußert hat, bringt den finnischen Premier Orpo nicht aus der Fassung: Alles gehört zur Vergangenheit!
»Die Finnen« holten bei der letzten Wahl 2023 die zweitmeisten Stimmen. Riikka Purra, stellvertretende Ministerpräsidentin, kündigte einen »Paradigmenwechsel« an: Die Quote für Kontingentflüchtlinge wurde halbiert, das Staatsbürgerschaftsrecht verschärft und eine Abschiebebeauftragte eingesetzt, die mit Ländern wie Irak oder Somalia Vereinbarungen über Rücknahmen Geflüchteter verhandelt.
Seit den Wahlen im September 2022 sind die rechtspopulistischen Sverigedemokrater (SD) an der Regierung Schwedens in Form einer Tolerierung beteiligt. Die Wurzeln der SD liegen in der rassistischen und rechtsextremen Bewegung Bevara Sverige Svenskt (Schweden soll schwedisch bleiben), die sich 1986 mit der Framstegsparti (Fortschrittspartei) zur Sverigeparti (Schwedenpartei) zusammengeschlossen hat. Sie orientiert sich am österreichischen Rechtspopulismus. Die Schwedendemokraten setzen sich für eine Rückführungspolitik gegenüber im Ausland geborenen Einwohner:innen ein.
Andere, noch nicht an der Regierung beteiligte Parteien hatten bei den jeweils letzten Wahlen ebenfalls Erfolg: Die Rechtsextremen sind in Belgien mit dem Vlaams Belang, in Norwegen mit der Fremskrittsparti (Fortschrittspartei), in Portugal mit der rechtspopulistischen Partei Chega (Es reicht), in Spanien mit Vox (Stimme) und in Rumänien mit AUR (Allianz für die Vereinigung der Rumänen) flächendeckend vertreten.
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